Innenpolitik

(K)ein Skandal: Verfassungsschutz missachtet Verfassung

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Von SEBASTIAN RANGE, 1. Oktober 2013 –

„Unvorstellbar“, „nicht entschuldbar“, „unerklärlich“: Mit diesen Worten kommentierte Niedersachsens Innenminister Boris Pistorius (SPD) den aktuellen Überwachungsskandal des Landesverfassungsschutzes. Fast täglich kommen derzeit neue Fälle rechtswidriger Überwachungsmaßnahmen gegen Berufsgeheimnisträger ans Licht. Die Vorfälle gehen mindestens bis in das Jahr 2006 zurück und fallen somit in die Verantwortlichkeit der damals regierenden CDU-FDP-Koalition.

Neben über einem Dutzend Journalisten legte der niedersächsische Verfassungsschutz auch über eine Mitarbeiterin der Grünen-Landtagsfraktion in Hannover und einen Rechtsanwalt Akten an.

„Es ist schon beachtlich, mit welcher Selbstverständlichkeit diese Behörde zwischenzeitlich rechtsstaatliches Terrain verlassen hat“, wundert sich der von den Überwachungsmaßnahmen betroffene Rechtsanwalt Sven Adam. Der Göttinger vertritt mehrere beobachtete Journalisten, ferner zählen zu seinen Mandanten politische Aktivisten aus dem linken Spektrum. Seine prominenteste Mandantin, die Rechtsextremismus-Expertin Andrea Röpke, hat gegen die Behörde Strafanzeige wegen des Verdachts der Urkundenunterdrückung erstattet.

Adam vertritt auch den Hörfunk-Redakteur Kai Budler, der sich ebenfalls in einem Rechtsstreit mit der Geheimdienstbehörde befindet. Bereits 2011 war aufgeflogen, dass der Journalist über Jahre bespitzelt worden war – wogegen er sich nun vor Gericht zu Wehr setzt. Was dem Skandal eine besondere Note verleiht, da Adam genau von jenem Geheimdienst beobachtet wurde, gegen den er vor Gericht streitet.

Wie am Wochenende bekannt wurde, zählt zu den widerrechtlich ins Visier genommenen Personen auch Julia Amthor, Mitarbeiterin der Grünen Landtagsabgeordneten Julia Willie. „Ich kann nicht nachvollziehen, warum ich ins Visier des Verfassungsschutzes geraten bin“, sagte Amthor. „Mein demokratisches Engagement unterscheidet sich nicht von dem zahlreicher anderer Mitglieder der Grünen und der Grünen Jugend.“ (1)

Amthor hatte an Demonstrationen gegen Castortransporte und Nazi-Aufmärsche teilgenommen. Der Parlamentarische Geschäftsführer und verfassungsschutzpolitische Sprecher der Grünen-Fraktion, Helge Limburg, erklärte, auch er selbst und andere Mitglieder der Grünen-Fraktion hätten sich gegen Castortransporte und Nazi-Aufmärsche engagiert. Amthor falle da nicht aus dem Rahmen. „Das alles bietet keinen Anlass dafür zu vermuten, es handele sich bei Amthor um eine Person des linksextremen Milieus“, so Limburg. (2)

Mit der Beobachtung von kritischen Journalisten, Mitarbeitern von Oppositionsabgeordneten und Rechtsanwälten seien „drei zentrale Instanzen, die zur Kontrolle der Exekutive beitragen, im Visier des Inlandsnachrichtendienstes“, empört sich Limburg über einen Vorgang, der  „einer Demokratie unwürdig“ sei. (3)

Nach Auffassung von Belit Onay, Sprecher für BürgerInnenrechte der Grünen, sei der Verfassungsschutz politisch instrumentalisiert worden. Daher seien Personen des linken Spektrums „besonders häufig beobachtet worden“. (4)

Scharfe Kritik an der nachrichtendienstlichen Erfassung übte auch der Republikanische Anwältinnen- und Anwälteverein (RAV). Rechtsanwälte seien ebenso wie Journalisten durch die Verfassung besonders geschützt.

Diesen Schutz müssen „gerade diejenigen Kolleginnen und Kollegen beanspruchen können, die sich engagiert mit gesellschaftlichen Fehlentwicklungen auseinandersetzen“, teilte der Verein in einer Pressemitteilung mit. Der Vorgang passe erneut „in das inzwischen sattsam bekannte Tätigkeitsprofil des Verfassungsschutzes, dass er wieder einmal nicht die Rechtsextremen im Visier hat, sondern diejenigen, die sich ihrerseits gegen neofaschistische Strukturen engagieren“. (5)

Noch weiß niemand außerhalb der schweigsamen Behörde, welche Unterlagen wann und wie zusammengetragen wurden. Selbst die konkrete Zahl der Überwachungen ist unklar. Dennoch zeichnet sich ein Bild ab, warum die Betroffenen ins Visier der staatlichen Schnüffler geraten sind: Auswahlkriterium war offenbar antifaschistisches beziehungsweise linkes politisches Engagement.

„Es ist kein Fall, der zum Ruhm des Verfassungsschutzes beitragen wird“, formulierte die Präsidentin des Landesamtes, Maren Brandenburger, als handele es sich bei dem Vorfall um ein Kavaliersdelikt. Sie sprach von einer „Serie von Fehlüberwachungen“, „fehlerhaftem Speicherverhalten“ und einem „Organisationsversagen“.

„Fehler“ mit System: Kampf gegen links

Doch die vermeintlichen Fehler und Pannen haben System. Seit seiner Gründung ist der Verfassungsschutz in erster Linie ein politisches Instrument zur Bekämpfung linker Opposition.

„Es ist ein Märchen, dass der Verfassungsschutz die Verfassung schützt“, meint die Rechtsanwältin Gabriele Heinecke, die mit der juristischen Aufarbeitung von NS-Verbrechen befasst ist. Der Geheimdienst sei 1950 „ausdrücklich gegen die aufgebaut worden, die Kapitalismus als einzig selig machende Form des Zusammenlebens infrage stellen“ und „an allen wesentlichen Schaltstellen“ mit ehemaligen Nazis  besetzt worden. (6)

Die jüngere Geschichte der Bundesrepublik legt ein beredtes Zeugnis davon ab, dass der deutsche Inlandsgeheimdienst seinen braunen Fußstapfen und dem  damit verbundenen politischen Kampfauftrag nie so recht entwachsen ist.

Nach der Wiedervereinigung wurde die militante ostdeutsche Neonazi-Szene maßgeblich von verschiedenen Verfassungsschutz-Ämtern finanziert und aufgebaut. Auch der „Thüringer Heimatschutz“, dem die mutmaßlichen Mitglieder des Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU) angehörten, war ein Geheimdienst-Zögling.

Als das „Zwickauer Trio“ nach der Durchsuchung seiner Bombenwerkstatt in den Untergrund ging, genoss es den Schutz staatlicher Stellen. „Es gab ab 1998 verschiedene Möglichkeiten, die abgetauchten Neonazis festzunehmen“, schreibt der Publizist Wolf Wetzel in der aktuellen Hintergrund-Ausgabe. (7) „Dass dies wiederholt nicht passierte, lag nicht an der Eigenmächtigkeit der Geheimdienste, sondern an Anweisungen, die aus den zuständigen Innenministerien kamen“. Wetzel zitiert aus einem Artikel der Frankfurter Rundschau vom Dezember 2011:  „Vergangene Woche war in einer vertraulichen Sitzung des Thüringer Justizausschusses bekannt geworden, dass ein halbes Dutzend Aktennotizen aus der Zeit zwischen 2000 und 2002 existieren, laut denen das Innenministerium Festnahmeversuche verhindert hatte“.

Der frühere Chef der Ermittlungsgruppe Terrorismus/Extremismus im LKA Thüringen, Jürgen Dressler, erklärte, dem für den NSU zuständigen Zielfahnder Sven Wunderlich vom LKA-Präsidenten Egon Luthardt sei gesagt worden, „er werde das Trio niemals finden, da es unter staatlichem Schutz stehe“, nachdem Wunderlich geäußert hatte, er fände es merkwürdig, dass er bei geplanten Zugriffen „immer zu spät“ komme. (8)

Während Neonazis im Untergrund durch die schützende Hand des Staates zum Weitermachen ermuntert wurden, wurden und werden diejenigen mit beharrlichem Eifer verfolgt, die dem braunen Spuk Widerstand leisten.

Fast drei Jahre nach einer von einem breiten Bündnis getragenen Blockade eines Neonazi-Aufmarschs in Dresden werden noch immer mutmaßliche Teilnehmer der antifaschistischen Proteste vom Staat verfolgt. Bereits am Abend jenes Tages, dem 19. Februar 2011, hatten vermummte Einsatzkommandos der Polizei unter Mithilfe von Rammböcken und Kettensägen unter anderem eine Anwaltskanzlei und Räume der Partei Die Linke in Dresden gestürmt. Hunderte Strafverfahren wurden gegen jene eingeleitet, die sich den Rechtsextremen in den Weg gestellt haben sollen. Im Verfolgungswahn antifaschistischer Proteste wurden über eine Million Handydaten ausgewertet. Durchsucht wurden auch die Wohnung und die Diensträume des Stadtrates und Pfarrers Lothar König, dem die „Bildung einer kriminellen Vereinigung“ vorgeworfen wurde. Der Pfarrer hatte zu friedlichen Protesten gegen den Nazi-Aufmarsch aufgerufen. Der gegen ihn geführte Prozess nahm vor drei Monaten sein vorläufiges Ende, nachdem umfangreiche Manipulationen des Beweismaterials durch die Staatsanwaltschaft bekannt geworden waren. Bundestags-Vizepräsident Wolfgang Thierse sprach von einem „fatalen Signal der Einschüchterung“ von Nazi-Gegnern. (9)

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Der gegenwärtige Skandal um den niedersächsischen Verfassungsschutz, der rechtswidrig politisch links stehende Geheimnisträger bespitzelt hat, ist somit im Grunde kein Skandal, sondern bundesrepublikanischer Normalbetrieb.

Anmerkungen
(1) http://www.fraktion.gruene-niedersachsen.de/presse/pressemitteilungen/meldung/artikel/einladung-zum-pressestatement-ueber-die-rechtswidrige-datenspeicherung-eines-mitglieds-der-gruenen-d.html
(2) http://www.ndr.de/regional/niedersachsen/verfassungsschutz299.html
(3) http://www.fraktion.gruene-niedersachsen.de/presse/pressemitteilungen/meldung/artikel/limburg-und-onay-schuenemann-muss-sich-entschuldigen.html
(4) ebd.
(5) http://www.rav.de/publikationen/mitteilungen/mitteilung/schon-wieder-verfassungsschutz-erneut-im-fokus-329/
(6) Aus einer Rede der diesjährigen Rosa-Luxemburg-Konferenz in Berlin, nachzuschauen unter: http://www.youtube.com/watch?v=sS7ahXHsMsc
(7) Wolf Wetzel, „Jenseits eines blinden und tiefen Staates“, Hintergrund 4/2013, Printausgabe
(8) http://www.bundestag.de/dokumente/textarchiv/2013/42918793_kw08_pa_2ua_nsu/index.html
(9) http://www.welt.de/politik/deutschland/article117921756/Prozess-gegen-Jugendpfarrer-nimmt-peinliches-Ende.html

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