Kriege

Massaker unter Beteiligung der Bundeswehr?

Hinweis: Die Bilder sind aus den archivierten Hintergrund-Texten vor 2022 automatisch entfernt worden.

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Deutscher ISAF-Kommandeur bestellte Luftangriff in Afghanistan –

Von THOMAS WAGNER, 4. September 2009 –

Bei einem vom deutschen ISAF-Kommandeur angeforderten NATO-Luftangriff im nordafghanischen Einsatzgebiet der Bundeswehr sind in der Nacht von Donnerstag auf Freitag mehr als 50 Menschen getötet (1) und wahrscheinlich mehrere Hundert verletzt worden. Unter den Opfern befinden sich nach Agenturberichten neben Kämpfern der Taliban auch zahlreiche Zivilisten.

Was auf dem Internetportal der Bundeswehr als "Erfolgreicher Einsatz gegen Aufständische im Raum Kunduz" (2) gemeldet wurde, gewinnt nach und nach die Gestalt eines regelrechten Massakers.

Ein Sprecher des Verteidigungsministeriums wollte am Freitag allerdings nicht bestätigen, dass überhaupt Zivilisten Opfer der Kampfhandlungen gewesen seien.. "Unbeteiligte sind nach derzeitigem Kenntnisstand nicht zu Schaden gekommen", sagte er auf der Bundespressekonferenz in Berlin.

Die Taliban hätten in der Nacht zwei Tanklastzüge einer noch unbekannten zivilen Firma entführt. Sechs Kilometer südwestlich des deutschen Wiederaufbauteams in Kundus hätten sie den Fluss Kundus durchqueren wollen und sich auf einer Sandbank festgefahren. Daraufhin habe der deutsche Kommandeur den Luftangriff angefordert.

Über die Zahl der Opfer kursieren sehr unterschiedliche und zum Teil widersprüchliche Angaben in der Presse. Der Polizeichef von Kundus, Abdul Rasak Jakubi, sagte laut dpa, dass 56 Taliban-Kämpfer getötet worden seien.

Taliban-Sprecher Zabihullah Mujahid bestritt, dass überhaupt Taliban-Kämpfer ums Leben gekommen seien.

95 Tote und viele Verwundete waren am Morgen nach Angaben der afghanischen Nachrichtenagentur Pajhwok vom Gouverneur der Provinz Kunduz bereits offiziell bestätigt worden. (3)

Im selben Bericht wird der anonym bleibende Mitarbeiter eines afghanischen Sicherheitsdienstes zitiert, der von mehr als 200 Toten sprach. Ein Anwohner wiederum gab die Zahl von insgesamt 400 Toten und Verwundeten an.

Der Sprecher der Provinzregierung in Kunduz, Mahbuhullah Sajedi, sagte, unter den Opfern seien auch Zivilisten, darunter Kinder, die aus den in einem Fluss festgefahrenen Lastern Benzin abzapfen wollten, heißt es bei Spiegel-online. Ein Sprecher des afghanischen Gesundheitsministeriums habe gesagt, "zwischen 200 und 250" Dorfbewohner hätten sich um die Laster geschart. Daher werde eine "große Zahl" von Zivilisten unter den Toten und Verletzten befürchtet. (4) Der Direktor des Kunduz Civil Hospital berichtete, dass zwölf Verwundete in sein Krankenhaus eingeliefert worden seien. Bei einem der Schwerverletzten soll es sich um einen zehnjährigen Jungen handeln, heißt es auf Focus-online (04.09.2009)

Nach Angaben der Bundeswehr stellt sich der Vorgang laut dpa wie folgt dar. Gegen 1.50 Uhr Ortszeit hätten aufständische Taliban ungefähr sieben Kilometer südwestlich des Provincial Reconstruction Teams (PRT) Kunduz an einem vorgetäuschten Checkpoint zwei beladene Tanklastzüge in ihre Gewalt gebracht. Sie hätten den Treibstoff in den Distrikt Char Darah bringen und selbst nutzen wollen. Die Aufständischen seien dabei entdeckt und gegen 2.30 Uhr Ortszeit erfolgreich bekämpft worden. Dabei seien keine Zivilisten zu Schaden gekommen, hatte die Bundeswehr am Freitagmorgen zunächst erklärt. Nach Informationen von Focus-online sind die Entführer von einer Drohne verfolgt worden, mit der Kamera des unbemannten Flugzeugs seien 67 Taliban-Kämpfer gezählt worden, habe es aus Bundeswehrkreisen in Kundus geheißen. Daraufhin sei ein US-Kampfjet angefordert worden.

Nach Informationen der BBC ist einer der Tanklastwagen beim Versuch der Überquerung des Flusses stecken geblieben. (5) Daraufhin hätten die Entführer den Treibstoff unter Bewohnern eines benachbarten Dorfes verteilt, zitiert die BBC einen Zeugen des Vorgangs. Als die Bombardierung begann, hätten sich zwischen 10 und 15 Taliban auf dem Dach des Tankfahrzeugs aufgehalten. Jeder, der sich im Bereich des Transportwagens aufhielt, sei getötet worden. Unter den Getöteten befänden sich auch der Taliban-Kommandeur Mullah Abdul Rahman und Kämpfer aus Tschetschenien, sagte Mohammad Omar BBC-Angaben zufolge.

Erstaunlich ist, dass der Sprecher des Verteidigungsministeriums selbst zwölf Stunden nach dem Luftangriff weder über etwaige zivile Opfer noch über den Tathergang genaue Angaben machen konnte. Nach den in Afghanistan geltenden "rules of engagement" hätte der NATO-Angriff nicht erfolgen dürfen, wenn absehbar Zivilisten in Mitleidenschaft hätten gezogen werden können. Auf die Nachfrage eines Journalisten, ob sich in den Lastkraftfahrzeugen zum Zeitpunkt des Angriffs noch die ursprünglichen Fahrer befanden, wusste der Sprecher des Ministeriums freilich nichts zu sagen. Im ersteren Fall hätte der Angriff nicht erfolgen dürfen.

Vom Bundesverteidigungsministerium wird das militärische Engagement Deutschlands weiterhin nicht als Krieg bezeichtet, auf eine dementsprechende Frage in der Bundespressekonferenz erklärte der Sprecher: "Es handelt sich um einen Stabilisierungseinsatz, zugegeben um einen recht robusten Stabilisierungseinsatz, der Kampfhandlungen miteinschließt."

Unterdessen scheinen die Leichen verschwunden zu sein. Die Bundeswehr führte eigene Ermittlungen am Ort des Bombardements durch, berichtet Focus-online (04.09.2009).Die Soldaten hätten zwei völlig ausgebrannte Tanklastzüge, aber keine Leichen vorgefunden, solle einer der Zugführer der Nachrichtenagentur AP in Kundus gesagt haben. Die afghanische Polizei habe die Leichen im Zuge ihrer Ermittlungen weggeschafft. (6)

Präsident Karzai habe eine Delegation entsandt, um den Vorfall zu untersuchen. Der stellvertretende UN-Gesandte für Afghanistan, Peter Galbraith, kündigte ebenfalls eine eingehende Untersuchung durch die Vereinten Nationen an. Es müsse geklärt werden, warum ein Luftangriff angeordnet worden sei, obwohl die Situation vor Ort unübersichtlich gewesen sei.

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Quellen und Anmerkungen:

(1) Am frühen Morgen hatte die Bundeswehr gegenüber dpa noch von 56 Getöteten gesprochen. Später sprach ein Sprecher des Verteidigungsministerums auf der Bundespressekonferenz etwas ungenauer von mehr als 50.
(2) http://www.bundeswehr.de/portal/a/bwde/kcxml/04_Sj9SPykssy0xPLMnMz0vM0Y_QjzKLd443DnQHS YGZASH6kTCxoJRUfW99X4_83FT9AP2C3IhyR0dFRQCsXOUq/delta/base64xml/L2dJQSEvUUt3QS80SVVFL zZfQ180QzU!?yw_contentURL=
(3) http://www.pajhwok.com/viewstory.asp?lng=eng&id=80976
Noch am gleichen Tag korrigierte der Gouverneur die Zahl nach unten und sprach von zwischen 50 und 60 Getöteten, meldete dpa.
(4) http://www.spiegel.de/politik/ausland/0,1518,646926,00.html
(5) http://news.bbc.co.uk/2/hi/south_asia/8237287.stm
(6) http://www.focus.de/politik/weitere-meldungen/afghanistan-90-tote-bei-NATO-luftangriff-auf-taliban-_aid_432 734.html

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