Manova über Alternativmedien

Die neue Cancel-Culture

In der „alternativen“ Medienszene fallen nicht mehr kritische Stimmen, sondern solche unter den Tisch, die sich im Geschrei des Empörungsjournalismus zu nüchtern äußern.

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Jeder war schon einmal bei jedem. Die Szene der freien und alternativen Medien hat über die vergangenen Jahre eine ganz eigene Promi-Welt hervorgebracht, deren Bewohner sich gegenseitig in ihren Formaten besuchen und in Empfang nehmen. Es gibt, gemessen an den Klickzahlen, besonders populäre Lichtfiguren, deren Gesichter auf dem Thumbnail Reichweite garantieren. Licht und damit auch Lichtgestalten werfen aber naturgemäß Schatten. In diesen fristen solche Interviewgäste ihr mediales Dasein, die zwar durchaus etwas zu sagen haben, dies jedoch auf eine unaufgeregtere Weise tun oder schlicht keinen bekannten Namen haben. Obwohl es unter diesen eine Vielzahl gibt, die mit ihren Standpunkten frische Impulse mitbringen, generieren die altbekannten Hasen zuverlässig das Vielfache an Klickzahlen — und das, obwohl sie im Grunde genommen das wiederkäuen, was sie schon unzählige Male gesagt haben. Woher rührt das Bedürfnis, das Gewohnte und Bekannte immer wieder schauen, hören und lesen zu wollen, anstatt geistig neues Terrain zu betreten? In Wiederholungsschleifen und in mit Selbstbeweihräucherung zugequalmten Selbstbestätigungskammern gefangene Medienformate erzeugen langfristig bei Medien-Rezipienten genau die geistige Trägheit, die sonst allzu gerne den Konsumenten von Leitmedien zugeschrieben wird. Darüber hinaus wird eine ganz neue Cancel-Culture kultiviert. Die cancelnden Kräfte sind dabei nicht mehr die digitalen Plattformen und institutionalisierte Gesinnungshüter, die Beiträge löschen oder Veranstalter unter Druck setzen. Vielmehr lebt diese Cancel-Culture 2.0 von Gewohnheitsmustern und mangelnder Neugier — mit Betonung auf „neu“. Die Plattformen müssen gar keine Beiträge mehr löschen, solange neue Impulse, die mitunter sogar etwas Subversives oder Selbstermächtigendes transportieren, in der Flut des Immergleichen untergehen.

Die neue Cancel-Culture

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