Literatur

Märtyrerin oder Gauklerin? Ein neuer Blick auf den Fall Timoschenko

Hinweis: Die Bilder sind aus den archivierten Hintergrund-Texten vor 2022 automatisch entfernt worden.

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Von THOMAS WAGNER, 19. Oktober 2012 –

„Ist Frau Timoschenko wirklich eine bemitleidenswerte Gefangene der ukrainischen Regierung, oder ist sie eine milliardenschwere Kriminelle?“, fragte der Schriftsteller Wolfgang Bittner am 29. August an dieser Stelle. (1) Wie wichtig hierzulande das Schicksal der Politikerin genommen wird, deren privates Vermögen auf mindestens mehrere Hundert Millionen Dollar geschätzt wird, offenbarte sich spätestens bei der Fußball-EM 2012, als westeuropäische Politiker durch demonstrative Nichtteilnahme an den Spielen in der Ukraine glänzten. Eine Buchvorstellung in Berlin versprach in der vergangenen Woche in dieser Sache einige Aufklärung.

Der Zufall wollte es, dass die Veranstaltung just zu dem Zeitpunkt anberaumt worden war, als bekannt gegeben wurde, dass nicht die dafür allen Ernstes nominierte Timoschenko den Friedensnobelpreis erhält, sondern die EU, die dafür flugs das Lob vom NATO-Chef Rassmussen erntete. Doch auch im anderen Fall hätte das Ganze die Züge einer Realsatire angenommen. Denn die Vorstellung, dass es sich bei Timoschenko um eine Lichtgestalt handelt, die den sagenumwobenen amerikanischen Traum vom Aufstieg aus einfachsten Verhältnissen in die Macht- und Geldelite auf eine besonders fotogene Weise in einer ukrainischen Variante verkörpert, wird von den hiesigen Medien zu einmütig verbreitet, als dass man ihm Glauben schenken könnte. So dachte jedenfalls der Publizist und Verleger Frank Schumann und brach im Frühsommer dieses Jahres auf, um sich vor Ort ein eigenes Bild zu machen. Das Ergebnis, den Reportage-Band Die Gauklerin. Der Fall Timoschenko, präsentierte er am 12. Oktober im Berliner Haus der Bundespressekonferenz.

Ihm zur Seite stand Manfred Schünemann, der einst als Konsul in Kiew und als Botschaftssekretär in Moskau gearbeitet hatte. In Schumanns Darstellung erscheint die wegen Amtsmissbrauchs zu sieben Jahren Haft verurteilte Frau als „eine clevere Politikerin, die den meisten ihrer Kollegen in der Ukraine intellektuell überlegen ist.“ (2) Das Interesse des Westens an ihrem Fall rührt nicht zuletzt daher, dass sie „sich als Ministerpräsidentin gemeinsam mit Präsident Juschtschenko für den Beitritt der Ukraine in NATO und EU engagierte.“ (3) Da die neue Administration diesbezüglich jedoch keine Ambitionen mehr äußert und das Land nicht in eine Frontstellung gegen Russland bringen lassen wolle, brauche die EU einen Grund um von den einst gegenüber der Ukraine gemachten Versprechungen zurücktreten zu können, ohne dabei selbst das Gesicht zu verlieren.

Die Inhaftierung Timoschenkos bot dafür nicht zuletzt deshalb eine besonders gute Gelegenheit, weil der Frau ein besonderes Geschick für die PR in eigener Sache attestiert werden muss. Sie habe, so Schumann, ein „legitimes Interesse aus dem Knast herauszukommen“ und nutze dafür die gegenwärtige Situation ihres Landes im Spannungsfeld zwischen EU und Russland mit beachtlichem Erfolg. Auf den Spuren Timoschenkos sprach der Autor mit Zellengenossinnen, mit ihrer Psychologin, mit dem Gefängnispersonal, mit dem Leiter des Hospitals und vielen weiteren Personen, die unmittelbar mit ihr zu tun hatten. Ein Gespräch mit der Politikerin, die sich demnächst wegen Beihilfe zum Mord an dem Parlamentsabgeordneten Jewgeni Schtscherban und dessen Frau vor 16 Jahren noch einmal vor Gericht verantworten muss, (4) war ihm jedoch nicht gestattet worden.

Im weiteren Verlauf der Veranstaltung wies Schünemann darauf hin, dass das Verhalten der EU gegenüber der Ukraine schon deshalb unfair sei, weil der Staat im Vergleich zu anderen Ex-Sowjetrepubliken eine im westlichen Verständnis deutlich demokratischere Entwicklung genommen habe: hin zum Meinungspluralismus, zur Rechtsstaatlichkeit, Wahlen mit politischen Richtungswechseln usw. Anerkennung oder Lob dafür war von der westlichen Presse und der Politik aber ebenso wenig zu hören wie für die Organisation der reibungslos verlaufenden EM. Augenscheinlich trifft hier Unkenntnis in breiten Bevölkerungskreisen auf ein politisches Interesse am Verschweigen.

Dass das Informationsbedürfnis in Sachen Ukraine auch bei sogenannten Hauptstadtjournalisten nicht unterschätzt werden sollte, wird durch die folgende Beobachtung veranschaulicht: Just zu dem Zeitpunkt, zu dem Schumanns Verlag die Buchvorstellung anberaumt hatte, schickte sich nebenan ein deutlich prominenterer Autor an, sein jüngstes Produkt anzupreisen. Der vielen Fernsehzuschauern bekannte Ökonom Hans-Werner Sinn war gekommen, um für sein neues Buch „Die Targetfalle“ die Werbetrommel zu rühren. Eine gewichtige Konkurrenz, könnte man meinen, doch Schumanns Verlag, der Edition Ost, sollte es recht sein. Denn eine ganze Reihe von Journalisten kam vor Begriff der Veranstaltung herüber, stellte der freudig überraschten Pressefrau neugierige Fragen und nahm das eine oder andere Rezensionsexemplar gleich mit.

Im Vorfeld der Parlamentswahlen in der Ukraine hat Frank Schumann ein spannendes Buch geschrieben, das schon deshalb viele Leser verdient, weil die tendenzielle Desinformation durch die Mehrzahl der hiesigen Medien zum Himmel schreit.


Frank Schumann: Die Gauklerin. Der Fall Timoschenko. Berlin, Edition Ost 2012, 14,95 EURO


(1) http://www.hintergrund.de/201208292223/feuilleton/zeitfragen/freiheit-und-terror.html

(2) Frank Schumann: Die Gaucklerin. Edition Ost, Berlin 2012 , S. 244

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(3) ebd., S. 245f

(4) http://www.hintergrund.de/201208092190/kurzmeldungen/aktuell/mordverdacht-gegen-timoschenko-anklage-vorbereitet.html

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