Zeitfragen

Charlie und die Heuchler

Hinweis: Die Bilder sind aus den archivierten Hintergrund-Texten vor 2022 automatisch entfernt worden.

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Von PETER VONNAHME, 31. Januar 2015 –

Millionen behaupteten am 11. Januar 2015, dass sie Charlie sind („Je suis Charlie“). Die meisten von ihnen hatten bis zur Nachricht über die Ermordung der zehn Journalisten keine Ahnung, dass es eine Satirezeitschrift namens Charlie Hebdo überhaupt gibt. Dessen ungeachtet nahmen sie über Nacht eine neue Identität an.

Der Charlie-Hype

Heute ist Charlie Hebdo weltbekannt. Die Auflagenzahl verhundertfachte sich und die Exemplare reichten trotzdem nicht aus. Hinz und Kunz waren Präsident Hollandes Einladung zum Marche Républicaine gefolgt. Fast alle waren sie da, die man dort erwarten konnte: die EU-Repräsentanten Juncker, Schulz und Tusk, die Regierungschefs Cameron, Merkel, Renzi, Rajoy, aber auch handverlesene Lichtfiguren im Kampf für die Menschenrechte wie etwa Netanjahu, Poroschenko und Orban, selbstverständlich auch der NATO-Generalsekretär. Sie haben – wohlabgeschirmt von der marschierenden Menschenmenge – in einer abgesperrten Straße medienwirksam für Presse- und Meinungsfreiheit posiert. Die Fake-Bilder haften im Gedächtnis, sie sind Ausdruck eines Medienschwindels und einer beklemmender Doppelmoral. Unausgesprochen war auch die Bedrohung durch islamistische Terroristen in den Köpfen der Trauermarschierer.  

Zwei Große fehlten in Paris, Putin und Obama. Da der russische Präsident die Menschenrechte nicht zu seinem Markenzeichen erkoren hatte, konnte man sein Fehlen verschmerzen. Aber US-Präsident Barack Obama, Friedensnobelpreisträger und Guantanamo-Betreiber (Prantl: „Häuptling gespaltene Zunge“), ist er etwa nicht Charlie?

Er, der ebenso hingebungsvoll wie erfolglos mit Drohnen, Kampfjets und CIA-Agenten für die „westlichen Werte“ kämpft? Sein Fehlen war ein Fehler, hört man aus dem Weißen Haus.

Inzwischen ist der Entrüstungsorkan der ersten Tage abgeflaut. Fähnchen und Transparente mit der Aufschrift „Je suis Charlie“ setzen in Kellerräumen Staub an. Das ruhige Nachdenken kann beginnen.

Angesichts der Tragik des Geschehens und der großen internationalen Solidarität drängt sich die Frage auf:

Muss jeder rechtschaffene Mensch Charlie sein?

Meine Antwort vorweg: nein! Doch vermutlich ist das eine Mindermeinung. Seit dem Anschlag hat die westliche Welt ihr Herz für Charlie Hebdo entdeckt. Das ist keineswegs selbstverständlich. Denn anstößige Bilder über Jesus und den Papst werden im christlichen Abendland üblicherweise in der Luft zerrissen – vor allem von denen, die beim Marche Républicaine in der vordersten Reihe standen. Warum darf man Mohammed lächerlich machen und Jesus nicht?

Es riecht nach Heuchelei.

Die Morde an den Journalisten sind grauenvoll und Zeichen heilloser geistiger Verirrung. Wer immer die Täter waren, es waren Verrückte, fernab von ihrer Religion.

Die Freiheit der Presse ist ein hohes Gut. Das gilt auch dann, wenn wesentliche Teile der Medien hierzulande von ihrer verfassungsrechtlich verbürgten Freiheit nur noch unzulänglich Gebrauch machen und sich stattdessen zum Büttel der Staatsmacht erniedrigen. Der Verlust an verlässlicher Information ist schmerzlich. Charlie Hebdo ist nicht eingeknickt. Das Magazin zeigte immer Zähne, oft auch Geifer, es war bissig und provokant, was ihm letztlich zum Verhängnis wurde.

Natürlich gibt es auch ein Recht auf religiöse Satire. Ihr muss es erlaubt sein, scheinheiligen Glaubensgemeinschaften, kriminellen Klerikern und bigotten Gläubigen schonungslos den Spiegel vorzuhalten. Nach meinem Verständnis gibt es aber kein Recht auf Verletzung religiöser Gefühle.

Es ist nicht Aufgabe der Satire, zentrale religiöse Symbole wie Jesus oder Mohammed verächtlich zu machen. Auch Menschen, die – wie ich – auf keine religiöse Stimme hören, wissen, dass es eine Grenze gibt, wo Spaß aufhört. Sie wissen, dass es für Gläubige einen Kernbereich gibt, der ihnen heilig ist. Diese Grenze muss man auch in einer libertären Gesellschaft nicht überschreiten. Und genau das tat bzw. tut Charlie Hebdo. Seine Karikaturen sind häufig verletzend. Wer gläubige Muslime kränken will, muss nur den Propheten oder den Koran verächtlich machen. Die Redakteure von Charlie Hebdo wussten das. Sie haben absichtsvoll Muslime weltweit tief getroffen und heftige Reaktionen in Kauf genommen. Der Hinweis der Charlie-Verteidiger, dass die Redakteure mit anderen Religionen nicht schonender umgegangen seien, mag richtig sein, aber das macht die Sache nicht besser. Die unterschiedliche Reaktion auf Beleidigungen liegt darin, dass in der westlichen Welt die religiöse Verankerung nicht mehr so fest ist und dass man deshalb mit solchen Verletzungen im Regelfall gelassener umgeht.

Wenn man der größeren Verletzbarkeit der muslimischen Welt mit mehr Empathie begegnen würde, wäre das nicht Ausdruck von Feigheit oder gar Kapitulation. Es wäre nur Respekt vor anderen Überzeugungen. Kluge Selbstbeschränkungen sind uns nicht fremd: Kein halbwegs normaler Mensch findet Witze über den Holocaust lustig. Dies ist zwar nicht religiösen Gefühlen geschuldet, wohl aber der Rücksichtnahme auf die Verletzbarkeit anderer. Da Charlie Hebdo zu diesem Feingefühl offensichtlich nicht fähig ist, lautet meine Antwort: Je ne suis pas Charlie.

Aber nochmals, die Ermordung der Redaktionsmitglieder ist eine zivilisatorische Katastrophe. Damit ihr Tod nicht völlig sinnlos ist, muss er Anlass zu einer ungeschminkten Ursachenforschung sein.

Wir sind die Guten

Eine ehrliche Gewissenserforschung zeigt, dass der freie, auf einer vermeintlichen „christlich-jüdischen Wertegemeinschaft“ aufbauende Westen in eine beängstigende, ja gefährliche Selbstgefälligkeit verfallen ist. Wir sprechen es zwar nicht offen aus, aber wir lassen keinen Zweifel daran: Wir sind die Guten. Wer nicht mitspielt, ist der Böse. Der Vorteil ist, dass diese Weltsicht einfach, der Nachteil, dass sie konfliktträchtig ist.

Wir feiern die westlichen, freiheitlichen, demokratischen Werte. Gleichzeitig wird im Namen von Freiheit und Demokratie weltweit gemordet und gefoltert. Viele Staatschefs, die das Banner der Freiheit und der Gerechtigkeit bei öffentlichen Anlässen hochhalten, treten diese Werte im Politalltag mit Füßen. Neuerdings (Krimkonflikt) sprechen sie sogar wieder vom Völkerrecht. Während der westlichen Kriege etwa in Jugoslawien, Afghanistan, im Irak und in Libyen fristete es ein Schattendasein.

In den letzten 15 Jahren wurden Hunderttausende in Bosnien, in Afghanistan, im Irak, in Gaza, in Libyen und in Syrien Opfer völkerrechtswidriger Kriege. Auch heute noch werden nur wenige Flugstunden entfernt täglich viele Menschen von Kugeln, Granaten, Bomben und Drohnen zerfetzt. Andere verhungern, sterben auf der Flucht oder ertrinken im Mittelmeer. Im Donbass werden unschuldige Menschen Opfer westlicher Expansionspolitik. In Palästina wird Menschen durch ein selbstsüchtiges Besatzungsregime Land und damit die Zukunft geraubt. Bei all dem sind wir, die Guten, entweder Täter oder wir sehen tatenlos zu. Wo bleiben angesichts dieses Unrechts und dieses Elends die Millionenaufmärsche in unseren Hauptstädten? Wo die Sondersendungen im TV? Und wo die Schweigeminuten im Weltsicherheitsrat?

Nichts dergleichen! Denn die Menschen in Afghanistan und im Irak starben und sterben, so wurde uns versichert, für unsere Freiheit und für unsere Sicherheit und natürlich für die Demokratie (die sie gar nicht wollten). Andere wurden Opfer von barbarischen „Vergeltungsaktionen“ oder von „humanitären Interventionen“. Wieder andere hatten einfach Pech, sie wurden zu Kollateralschäden. Wenn in Afghanistan oder in Pakistan Teilnehmer von Hochzeitsgesellschaften oder ganze Schulklassen durch US-Drohnen in Stücke gerissen werden, dann betonen US-Militärsprecher achselzuckend, es habe der Verdacht bestanden, dass sich al-Qaida-Mitglieder unter die Anwesenden gemischt hätten. Selbst wenn es so wäre, ist das ein Freibrief zum Liquidieren?

Wurde in all diesen Fällen jemals ernsthaft gefragt, ob die Hunderttausende wegen unseres unersättlichen Rohstoffhungers oder wegen amerikanischer Weltmachtsphantasien sterben mussten? Hat man den Unglücklichen je eine Träne nachgeweint? Nein! Denn wer außerhalb der „Welt der Guten“ Opfer von Krieg, Terror, Mord und Vertreibung wird, ist nicht der Rede wert. Er bleibt anonym, sein Ableben schafft es nicht über unsere Aufmerksamkeitsschwelle. Wer will schon die Folgen eigener Gewalt sehen? Schon gleich gar nicht können diese Opfer mit öffentlichen Mitleidsbekundungen rechnen. Das unterscheidet sie von Charlie Hebdo.

Falsche Bilder

Politik und Medien vermitteln uns seit Jahren den Eindruck, dass wir einer zunehmenden islamistischen Bedrohung ausgesetzt sind. Die Zahlen sprächen für sich, sagen sie. Tatsache ist jedoch, dass Täter mit christlichem oder jüdischem Glaubenshintergrund seit Jahrzehnten weltweit ungleich mehr Muslime töten als Christen und Juden durch muslimische Gewalttäter umkommen. Im ersteren Fall nennen wir das Verteidigung oder gerechter Krieg, im letzteren Fall islamistischen Terrorismus. Denn wir sind die Guten.

Die Meinungsmacher sind zu Heuchlern geworden, nicht alle, aber viele der mächtigen. Ihre Richtschnur ist die Doppelmoral. Unter ihrer Anleitung haben wir uns heillos verrannt. Denn auch falsche Bilder sind wirkmächtig. Entscheidend ist nämlich nicht, was ist, sondern woran man glaubt.

Die Doppelmoral der Guten

Wenn wir eine bessere Welt anstreben, dann müssen wir aufhören, mit zweierlei Maß zu messen. Doppelmoral ist der Nährboden des Terrorismus.

•    Es ist doppelbödig, wenn wir Anschlagsopfer muslimischer Täter im Herzen des europäischen Kontinents öffentlich betrauern, die Millionen Opfer westlicher Weltordnungskriege aber als unvermeidlich hinnehmen.
•    Es ist doppelbödig, wenn nach Verbrechen muslimischer Täter reflexartig an die muslimischen Verbände appelliert wird „Distanziert euch, andernfalls werdet ihr in Mithaft genommen!“. Gab es entsprechende Distanzierungsaufrufe an christliche Gemeinden bei Bekanntwerden der NSU-Morde an Immigranten?
•    Es ist doppelbödig, wenn wir arabische Diktaturen, die weitab von unserem Menschenrechtsverständnis leben, mit modernsten Waffen beliefern, obwohl wir wissen, dass mit ihnen dschihadistische Organisationen ausgerüstet werden, die unsere Werte brutal bekämpfen. Dass wir dafür Öl und blutverschmiertes Geld bekommen, macht den Deal nicht besser.
•    Es ist doppelbödig, wenn wir den das Völkerrecht verachtenden Staat Israel mit atomar ausrüstbaren U-Booten beschenken und bei seinen Rechtsbrüchen wegschauen. Schwerste eigene Schuld aus dunklen Zeiten kann dieses Verhalten nicht rechtfertigen.
•    Es ist doppelbödig, wenn wir den USA bei völkerrechtswidrigen Kriegen Beistand gewähren. Es ist unverantwortlich, weil wir um die Gräuel von Abu Ghraib, Guantanamo und sonstiger Foltergefängnisse sowie um die garantierte Straflosigkeit der politisch Verantwortlichen wissen.
•    Es ist doppelbödig, wenn wir den grauenvollen Massenmord des christlich-fundamentalistischen Psychopathen Anders Breivik, der Europa vor dem Islam schützen wollte, anders bewerten als Gewaltakte muslimischer Terroristen. Damals gab es nämlich trotz der 77 Mordopfer keinen internationalen Trauermarsch vergleichbar dem von Paris. Was wäre aber gewesen, wenn kein Norweger, sondern ein Araber den Massenmord begangen hätte? Die Hysterie wäre vermutlich grenzenlos gewesen.
•    Und ja, es ist auch doppelbödig, wenn wir terroristische Attentäter stereotyp als feige und hinterhältig bezeichnen. Ist es etwa mutiger, wenn ein Todesvollstrecker im sicheren Befehlsstand auf einen Knopf drückt, um einen in großer Entfernung vermuteten Gotteskrieger mittels Drohne zu ermorden? Im Übrigen ist das, was bei uns als feige und hinterhältig eingestuft wird, die Folge davon, dass die terroristischen Einzeltäter weder über Drohnen noch über Jagdflugzeuge und Kampfpanzer verfügen. Es ist zu vermuten, dass sie ihre zur Selbstvernichtung führenden Sprengstoffgürtel gerne gegen modernes Kriegsgerät austauschen würden. Auch Sprache ist kennzeichnend für Doppelmoral.

Was tun?

Die Politik und ihre Spiegelung in den Medien muss ehrlicher werden. Es ist nämlich perspektivisch von zweifelhaftem Nutzen, die Toten von Charlie Hebdo für taktische Vorteile zu instrumentalisieren. Das löst die Probleme im Nebeneinander von islamischer und westlicher Welt nicht.

Erinnern wir uns! In den ersten Jahrzehnten nach dem 2. Weltkrieg fühlte niemand eine islamistische Bedrohung. Die Menschen im Westen waren mit der geschürten Angst vor den Russen und dem Kommunismus voll ausgelastet. Als die Sowjetunion und der Warschauer Pakt zerbrochen waren, wurde unser Bewusstsein auf neue Gefahren eingestimmt (Islamismus, Dschihadismus, Salafismus, Gotteskrieger). Bündnisse wie die NATO brauchen zur eigenen Legitimation ein Bedrohungsszenario.

Vor diesem Hintergrund lohnt es sich, über mögliche Beweggründe der Charlie-Mörder nachzudenken. Wenn es tatsächlich die Kouachi-Brüder gewesen sind, kann man sie leider nicht mehr befragen. Denn sie wurden erschossen. Wir können nur noch mutmaßen.

Der Koran enthält andere Glaubensanweisungen als die Bibel der Christen. Doch allein deswegen werfen junge Männer nicht ihr Leben weg. Andernfalls hätte es das Phänomen des islamistischen Terrorismus auch früher geben müssen. Das legt nahe, dass zum Glauben andere Tatmotive hinzukommen müssen: Kränkungen, Erniedrigungen, Entrechtung, Ausgrenzung, Ausbeutung, Zerstörung von Lebensgrundlagen, Armut, Hoffnungslosigkeit. Raum für solche Motive gibt es im Umgang mit der muslimischen Welt genügend. Fehlende Sensibilität hierfür rächt sich. Sie gebiert nämlich das, was uns später in Form des sogenannten Terrorismus entgegentritt. Wenn es dem Westen wirklich um Befriedung und nicht um Dominanz geht, dann muss er seine Politik von Grund auf überdenken. Außerdem muss er mit den Ländern des Nahen Ostens und mit dem Islam über die genannten Zusammenhänge sprechen – und zwar aufmerksam und auf Augenhöhe. Unsere Staatsführer müssen über Substanzielles reden und nicht nur überlegen, wie man Terroristen wie lästiges Ungeziefer vernichten kann. Nur ehrlicher Dialog führt zu Verstehen und geistiger Abrüstung. Das geht nicht ohne Respekt für andere Sichtweisen. Im Bereich der Religion sollte das unschwer möglich sein, hier gibt es kein falsch oder richtig, sondern nur glauben oder nicht glauben. Das ist die Spielwiese der Toleranz. Doch auch im diesseitigen Leben muss allmählich die Einsicht reifen, dass unsere westlichen Vorstellungen nicht schlechthin für andere Kulturen Maßstab bildend sind. Wir können unsere Lebensformen anbieten, sie erklären und für sie werben. Aber herbeibomben lässt sich Akzeptanz nicht.  

Fehlende Strategie

Selbst wenn man zugunsten des Westens unterstellen würde, dass es ihm in den letzten Jahrzehnten nicht zuvörderst um militärische Vorherrschaft und Ressourcensicherung gegangen ist, kommt man an einer ernüchternden Feststellung nicht vorbei:  Der aufgeklärte Westen hat keine tragfähige Strategie für den Frieden entwickelt. Reaktion prägt sein Denken. Wo Weltinnenpolitik gefragt wäre, wird in militärischen Zusammenhängen gedacht.

Die politischen und medialen Schnellschüsse nach Charlie Hebdo sind bezeichnend: mehr Polizei, bessere Überwachung, Informationsaustausch, Vorratsdatenspeicherung, Geheimdienst, Militäreinsatz, Hubschrauber, Waffen, Straßensperren. Kurzum: Terrorabwehr mit Hardware. Der Chef des Springer-Konzerns, Döpfner, brachte es auf den Punkt. Er machte den Tag der Pariser Attentate zum europäischen 9/11. Das ist ein Fanal zum neuen war on terror. Die Pariser Morde werden benutzt, um die eigene Bevölkerung auf mehr Kampfbereitschaft einzustimmen. Angemahnt wird die Bereitschaft, Freiheit zugunsten von mehr Sicherheit zu opfern. Schon Benjamin Franklin wusste, dass man bei diesem Geschäft am Ende beides verlieren wird.

Im Wortschatz der Mächtigen fehlen die Worte Ursachen- und Konfliktforschung, Psychologie, Dialog, Respekt, Verständigung, Ausgleich. Der Mangel an kreativer Phantasie ist bedrückend und verspricht nichts Gutes. Natürlich muss verantwortliche Politik für die Sicherheit der Menschen alles tun, was möglich ist. Aber das darf nicht bei polizeistaatlichem Denken enden. Friedenspolitik ist auf lange Sicht die einzig Erfolg versprechende Option. Solange wir glauben, wir könnten unsere sogenannten westlichen Werte mit Panzern und Drohnen schützen, werden wir keine Ruhe bekommen.

Neben einer Langzeitstrategie ist Mut zur Ehrlichkeit vonnöten. Sicherheitspolitiker dürfen nicht müde werden, den Menschen zu erklären, dass es einen absoluten Schutz vor durchgeknallten Straftätern nicht geben kann – und zwar auch dann nicht, wenn man bereit ist, wesentliche Teile der persönlichen Freiheit abzugeben. Beiläufig muss auch das von konservativen Staatsrechtlern herbeigeschriebene „Grundrecht auf Sicherheit“ auf der Müllhalde der hartnäckigen Irrtümer entsorgt werden. Unser Grundgesetz verbürgt ein Grundrecht auf Freiheit, aber nicht auf Sicherheit. Grundrechte sind Abwehrrechte gegen Übergriffe des Staates. Sie können keinen Schutz gegen Verbrechen à la Charlie Hebdo gewährleisten. Wirklichen Schutz kann nur gute Politik geben.

Ein Nachwort zum Journalismus

Der „Qualitätsjournalismus“ hat (von ein paar Ausnahmen abgesehen) rund um Charlie Hebdo das geleistet, was kritische Beobachter von ihm erwartet haben, nämlich nichts. Er hat die Erklärungsmuster und Rezepturen der Politik treulich nachgebetet. Er war unkritisch bis hin zur Servilität. Wo Nachfragen am Platz gewesen wäre, duckte sich die Journaille bequem ab.

Nur weil zwei Vermummte „Allahu akbar“ riefen und einer von ihnen im Fluchtauto seinen Personalausweis vergessen hatte, war für die Polizei die Täterfrage rasch geklärt. Diese Hochgeschwindigkeitstäterermittlung erinnert an 9/11, wo auf den qualmenden Trümmerhaufen der Twin Towers der Ausweis eines Attentäters gefunden worden ist. Duplizität der Ereignisse, irgendwie merkwürdig, nicht wahr? Kontrollfrage: Wie oft habe ich in den letzten zwanzig Jahren meinen Ausweis im Auto liegen lassen, vergessen, verloren?

Investigativem Journalismus hätte es auch gut angestanden nachzufragen, weshalb die Täter beim Verlassen des Hauses, in das sie geflüchtet waren,  erschossen worden sind. Hätte man ihrer nicht auch lebendig habhaft werden können? Das entspräche rechtsstaatlichen Standards und hätte Antworten auf viele interessante Fragen erwarten lassen.

Doch solche Feinheiten sind nicht Sache des real existierenden Journalismus. Er schmiegt sich geschmeidig an die herrschenden politischen Zerrbilder. Im Fall Charlie Hebdo sah er seine Aufgabe darin, vorhandene Islamfeindbilder beflissen aufzunehmen und zu verstärken sowie der Weltöffentlichkeit das Bild von inniger Geschlossenheit zwischen dem Volk und seinen Führern zu vermitteln. Man könnte den Eindruck haben, dass manch bekannter Journalistenmime Angst vor den dunklen Abgründen hat, die eigenständiges Denken sichtbar machen kann.

In Anlehnung an Marx und Engels möchte man ihnen allen zurufen: Heuchler aller Schreibstuben, vereinigt euch! Und geht dann gemeinsam in den Ruhestand …


Über den Autor: Peter Vonnahme war bis zu seiner Ruhestandsversetzung 2007 Richter am Bayerischen Verwaltungsgerichtshof in München. Er ist Mitglied der deutschen Sektion der International Association of Lawyers Against Nuclear Arms. Von 1995 bis 2001 war er zudem Mitglied des Bundesvorstands der Neuen Richtervereinigung. In den letzten Jahren war er publizistisch tätig.


 

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Leseempfehlung zu den offenen Fragen des Attentats selbst:

Der Anschlag auf Charlie Hebdo – Versuch einer Rekonstruktion.          Von Andreas von Westphalen (31. Januar 2015)

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