Die Große Flucht

Die doppelte Zweiteilung der Welt: Nord und Süd, Arm und Reich

Hinweis: Die Bilder sind aus den archivierten Hintergrund-Texten vor 2022 automatisch entfernt worden.

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Conrad Schuhler untersucht in seinem neuen Buch Ursachen und Hintergründe der Fluchtbewegungen

Was läge dieser Tage näher, als den Papst zu zitieren? „Diese Wirtschaft tötet“, proklamierte Franziskus Ende 2013. Conrad Schuhler macht in seinem jüngsten Buch Die Große Flucht deutlich, dass der Befund auch 2016 Bestand hat – und maßgeblich als Ursache für die derzeitigen Fluchtbewegungen zu nennen ist. Als Vorsitzender des Instituts für sozial-ökologische Wirtschaftsforschung (isw) gehört es zu seinem Handwerkszeug, Zahlenmaterial so zu liefern, dass es beim Lesen nicht ermüdet, sondern im Gegenteil anschaulich zeigt: Wie extrem die Verelendung hier und die Profite dort sind; wie schwindelerregend die Gewinne der Rüstungsindustrie und anderer Kriegsprofiteure sind; wie frappierend etwa die von der EU mit 16 Ländern vertraglich geregelte und mit einer Milliarde Euro subventionierte Zerstörung einheimischer Fischereiwirtschaften ist; wie weit die Austeritätspolitik auch in Deutschland an die Existenz geht. Das Material stützt Schuhlers Kernbotschaft: In der Flüchtlingsfrage drückt sich eine doppelte Zweiteilung der Welt aus: in Nord und Süd, in Arm und Reich. In Zahlen: „Der globale Bestand an Brutto-Geldvermögen war 2014 auf das historische Rekordniveau von 135,7 Billionen Euro geklettert. … Doch: Auf die ärmere Bevölkerungshälfte entfallen nur fünf Prozent der Vermögenswerte.“

Das führt zum einen zu großen Fluchtbewegungen, zumal aus jenen Ländern, die Zielscheibe westlicher Kriegspolitik sind; zum anderen drückt die zunehmend ungleiche Verteilung auch hierzulande auf die Stimmung. Das alte Lied: Die, die wenig haben, sollen gegen die, die noch weniger haben, ausgespielt werden. Schuhler zeigt, dass die Erfolge der AfD nicht aus dem Nichts rühren: „Für dieses Aufblühen des Rassismus wurde in Politik, in Medien und im gesamten öffentlichen Diskurs lange gesät.“ Belege dafür sind zahlreich, im Buch werden einschlägige Aussagen angeführt von: EU-Ratspräsident Donald Tusk, Peter Sloterdijk oder Miriam Meckel, der Chefredakteurin der Wirtschaftswoche.

Dagegen hilft: zusammenzustehen mit jenen, die nicht in jenem gelobten Land sind, für das es mitunter gehalten wird. Und, da die Flüchtlingsfrage letztlich eine soziale, ja eine Klassenfrage ist: einstehen für gemeinsame Interessen, also über die Maxime der „Willkommenskultur“ hinauszugehen. Eine „Praxis gelebter Solidarität“ habe sich bereits in zahlreichen Initiativen gezeigt. Für weitere Perspektiven führt Schuhler unter anderem Daniela Dahn, „Der Kapitalismus kann nur überleben, wenn er aufhört, er selbst zu sein. Also wenn er aufhört“, oder Oscar Wilde, „Das eigentliche Ziel ist der Versuch und Aufbau einer Gesellschaft auf einer Grundlage, die die Armut unmöglich macht“, ins Feld. Unpassend erscheint lediglich, auch Slavoj Žižek zum Kronzeugen zu machen, so plausibel die verwendeten Zitate sein mögen. Möglicherweise erst nach Drucklegung des Buches diskeditierte sich der postmoderne Philosoph Anfang des Jahres gerade in der Flüchtlingsfrage. In seinem Spiegel-Beitrag „Karneval der Underdogs“ erklärte er: „Brutalität, bis hin zu Grausamkeiten gegenüber Schwächeren, Tieren, Frauen ist ein traditionelles Merkmal der ‚niederen Klassen’.“ Und der Welt gegenüber sagte er: „Wir müssen dafür sorgen, dass die Flüchtlingsströme in geordneten Bahnen verlaufen. Etwa mit der Einrichtung von Aufnahmezentren in den Anrainerstaaten von Syrien, aber auch in Libyen. Dabei soll Europa auch mit dem Militär helfen.“ Positionen, die konträr zu denen Schuhlers stehen, der gerade gegen eine westliche Militärpolitik und einen elitären Klassendünkel eintritt.

Es fällt schwer, sonst etwas an Schuhlers Buch zu beanstanden. Schließlich wirft er die richtigen Fragen auf und gibt, gut begründet, auch überzeugende Antworten, teilweise mit geradezu programmatischem Charakter. Die „doppelte Zweiteilung der Welt in Nord und Süd sowie in Arm und Reich“ aufzuheben: das verlangt tiefgreifende Veränderungen. Ohne schwerwiegende Eingriffe in Eigentumsverhältnisse, die die Besitzenden nicht freiwillig zulassen werden, wird eine Umverteilung von Oben nach Unten nicht zu haben sein. Dass das Geld da ist, um „die Kosten der Integration aufzubringen“, rechnet Schuhler an einfachen Beispielen vor, beispielsweise: „Würden die deutschen Steuern auf Immobilien, Erbschaften und Vermögen auf den Durchschnitt aller OECD-Mitgliedsländer steigen, brächte das gut 27 Milliarden Euro im Jahr.“ Doch wie einschneidend die Veränderungen sein müssen, damit sie nicht mehr tötet, diese Wirtschaft, das wird bestenfalls die Praxis zeigen.

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Conrad Schuhler: Die Große Flucht. Ursachen, Hintergründe, Konsequenzen
PapyRossa Verlag,
131 Seiten, 12,90 Euro
ISBN 978-3-89438-601-6

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