Zensur und Meinungsfreiheit

Cancel Culture als niederschwellige und wirksame Zensur

Die Begrenzung des Raumes der „akzeptierten“ Meinungen funktioniert heute subtiler als früher. Hier ein abgesagter Vortrag, dort ein, zwei gestrichene Wörter in einem alten Text. Kritiker nennen die Bestrebungen Cancel Culture. Dabei werden missliebige Meinungen oder Haltungen aus dem öffentlichen Diskurs verbannt. Unser Autor hat drei Bücher gelesen, in denen das Thema auf verschiedene Weise betrachtet wird.

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„Eine Zensur findet nicht statt.“ – Artikel 5, Grundgesetz
Foto: .hd. Lizenz: CC BY-NC-SA 2.0, Mehr Infos

Der Begriff ist vielerorts zu hören: Cancel Culture. Michael Meyen nennt sie im gleichnamigen Buch eine „Zensur ohne Zensor“. Es handele sich um ein Programm, das Deutungshoheit sichert. Der Raum der politischen Diskussion wird eingegrenzt, dissidente Meinungen werden an den Rand gedrängt und ihre Träger ausgeladen – aus Veranstaltungsräumen, Universitäten oder anderen Diskussionsforen. Wir erleben demnach die Unkultur des Absagens oder des Löschens.

Aber nicht nur in der politischen Diskussion wird gecancelt. Auch und gerade in der Literatur. Hier wird, so schreibt es Melanie Möller, „der Leser (der Gegenwart) vorsorglich ,entmündigt‘, derjenige der Vergangenheit an den Pranger (der Unaufgeklärtheit) gestellt“. Möller hat jüngst eine leidenschaftliche Streitschrift für die Autonomie der Literatur vorgelegt, in der sie sich als Altphilologin und Verteidigerin der Literaten in Geschichte (und zuweilen auch Gegenwart) dem Thema nähert. Titel: „Der* ent_mündigte Lese:r“ – bewusst und provokant mit Sonderzeichen, denn das „Gesterne“ lehnt Möller primär aus sprachlich-grammatikalischer Überzeugung ab und verweigert sich ihm konsequent.

Der Schriftsteller Gunnar Kunz wendet sich in seinem neuen Buch ebenfalls gegen diejenigen, die die Meinungsfreiheit einschränken: „Spießer jedweder politischer Couleur eint, dass sie Menschen, die sich nicht ihren beschränkten Vorstellungen von erlaubten Betragen unterwerfen, mit sozialer Ächtung bestrafen und anderen vorschreiben wollen, in welchem schmalen Korridor an zulässigen Meinungen und Verhaltensweisen sie sich aufhalten dürfen.“ Der Titel seines Buches: „Achtung. Sie verlassen den demokratischen Sektor“.

Die drei aktuellen Bücher nähern sich dem Thema also auf unterschiedliche Weise, gemeinsam ist ihnen, dass sie die Zensur der Gegenwart nicht hinnehmen wollen. Während Möller sich vor allem mit der Literatur und dem Umgang in Universitäten und Verlagen beschäftigt – wichtig ist ihr dabei insbesondere, Dichter aus der Antike zu verteidigen –, durchmessen Meyen und Kunz den politischen Raum. Beide gehen davon aus, dass die Machenschaften der Zensoren, die sich nicht so nennen, die Demokratie und die Freiheit zerstören.

Zensur durch Plattformen

Meyens Buch ist im Hintergrund-Verlag erschienen. Aber nicht deshalb soll das Buch in dieser Rezension empfohlen werden. Denn es ist eine gut lesbare kurze Zusammenfassung der wichtigsten Aspekte, die es zum Thema zu sagen gibt. Meyen stellt in seinem Buch unter anderem die enge Verbindung zwischen Regierung und Medien dar. Dazu kommt die Bedeutung der Plattformen, die dafür sorgen, dass bestimmte Meinungen gar nicht erst gehört werden können. Meyen spricht vom „Digitalkonzernstaat“, schließlich müssen sich die Plattformen mittlerweile einer Reihe von Zensurgesetzen unterwerfen, die zwar auch nicht so heißen, aber so wirken. Mit Plattformen sind Facebook, Instagram, YouTube und die Google-Suchmaschine aber auch Apple oder Microsoft gemeint, die jeweils mit ihrer Konzernmacht bestimmte Meinungen unterdrücken können. Das tun sie auf Basis diverser Gesetze insbesondere der EU, aber auch selbstständig im vorauseilenden Gehorsam.

Dabei sprechen die Vertreter des Mainstreams gerne von Einzelfällen, Meyen verweist auf einen Bericht der Süddeutschen Zeitung vom Anfang des vergangenen Jahres, der die Diskussion ins Lächerliche zieht. Wie viele Einzelfälle brauche es, um von einem strukturellen Problem zu sprechen, fragt der Autor der Süddeutschen süffisant. Allerdings: Es gibt viele Einzelfälle, auch wenn der Mainstream sie nicht wahrnehmen will oder kann. Sie laufen meist so ab, wie Michael Meyen am Fall eines angekündigten Vortrags von Kayvan Soufi-Siavash beschreibt. Hier sorgte der Bericht der FAZ für eine Medienlawine bis zur Tagesschau, in der Folge gab es Distanzierungen, Rücktritte im Vorstand des Veranstalters, Gegendemonstrationen und ein Versprechen des Saalbetreibers, „künftig besser aufzupassen“. Anderswo läuft es ähnlich. Dabei, so Meyen, sind „die Angriffe geschützt durch ein Meinungsklima, das der Digitalkonzernstaat über die Leitmedien verbreitet und durch Helfershelfer zementieren lässt, die von ihm ausgebildet, gelockt, erpresst werden“.

In diesen drei Wörtern – also ausgebildet, gelockt, erpresst – liegt die Erklärung dafür, warum das so gut funktioniert und warum niemand dagegen aufsteht, der „drinnen“, also im leitmedial akzeptierten gesellschaftlichen Diskurs, bleiben will. Wichtig dafür ist die Verankerung in den Universitäten und anderen Bildungsstätten, bei denen das Nachfragen und Nachdenken verloren geht. Die genauen Prozesse hat Meyen bereits vergangenes Jahr in seinem Buch „Warum ich meine Uni verlor“ (Edition Ost) beschrieben. Melanie Möller liefert weitere Beispiele für die Einengung des Geistes im Bildungssystem. Ein Beispiel: In Baden-Württemberg wurde in den Literaturkanon und die Abiturprüfung eingegriffen, weil eine Lehrerin mit Wurzeln in Afrika sich von dem vermeintlich „rassistischen Vokabular“ eines Romans attackiert fühlte, der für die Abiturprüfung obligatorisch war. Möller hält dagegen: „Die kritische Auseinandersetzung mit dem Text und seiner Sprache ist doch, wie bei jeder Literatur, etwas, das die denkerische Leistung gerade in der Abiturvorbereitungsphase besonders prägen kann.“ Wer nicht mehr mit den mannigfaltigen Widersprüchen in Geschichte und Gegenwart umgehen muss, der wird kaum einen kritischen Geist herausbilden.

Die Vielfalt der Literatur, die gleichzeitig die gesamten Abgründe des menschlichen Lebens abbildet, wird unter den Bedingungen der Cancel Culture kaum zunehmen. Was zunimmt ist ein neuer Moralismus, schreibt Gunnar Kunz, bloßes Unwohlsein reiche aus, um Menschen das Wort zu verbieten. Und weiter: „Wir leben in einer Zeit, in der es schick ist, andere mit den eigenen Befindlichkeiten zu schikanieren.“ Einspruch werden diejenigen sagen, die die Kritik an der Cancel Culture als Machtmittel der alten Eliten deuten, die nicht begreifen wollten, dass ihre Zeit vorbei ist. Michael Meyen nennt einige Vertreter, die die Kritiker der Cancel Culture als die wirkliche Bedrohung der Debatte beschreiben. Die Fronten sind verhärtet. Woher kommt das?

Enge Verbindung mit dem Staat

Gehen wir kurz zurück zu den drei Verben von eben und befassen uns mit dem „gelockt“: Es geht ums Geld, um Fördergelder, ein Kissen, auf dem es sich „sicherer übernachten lässt als unter dem Damoklesschwert des Risikos, gerügt zu werden oder aus den gestifteten Gemeinschaften herauszufallen“, so Melanie Möller. Michael Meyens These ist, dass die Cancel Culture von Leitmedien und Parteien-Staat ausgeht. „Die stützt sich auf ein intellektuelles Prekariat, das aus Steuertöpfen lebt […]“ Manchmal geht es ums Geld und darum, es nicht zu verlieren – womit wir beim dritten Verb, also dem „erpresst“, angelangt wären.

Gunnar Kunz schreibt davon, dass eine Trennung von Staat und NGO kaum noch zu erkennen sei und verweist auf das Demokratiefördergesetz. Eine von mehreren kleinen Ungenauigkeiten in seinem Buch, schließlich ist dieses Gesetz, das den „Hilfstruppen des Staates“ (Kunz über die NGOs) eine dauerhafte Finanzierung sichern soll, noch nicht beschlossen. Aber bereits bestehende Programme wie „Demokratie leben“ oder „Zusammenhalt durch Teilhabe“ funktionieren auf dieselbe Weise. Die NGOs dienten „als Kaderschmiede für künftige Lobbyisten und Aktivisten und stellen so sicher, dass die Gesellschaft von linientreuen Menschen durchdrungen wird, die die immer gleichen politisch gewollten Sprachhülsen in die Köpfe der Bevölkerung hämmern und regierungskonforme Ansichten durchsetzen“.

Stellt sich am Ende die Frage, welches der Bücher zu empfehlen ist? Interessant und erhellend sind alle drei. Melanie Möller verlangt ihren Lesern einige Kenntnis in antiker Literatur ab und ist als Altphilologin oftmals zu lange und zu intensiv an der Originalquelle, wobei diese Arbeit selbstverständlich ihre Berechtigung hat. Wer sich für die Literatur und den Kampf um die Integrität alter Texte interessiert, der erfährt von ihr viel Neues. Sowohl das erste Kapitel, das in das Thema einführt, oder auch die Ausführungen zu Astrid Lindgren im neunten Kapitel sind aber auch ohne tiefere Kenntnisse der antiken Dichter lesbar und ein Gewinn.

Gunnar Kunz arbeitet ebenfalls dicht an den Quellen, wenngleich seine meist Artikel aus dem Internet sind. Störend ist, dass er viele Beispiele aus einem seiner anderen Bücher übernimmt, so dass es hier nur ein Selbst- und kein Originalzitat gibt. Was hingegen nachahmenswert wäre: Kunz hat sich die Mühe gemacht, alle genannten Links über ein Internetarchiv zu sichern, die noch dazu relativ leicht abschreibbar sind. Es sei einmal dahingestellt, inwieweit seine Reihung von angeblich männerfeindlichen Texten der taz zum Vatertag wirklich ein Indiz für deren Sexismus gegenüber Männern ist – es gäbe sicher noch andere Beispiele für mediale Doppelmoral. Dass Medien oftmals mit Männern anders umgehen als mit Frauen, Kunz weist noch auf die Unterschiede beim Thema Sextourismus hin, ist nicht von der Hand zu weisen.

Michael Meyens Buch ist schließlich nicht nur, weil es bei Hintergrund erschienen ist, ein Muss für jeden, der sich mit der Cancel Culture als aktueller Form einer wirksamen und niederschwelligen Zensur befasst. Schließlich gelingt es dem Professor immer wieder, klar, deutlich und für jeden verständlich zu formulieren und dabei gleichzeitig auf hohem theoretischem Niveau zu argumentieren. Meyen greift auf Michel Foucault, Ulrich Beck, Sheldon Wolin oder Niklas Luhmann zurück und ist ein Volksaufklärer im besten Sinne. Vermutlich deshalb versucht der Digitalkonzernstaat, den kritischen Professor zu canceln. Gerade erst wurde Meyen aufgrund von mehreren vermeintlichen Vergehen – unter anderem die Autorenschaft und kurzfristige Herausgabe der Zeitung Demokratischer Widerstand – das Gehalt gekürzt. Die Landesanwaltschaft Bayern, die für den Beamten Meyen zuständig ist, hat mit diesem Vorgehen einen neuen Fall von Cancel Culture in die Welt gesetzt. Immer dort, wo der Professor, der gegen den Beschluss klagt, jetzt auftreten will, kann nun auf die Landesanwaltschaft Bayern verwiesen werden, um beispielsweise einen Saal als Auftrittsort zu verweigern oder den Veranstalter unter Druck zu setzen. Womit sich schließlich der Kreis geschlossen hat.

Michael Meyen, Cancel Culture. Wie Propaganda und Zensur Demokratie und Gesellschaft zerstören, Hintergrund Verlag, 80 Seiten, 10,90 Euro

Melane Möller, Der* ent_mündigte Lese:r. Für die Freiheit der Literatur. Eine Streitschrift, Galiani Verlag, 238 Seiten, 24 Euro

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Gunnar Kunz, Achtung Sie verlassen den demokratischen Sektor. Das Ende der Freiheit in Deutschland? Solibro Verlag, 217 Seiten, 18 Euro

Der Autor

Johannes M. Schacht ist freier Autor aus Hamburg. Für Hintergrund schreibt er aus aktuellem Anlass unter Pseudonym.

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