Literatur

Zwischen Willkommenskultur und Abschottung

Hinweis: Die Bilder sind aus den archivierten Hintergrund-Texten vor 2022 automatisch entfernt worden.

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Der Journalist Rainer Balcerowiak hat einen lesenswerten Überblick zur gegenwärtigen Debatte um die „Flüchtlingskrise“ verfasst – 

Von PHILIPP KOEBNIK, 15. Dezember 2015 –

Rund 60 Millionen Menschen befinden sich weltweit auf der Flucht, nur die wenigsten von ihnen kommen nach Europa. Doch stieg die Zahl derjenigen, die in Europa Schutz suchen, in diesem Jahr deutlich an – die gegenwärtige Fluchtbewegung beherrscht seit Monaten die Schlagzeilen. Dem vielschichtigen Thema Flucht und Migration nach Deutschland widmet sich nun der Journalist Rainer Balcerowiak in seinem Buch Faktencheck Flüchtlingskrise. Was kommt auf Deutschland noch zu?

Zunächst wirft der Autor einen Blick in die Geschichte, denn seit Jahrhunderten gibt es Zuwanderung nach Deutschland. Als Beispiele führt Balcerowiak die französischen Hugenotten an, die seit dem späten 17. Jahrhundert Zuflucht in Preußen suchten. Nach dem Zweiten Weltkrieg kamen Millionen sogenannte Vertriebene in die beiden entstehenden deutschen Staaten. Später holte die Bundesrepublik Hunderttausende als „Gastarbeiter“ ins Land, um ihren Arbeitskräftebedarf zu decken.

In den vergangenen Jahrzehnten allerdings betrieben die EU – maßgeblich vorangetrieben durch die Bundesregierung – eine Politik der Abschottung. Die Folgen: Eine Militarisierung des Mittelmeers durch die europäische Grenzschutzagentur Frontex und die Verlagerung der Fluchtrouten auf den Balkan. Balcerowiak erklärt, aus welchen Ländern die Schutzsuchenden kommen, und analysiert ihre demografische Zusammensetzung. Des Weiteren schildert der Autor das Elend auf der sich stetig verändernden sogenannten Balkan-Route und den Unwillen einiger EU-Staaten, die Flüchtenden menschenwürdig zu behandeln.

Vor dem Hintergrund der aktuellen „Flüchtlingskrise“ hebt Balcerowiak positiv die Rolle Deutschlands und Österreichs hervor, die ihre Grenzen angesichts der Tausenden Schutzsuchenden im Spätsommer dieses Jahres zeitweilig öffneten – und somit die Dublin-Verordnung, wonach Flüchtende dort Asyl beantragen müssen, wo sie erstmals das Gebiet der EU betreten haben, faktisch außer Kraft setzten. Er macht jedoch auch klar, dass dies „keineswegs eine Kehrtwende in der Flüchtlingspolitik dieser Länder“ markiere. Vielmehr handle es sich um „eine Notmaßnahme zur Verhinderung einer humanitären Katastrophe, befördert durch Bilder wie die von dem in der Nähe von Wien Ende August aufgefundenen LKW mit über siebzig toten Flüchtlingen“. Dass es sich um keine grundsätzliche Veränderung der Konstanten deutscher Bundesregierung handle, zeige sich schon dadurch, dass die Bundesregierung im Oktober erneut das Asylrecht verschärfte – inmitten der mit wohlfeilen Worten geführten Debatte um den „Willkommensweltmeister“ Deutschland.

Ausführlich beschäftigt sich Balcerowiak mit dem Engagement der deutschen Zivilgesellschaft, die ehrenamtlich viele Aufgaben übernommen hat und weiterhin übernimmt, die eigentlich von Staats wegen organisiert und finanziert werden müssten. Zudem umreißt er die restriktive Handhabung des Asylrechts in Deutschland und versucht, die gängigen Ressentiments von in kriminellen oder „Saus und Braus“ lebenden Geflüchteten zu entkräften.

Der Autor beschreibt zudem die Mitverantwortung der Bundesrepublik für die Ursachen der Flucht. So zeichnet er nach, wie die deutsche Politik seit Beginn der 1990er Jahre an der Zerschlagung Jugoslawiens arbeitete. Heute herrsche im Kosovo eine korrupte Elite, die Lebensbedingungen der Menschen seien desaströs und einzelne Volksgruppe wie Sinti und Roma werden strukturell diskriminiert. Dazu kommen deutschen Rüstungsexporte und die Agrarpolitik der EU, die mit dem Export subventionierter landwirtschaftlicher Produkte die afrikanischen Märkte zerstört und Hunderttausenden Kleinbauern die Lebensgrundlage entzieht.

Das „Chaos“ angesichts Hunderttausender, die innerhalb weniger Monate in der Bundesrepublik Zuflucht suchten, habe Teile der Bevölkerung verunsichert. Die Kommunen seien vielfach überfordert. Um der „Flüchtlingskrise“ Herr zu werden, fordert der Autor eine „gerechte Verteilung“ der Schutzsuchenden innerhalb der EU. Die Forderung nach generell offenen Grenzen laufe hingegen ins Leere, es müssten auch Menschen abgeschoben werden. Damit die Integration der Neuankömmlinge gelingt, sollte die Politik die nötigen Mittel bereitstellen. Denn Sprachkurse, Kitas und mehr Lehrer – kurz: Integration – kostet „sehr viel Geld“. Der Zugang zum Arbeitsmarkt sollte für Geflüchtete erleichtert und der soziale Wohnungsbau massiv gestärkt werden. Die „Lösung der Wohnungsfrage“ ist nach Auffassung des Autors von zentraler Bedeutung für die gesellschaftliche Akzeptanz der Zuwanderung. Die Deutschen müssten aber auch zur Veränderung bereit sein. Es gelte, eine wirkliche Willkommenskultur zu entwickeln, indem „wir“ die Chancen von Zuwanderung ins Auge fassen. Aber auch den Geflüchteten verlangt Balcerowiak etwas ab: Bleiben könne nur, wer „elementare Grundwerte westlicher Gesellschaften“ anerkenne.

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Das Buch ist sehr informativ und flüssig geschrieben, eignet sich mithin gut als Einstieg in das Thema. Nicht nachvollziehbar ist allerdings, weshalb sich der Autor ein Argumentationsmuster neoliberaler Ideologen zu eigen macht, wonach Deutschland wegen des demografischen Wandels auf die Zuwanderung von Fachkräften angewiesen sei. Obwohl er sich an anderer Stelle dagegen verwahrt, redet Balcerowiak dieser Einteilung der Geflüchteten nach Nützlichkeits-Kriterien das Wort, wenn er beispielsweise schreibt, dass jeder Zuwanderer rein statistisch „im Laufe seines Erwerbslebens wesentlich mehr in die Sozialkassen ein[zahlt], als er an Leistungen erhält“ oder wenn er lobend berichtet, dass der CDU-Bürgermeister von Goslar „gut ausgebildete Flüchtlinge – auch solche aus den Westbalkanstaaten – aus dem Asylverfahren“ herausnehmen und ihnen eine Bleibeperspektive ermöglichen möchte.

#Balcerowiak, Rainer, Faktencheck Flüchtlingskrise. Was kommt auf Deutschland noch zu?, Edition Berolina, Berlin 2015

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