Faschismus- Inflation
Was ist überhaupt Faschismus? Welche gesellschaftlichen Konstellationen bringen ihn hervor? Und wie unterscheidet er sich von anderen Formen bürgerlicher Herrschaft?

Im Januar 2025 erklärte der CDU-Vorsitzende Friedrich Merz mit Blick auf die Partei Alternative für Deutschland (AfD): „Einmal 33 reicht für Deutschland.“ So sehen es auch Sozialdemokraten, Grüne und Linke: Mit der AfD drohe die Zerstörung der Demokratie, heißt es dort. Und für die Antifa steht eh der Faschismus vor der Tür. Auch international hat der Begriff Faschismus gegenwärtig Konjunktur. Donald Trump sei ein Faschist, so sagen es Sozialisten und Kommunisten in den USA. In Europa ist es Giorgia Meloni, die so betitelt wird, bereits Silvio Berlusconi war für viele ein Faschist. Wir haben es mit einer wahren Faschismus-Inflation zu tun, zumindest was den Begriff angeht.
Doch was ist überhaupt Faschismus? Welche gesellschaftlichen Konstellationen bringen ihn hervor? Und wie unterscheidet er sich von anderen Formen bürgerlicher Herrschaft? Zur Beantwortung dieser Fragen ist es notwendig, in das 19. Jahrhundert zurückzugehen und sich zunächst mit dem engen Verwandten des Faschismus, dem Bonapartismus zu beschäftigen. Dabei soll marxistisches Denken Richtschnur der Erkenntnis sein.
Die Herrschaft des Louis-Napoléon Bonaparte
Das allgemeine Wahlrecht konnte in Frankreich nach dem bonapartistischen Putsch vom 2. Dezember 1851 überleben, da Louis-Napoléon die Welt der öffentlichen Meinung beherrschte. Sie war nach ihm „die Königin des Universums“. Der italienische Philosoph Domenico Losurdo schreibt:
Das Programm, das vom Staatsstreichpräsidenten verkündet wird, ist klar: Es handelt sich darum, ein politisches Regime zu errichten, das stark sein muss, dank der Tatsache, dass es populär ist. 2
Aber was ist, fragt Losurdo, für Louis-Napoléon
das Volk, dessen Unterstützung er gewinnen will? Sicher nicht jenes, das in Parteien oder Gewerkschaften autonom organisiert ist. Louis-Napoléon stellt sich nicht dar als [hier zitiert Losurdo aus den Schriften Louis-Napoléon – Anm. d. A.] „Vertreter einer Partei“, sondern als Interpret der Nation und ihrer besten Traditionen, als der, der „im Interesse der Massen und nicht im Interesse einer Partei zu regieren“ beabsichtigt. 3
Als Kaiser Napoleon III. herrschte Louis-Napoléon bis zum 2. September 1870, bis zur Niederlage Frankreichs im Krieg mit Preußen und den mit ihm verbündeten deutschen Ländern. Er selbst geriet dabei in Kriegsgefangenschaft, eine Schmach ohnegleichen. Seine Herrschaft blieb eine Lehre, die bis heute als „Bonapartismus“, als eine Form bürgerlicher Herrschaft, bezeichnet wird. Und so haben die unterschiedlichsten marxistischen Theoretiker historische Phasen mal offener, mal verdeckter Diktatur anhand des im 19. Jahrhundert in Frankreich entstandenen politischen Modells des Bonapartismus analysiert.
Marxistische Faschismus-Analysen
Verwiesen sei hier auf den deutschen Kommunisten August Thalheimer, der 1930 in seiner Schrift „Über den Faschismus“ die Marxsche Analyse des Aufstiegs Napoleons III. zur Grundlage seiner Studien nahm. Thalheimer schrieb:
Der beste Ausgangspunkt für die Untersuchung des Faschismus scheint mir die Marxsche und Engelssche Analyse des Bonapartismus (Louis Bonaparte) zu sein. Wohlverstanden, ich setze nicht Faschismus und Bonapartismus gleich. Aber es sind verwandte Erscheinungen mit sowohl gemeinsamen als auch mit abweichenden Zügen, die beide herauszuarbeiten sind. 4
Auch Leo Trotzki griff in einer Schrift vom September 1932 bei der Analyse der Endphase der Weimarer Republik auf jene Form bürgerlicher Herrschaft zurück, die man als Bonapartismus bezeichnet:
Wir haben seinerzeit die Brüningregierung als Bonapartismus („Karikatur auf den Bonapartismus“) bezeichnet, d. h. als ein Regime militärisch-polizeilicher Diktatur. Sobald der Kampf zweier sozialer Lager – der Besitzenden und Besitzlosen, der Ausbeuter und Ausgebeuteten – höchste Spannung erreicht, sind die Bedingungen für die Herrschaft von Bürokratie, Polizei, Soldateska gegeben. Die Regierung wird „unabhängig“ von der Gesellschaft. 5
Bereits 1923 hatte Clara Zetkin über die Machtkonstellation gesprochen, die den italienischen Faschismus möglich gemacht hatte:
Die Bourgeoisie kann die Sicherheit ihrer Klassenherrschaft nicht mehr von den regulären Machtmitteln ihres Staates allein erwarten. Sie braucht dafür eine außerlegale, außerstaatliche Machtorganisation. Eine solche wird ihr gestellt durch den bunt zusammengewürfelten Gewalthaufen des Faschismus. Deshalb nimmt die Bourgeoisie nicht nur mit Kusshand die Dienste des Faschismus an und gewährt ihm weiteste Bewegungsfreiheit im Gegensatz zu all ihren geschriebenen und ungeschriebenen Gesetzen. Sie geht weiter, sie nährt und erhält ihn und fördert seine Entwicklung mit allen ihr zu Gebote stehenden Mitteln des Geldschranks und der politischen Macht. 6
Die Faschismus-Analysen Thalheimers, Trotzkis und Zetkins sind noch heute richtungsweisend, gehen sie doch von der Differenz zwischen politischer und sozialer Herrschaft der bürgerlichen Klasse aus. Sie sind daher jener Faschismus-Definition überlegen, wie sie in der Kommunistischen Internationale ausgegeben und in der Formel von Georgi Dimitroff zusammengefasst wurde, wonach
der Faschismus an der Macht […] die offene terroristische Diktatur der reaktionärsten, am meisten chauvinistischen, am meisten imperialistischen Elemente des Finanzkapitals [ist] 7.
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ANDREAS WEHR, Jahrgang 1954. Nach zweitem juristischen Staatsexamen Tätigkeit als Anwalt in einem Steuerbüro. Danach Arbeit für die SPD-Politiker Heide Pfarr und Walter Momper. Dienststellenleiter Berlin des Europabeauftragten des Berliner Senats. Wissenschaftlicher Mitarbeiter der Fraktion GUE/NGL im EU-Parlament. Mitgründer des Marx-Engels-Zentrums Berlin.
1 „Moment der Wahrheit“, in: Frankfurter Allgemeine
2 Domenico Losurdo, Demokratie oder Bonapartismus.
2008, S. 70
3 Domenico Losurdo, Demokratie oder Bonapartismus.
der Länder a. a. O., S. S. 71
4 August Thalheimer, „Über den Faschismus“, in: Faschismus und Kapitalismus. Theorien über die sozialen
Ursprünge und die Funktion des Faschismus, hrsg. von Wolfgang Abendroth, Frankfurt a. M. 1972, S. 19–39 und
unter: https://www.marxists.org/deutsch/archiv/thalheimer/1928/xx/fasch.htm
5 Leo Trotzki, „Der einzige Weg“, in: Wie wird der Nationalsozialismus geschlagen? Auswahl aus „Schriften über
Deutschland“, Frankfurt a. M. 1971, S. 203–267. Auszugsweise auch unter: https://www.marxists.org/deutsch/
archiv/trotzki/1932/09/01-bonfasch.htm
6 Clara Zetkin, „Der Kampf gegen den Faschismus“, Bericht auf dem Erweiterten Plenum des Exekutivkomitees
der Kommunistischen Internationale am 20. Juni 1923, in: Clara Zetkin, Ausgewählte Reden und Schriften, Band
II, S. 689 ff, erneut abgedruckt in: Beilage Marxistische Blätter 2, 2023, Essen, S. 5
7 Georgi Dimitroff, „Die Offensive des Faschismus und die Aufgaben der Kommunistischen Internationale“, in:
Pieck, Dimitroff, Togliatti, Die Offensive des Faschismus und die Aufgaben der Kommunisten im Kampf für die
Volksfront gegen Krieg und Faschismus, Berlin (DDR) 1960, S. 85