Unsichtbare Gitterstäbe
Tabus sanktionieren Verhaltensweisen unterhalb der Strafbarkeitsschwelle — daher werden sie von Machtgruppen gezielt zur Volkserziehung kreiert.
Haben Sie schon einmal das Wort „Indianer“ benutzt? „Flüchtling“? „Zigeunerschnitzel“? Haben Sie eine Rede mit „Meine Damen und Herren“ begonnen und damit trans- und intersexuelle Personen beleidigt? Haben Sie laut die Meinung geäußert, nicht alles, was von AfD-Politikern gesagt werde, sei schlecht? Oder: das Bombardement des Gazastreifens durch die israelische Armee mit mittlerweile 50.000 Opfern sei Völkermord? Oje, wenn Sie so drauf sind, müssen Sie noch schwer an sich arbeiten. Auf keinen Fall dürfen Sie so bleiben, wie Sie sind. Und wenn Sie schon unbedingt so denken müssen — achten Sie darauf, dass es Ihr Geheimnis bleibt. Alles, was hier aufgezählt wurde, sind nämlich Tabus. Und die Übertretung wird von selbst ernannten Wächterräten der Korrektheit streng geahndet. So wie Verwandteninzest bei diversen indigenen Stämmen: durch Ausstoßung aus der Gemeinschaft. Der Wiener Psychiater Raphael Bonelli hat ein neues Buch über Tabus und deren Funktion in politischen Auseinandersetzungen geschrieben. Letztlich geht es, wie so oft, um die Kontrolle des Denkens, Sprechens und Handelns durch chronisch „hochsensible“ Machthaber. Bonelli beruft sich dabei auch auf die psychoanalytische Vorarbeit eines noch bekannteren österreichischen Kollegen.