Weltpolitik

„Fahrkarte zur Hölle“

Hinweis: Die Bilder sind aus den archivierten Hintergrund-Texten vor 2022 automatisch entfernt worden.

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Israel verschärft Operationen gegen Palästinenser –

Von SEBASTIAN RANGE, 18. Juni 2014 –

Die israelische Armee hat nach der Entführung von drei Jugendlichen im Westjordanland die Festnahmen von Mitgliedern der palästinensischen Widerstandsorganisation Hamas auf mehrere Städte ausgeweitet. Vor allem im Bereich der Stadt Nablus im nördlichen Teil des von Israel besetzten Gebietes seien mehr als vierzig Verdächtige verhaftet worden, teilte die Armee am Dienstag mit. Zuvor waren vor allem in der Gegend von Hebron, wo die Entführer vermutet werden, Hamas-Mitglieder festgenommen worden.

Drei zwischen 16 und 19 Jahre alte Schüler waren am Donnerstagabend auf dem Heimweg von einer Religionsschule in der Siedlung Kfar Ezion verschleppt worden. Bisher hat sich keine palästinensische Organisation zu der Tat bekannt. Die Hamas bezeichnete die Vorwürfe Israels, für die Entführung die Verantwortung zu tragen, als „dumm“.

Die israelische Armee nennt die Suche nach den Vermissten Operation „Brother´s Keeper“. Politische Führung und Armee stellen sich auf einen langwierigen Einsatz ein. Insgesamt sind bisher knapp zweihundert Palästinenser festgenommen worden, die meisten davon Mitglieder der Hamas. Die israelische Luftwaffe flog unterdessen erneut Angriffe auf den dicht besiedelten Gazastreifen. Ziele seien unter anderen zwei Waffenlager gewesen, teilte ein Armeesprecher am frühen Dienstagmorgen mit. Nach Angaben von Vertretern der Sicherheitsbehörden im Gazastreifen wurden auch zwei Übungsgelände der Hamas bombardiert. Berichte über Verletzte gab es zunächst nicht. Am Montag war ein palästinensischer Demonstrant im Westjordanland von  israelischen Soldaten erschossen, ein weiterer junger Mann schwer verletzt worden. Die Palästinensische Autonomiebehörde hat die Festnahmewelle im Westjordanland und die Luftangriffe im Gazastreifen als „kollektive Bestrafung“ verurteilt.

Ein Sprecher der palästinensischen Einheitsregierung hatte am Sonntag bekräftigt, die Palästinenserbehörde sei nicht für die Sicherheit in Gebieten unter israelischer Militärkontrolle zuständig. Der Sprecher warf nach Angaben der Nachrichtenagentur Maan Israel außerdem vor, die Haftbedingungen für palästinensische Gefangene verschärft zu haben. Unter anderem seien Familienbesuche verboten worden. Mehr als einhundert palästinensische Häftlinge befinden sich ohnehin seit fast zwei Monaten im Hungerstreik, um gegen die Haftbedingungen zu protestieren.

Für die Einheitsregierung der größten Palästinenserorganisationen Fatah und Hamas, die am 3. Juni vereidigt wurde, ist der Entführungsfall eine schwere Belastungsprobe – und ein Glücksfall für Israels rechte Regierung in ihrem Bestreben, die neu gebildete palästinensische Führung  zu delegitimieren. Neri Zilber vom Washington Institute sieht einen möglichen „Schaden für den palästinensischen Versöhnungsprozess und ein Fragezeichen über der gesamten politischen Strategie (des Palästinenserpräsidenten Mahmud) Abbas seit dem Zusammenbruch der Verhandlungen mit Israel“.

Der palästinensische Politikexperte Dschihad Harb hält es allerdings für möglich, dass eine Splittergruppe hinter der Tat steht, die nichts mit Hamas zu tun hat. „Sollte Hamas doch verantwortlich sein, würde dies die Arbeit der Einheitsregierung schwer beeinträchtigen“, meint er. Vor sieben Jahren war es zum Bruch zwischen der Hamas und Abbas‘ Fatah gekommen, nachdem die Hamas gewaltsam die Herrschaft im Gazastreifen übernommen hatte. Erst nachdem im April dieses Jahres die Nahost-Friedensgespräche erfolglos endeten, kam es zu einer erneuten Annäherung zwischen den beiden wichtigsten palästinensischen Parteien, in deren Folge Anfang Juni eine Übergangsregierung aus Experten gebildet wurde – in der allerdings weder Mitglieder der Hamas noch der Fatah sitzen.

Israel hatte die Friedensgespräche scheitern lassen, indem es der vereinbarten Freilassung einer vierten und letzten Gruppe von 26 palästinensischen Langzeithäftlingen nicht nachkam. Die Regierung unter Ministerpräsident Benjamin Netanjahu nutzte die Gespräche mit den Palästinensern vor allem dazu, sich Zeit zu verschaffen: Im Windschatten der Friedensverhandlungen trieb Tel Aviv den Siedlungsbau im besetzten Ost-Jerusalem massiv voran. (1) Zudem hatten die Palästinenser zugesichert, während der Gespräche ihre Bemühungen um eine internationale Anerkennung eines unabhängigen Staates auszusetzen. Zur großen Verärgerung Israels war es den Palästinensern 2012 gelungen, von der UN-Vollversammlung als unabhängiger Staat mit Beobachterstatus anerkannt zu werden.

Israels Regierung nutzt die Entführung der Jugendlichen als Steilvorlage, um auch den Druck auf die USA und die EU zu erhöhen, die von Tel Aviv scharf kritisierte Zusammenarbeit mit der neuen Expertenregierung der Palästinenser zu beenden. „Der Vorfall zeigt das wahre Antlitz des Terrorismus, gegen den wir kämpfen müssen“, erklärte Netanjahu, der vor negativen Konsequenzen des Bündnisses zwischen Fatah und Hamas warnte. Dies sei „schlecht für Israel, schlecht für die Palästinenser und schlecht für die Region“, so der Ministerpräsident.

Das fehlende Motiv für eine Entführung seitens der Hamas ist für Israels Führung kein Grund, die Palästinenserorganisation nicht der Tat zu bezichtigen – und mit deren Vernichtung zu drohen. Verteidigungsminister Mosche Jaalon erklärte, Hamas werde nun einen „hohen Preis bezahlen“. Wirtschaftsminister Naftali Bennett von der Siedlerpartei sagte dem Armeesender vollmundig: „Wir werden die Mitgliedskarte der Hamas-Organisation in eine Fahrkarte zur Hölle verwandeln.“ Einer von vielen Beobachtern vermutet, die neue Militäroffensive Israels in den besetzten Gebieten könnte dort auch die binnen sechs Monaten angestrebten Neuwahlen torpedieren – und damit das Bemühen der Palästinenser nach einem unabhängigen Staat.


 

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(mit dpa)

(1) Siehe: http://www.hintergrund.de/201404013057/politik/welt/israel-friedensgespraeche-werden-fortgesetzt-der-siedlungsbau-nicht-gestoppt.html

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