Zeitfragen

Ultras

Hinweis: Die Bilder sind aus den archivierten Hintergrund-Texten vor 2022 automatisch entfernt worden.

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Fußballfans zwischen Kommerz, Überwachung und Repression – 

Von JONAS GABLER, 17. September 2013 –

Für viele Menschen ist Fußball ein belangloses Spiel, bei dem zweimal elf Menschen einem Ball hinterherrennen, um ihn durch das gegnerische Tor zu treten. Für sie mag es umso absurder erscheinen, dass sich allwöchentlich Hunderttausende auf den Weg begeben, um dieses Gerenne auch noch live im Stadion zu verfolgen. Einige Zehntausend fahren sogar jede Woche quer durch das ganze Land, investieren viel Geld und Zeit, weil sie um jeden Preis alle Spiele ihrer Mannschaft sehen wollen. Unter Fußballfans nennt man diese Spezies „Allesfahrer“ und der größte Teil dieser Gruppe rechnet sich heute den „Ultras“ oder zumindest deren Umfeld zu.

Fußballfans gibt es schon lange. Auch Fans, die regelmäßig zu den Auswärtsspielen fahren, gibt es mindestens seit den 1960er und 70er Jahren. Früher nannte man sie „Kutten“, die gewalttätigeren bezeichnete man als Hooligans. Ultras stehen in vielen Punkten in der Tradition dieser Fußballfankultur, unterscheiden sich von ihren Vorgängern aber im Wesentlichen dadurch, dass sie teilweise neue Ausdrucks- und Organisationsformen etabliert haben.

In Italien kennt man das Phänomen Ultras seit dem Ende der 1960er Jahre, als junge Fußballbegeisterte die Ausdrucks- und Organisationsformen der damaligen politischen Proteste von der Straße indie Stadien trugen. In Deutschland begannen seit den 1990er Jahren Fans – mit der Stimmung in ihrer Kurve unzufrieden – die Ausdrucksformen der italienischen Vorbilder zu kopieren. Der deutlichste Unterschied zu der zuvor dominierenden Fankultur der „Kuttenfans“ ist der Anspruch der „Choreographierung“ der Unterstützung: Ultras wünschen sich eine möglichst große Beteiligung am Support, wollen ein möglichst lautes, geschlossenes Auftreten der eigenen Fankurve. Gleiches gilt für den optischen Auftritt: etwa beim Hüpfen, bei Armbewegungen beim Einsatz von Fahnen. Besonders deutlich wird dieser Anspruch bei den Kurvenbildern, die sie passenderweise „Choreografien“ nennen.

Um dies umsetzen zu können, bedarf es vieler Menschen, die viel Zeit und Geld investieren. Dementsprechend zählen Ultra-Gruppen im Schnitt mehr Mitglieder als Fanclubs in der Vergangenheit. Fan- und Ultra-Zusammenhänge eines Vereins organisieren sich in Dachverbänden – allgemein spielen Organisation, Strukturen und Kommunikation eine große Rolle. So verfügen Ultra-Gruppen heute häufig über eigene Räumlichkeiten (die sie selbst finanzieren und verwalten) und eigene Medien sowie geeignete Kommunikationsmittel. Das können wie früher schon Printmedien (z.B. sogenannte Kurvenflyer oder auch Fanzines) sein, für die Organisation und Mobilisierung dürften jedoch E-Mail, Internet und Handys in den vergangenen zehn Jahren einen entscheidenden qualitativen Fortschritt gebracht haben.

Stadien als Eventbühnen

Zeitlich fällt die Entstehung und Verbreitung von Ultra-Gruppen in ganz Deutschland – ob zufällig oder nicht – mit einem Wandel des Profifußballs zusammen, der gemeinhin als Kommerzialisierung bezeichnet wird. Da diese tatsächlich spätestens mit der Professionalisierung des Fußballs vor fünfzig Jahren (Gründung der Bundesliga) begann, wäre es eigentlich treffender, von einer Beschleunigung der Kommerzialisierung zu sprechen, die durch den Einstieg des Privat- und Pay-TV in die Berichterstattung sowie die Einführung der Champions League in den vergangenen zwanzig Jahren einen enormen qualitativen Sprung machte. Begleitet wurde diese Entwicklung von einer  ging verstärkten „Eventisierung“ des Fußballsportes, in die sich die Inszenierungen der Fankurve – ihre Choreografierung – seither wunderbar einfügt. Ultras erscheinen vor diesem Hintergrund wie die logische Antwort der Fankultur auf die Ansprüche des „modernen (kommerzialisierten) Fußballs“. Diese Antwort ist aber ambivalent, denn der Wandel des Profifußballs bedeutet in vielen Punkten auch einen Bruch mit einem nach wie vor gepflegten Idealbild eines Fußballs, der weniger Geschäft denn Sport ist und darüber hinaus auch Möglichkeiten der Identifikation – etwa mit einer Stadt und Region oder auch mit den Spielern – bietet.

In der Realität aber ist der Fußball heute einer der bedeutendsten Arme der Unterhaltungsindustrie. Allein die Vereine der zwei Männer-Profiligen setzen jedes Jahr mehr als zwei Milliarden Euro um. Fußballspieler, allen voran die der deutschen Nationalmannschaft, gehören zu den wichtigsten und damit auch teuersten Werbebotschaftern. Die Berichterstattung über Fußball allgemein und die Live-Übertragungen im Besonderen sind für viele Medien nahezu unverzichtbare Inhalte. Kurz: Der (Männer-Profi-)Fußball ist heute in allererster Linie ein Geschäft, was die Identifikation von Fans mit ihrem Bezugsverein nicht unbedingt erleichtert. Bei vielen – vor allem sportlich weniger erfolgreichen – „Vereinen“ wird ein Fan, der seit zehn Jahren die Spiele seiner Mannschaft besucht, feststellen, dass kein Spieler, kein Trainer und vielleicht sogar noch nicht einmal der Geschäftsführer so lange „durchgehalten“ hat wie er. Die Tendenz zur Selbstinszenierung, die den Ultras immer wieder – und manchmal nicht ganz zu Unrecht – nachgesagt wird, muss vor diesem Hintergrund gesehen werden.

„Datei Gewalttäter Sport“

Dazu kommt, dass auch heute Ultras sich in der Tradition einer teils unangepassten, mithin rebellischen, Fankultur sehen, für die der Reiz eines Fußballspiels auch die Möglichkeit des Auslebens positiver wie negativer Emotionen ausmacht. Viele Stadiongänger – und nicht nur Ultras bzw. Jüngere – empfinden die Spielbesuche, in erster Linie Auswärtsfahrten, als einen Ausbruch aus einem durch Arbeit, Ausbildung, Schule oder Universität, in jedem Fall aber durch Routine fremdbestimmten Alltag. Der Spielbesuch wird so als Freiheitserfahrung wahrgenommen.

Aber auch das klingt absurd angesichts der Realität der Überwachung und Sanktionen, die drohen, wenn jemand durch abweichendes Verhalten auffällig wird: Die modernen Fußballstadien sind heute schon fast flächendeckend mit Videokameras ausgestattet. Die Polizei darf an Spieltagen im Umfeld der Stadien, anders als bei Demonstrationen, zu jeder Zeit den öffentlichen Raum filmen. Hauptaufgaben der kasernierten Bereitschaftspolizei sind heute neben der Begleitung von Demonstrationen und Großereignissen hauptsächlich die allwöchentlichen Fußballeinsätze: In der Saison 2011/12 summierten sich die Einsatzstunden der Polizei allein in den ersten zwei Ligen auf insgesamt nahezu 1,9 Millionen. Das ist rein statistisch gesehen eine Polizeieinsatzstunde auf zehn Stadionbesucher. Ein etwas irreführender statistischer Wert, denn die Einsätze beginnen natürlich viele Stunden vor Spielbeginn und enden lange nach dem Schlusspfiff. Etwa bei sehr langwierigen Begleitungen von Fußballfans auf ihren Auswärtsfahrten.

Auch geringfügige Anlässe reichen dann unter Umständen aus, dass ganze Gruppen von Fußballfans festgesetzt und erkennungsdienstlich behandelt werden. Dies geht häufig mit der Aufnahme der Daten in die „Datei Gewalttäter Sport“ einher. Dass Fans sich beim Betreten eines Fußballstadions unter gegebenen Umständen (Einstufung als Risikospiel) entkleiden müssen, wurde von Gerichten als verhältnismäßig eingestuft.

Erstattet die Polizei eine Anzeige, muss ein bundesweites Stadionverbot verhängt werden, das mittels Hausrechts und gegenseitiger Ermächtigung und Bevollmächtigung der Vereine in allen Stadien wirksam wird. Damit einher geht die Weitergabe personenbezogener Daten des Betroffenen zwischen Polizeibehörde, dem DFB und den jeweiligen Vereinen. Fußballfans mit Stadionverboten erhalten vor allem bei sogenannten Risikospielen darüber hinaus gegebenenfalls noch Reise- bzw. Aufenthaltsverbote für das Stadionumfeld sowie Bereiche in den Innenstädten der Spielorte. Kurzum: In und um Fußballstadien kommt eine ganze Reihe Sanktionen bzw. Präventivmaßnahmen zur Anwendung, die über die ohnehin bestehenden strafrechtlichen Möglichkeiten der Sanktion weit hinausgehen.

Organisierter Protest

Der Profifußball stellt sich so als ein Musterbeispiel der Kommerzialisierung dar; zudem kommen hier Methoden der Überwachung und Sanktionierung zur Anwendung, die in kaum einem anderen Freizeitbereich akzeptiert werden würden. Und doch existieren mit den Ultras Gruppierungen beim Fußball, die sich den „Kampf“ gegen genau diese Trends auf die Fahnen geschrieben haben. Es erscheint auf den ersten Blick absurd, dass sich gerade in den oberen beiden Ligen – also bei den besonders erfolgreichen „Unterhaltungsunternehmen“ – und insbesondere dort, wo die Überwachung und Sanktionierung am konsequentesten umgesetzt wird, die zahlenmäßig stärksten Ultra-Gruppierungen bilden, denen es ja nach ihrem Selbstverständnis um „Freiheitserfahrungen“ und Kritik an überbordender Kommerzialisierung geht. Warum gehen diese Menschen weiter dorthin, wenn sie doch frei in der Entscheidung sind, wo und womit sie ihre Freizeit verbringen?

Für die Menschen, die sich den Ultras anschließen, stellt sich diese Frage nicht. Für sie steht eben  die Identifikation mit dem „Verein“ an erster Stelle. Genauer gesagt, die Identifikation mit jenen Aspekten des Vereins, mit denen sie sich identifizieren können. Das sind weniger die Spieler oder die handelnden Personen als vielmehr Symbole wie das Wappen, die Farben, der Stadionname – allesamt Dinge, auf deren Erhalt die Ultra-Gruppen großen Wert legen. Einige Fans früherer Generationen mögen sich mit einer solchen „symbolischen Identifikation“ weniger zufriedengegeben haben: Diese Fans haben sich auf lange Sicht von ihrem Verein entfremdet, die Identifikation verloren und ihrer Mannschaft schließlich vielleicht den Rücken gekehrt, also, soziologisch gesprochen, die Option „exit“ gewählt. Das Fanmodell Ultra hingegen steht für die Option „voice“, also dafür, die Stimme für die eigenen Interessen zu erheben. Der Erfolg dieses Fanmodells in Zeiten der beschleunigten Kommerzialisierung ist demnach nicht nur – wie oben dargestellt – vor dem Hintergrund der Eventisierung des Fußballs zu sehen: Der Anspruch der Ultras auf Gehör stellt für Fans der gegenwärtigen Generation eine Möglichkeit dar, die zunehmende Entfremdung von den Vereinen, die sich mehr und mehr zu Unterhaltungsunternehmen wandeln, zu kompensieren.

Für diesen Anspruch, gehört zu werden, spielen die neuen Möglichkeiten der Kommunikation eine ebenso wichtige Rolle wie die zunehmende landesweite Vernetzung in fanszenenübergreifenden Zusammenschlüssen wie „BAFF“, „Pro Fans“ oder zuletzt „12:12 – Ohne Stimme keine Stimmung“. Die letztgenannte Initiative richtete sich gegen eine Reihe von Anträgen zur Verbesserung der Stadionsicherheit, die die Deutsche Fußball Liga (DFL) am 12. Dezember des vergangenen Jahres – letztlich auf Druck der Innenminister – verabschieden wollte. Für drei Spieltage lang riefen die an der Initiative beteiligten Ultra- und Fangruppen dazu auf, zu Beginn des Spiels für zwölf Minuten und zwölf Sekunden zu schweigen. Man wollte so dokumentieren, dass die aktiven Fans in den Stadien die öffentliche Debatte um „Fangewalt“ als überzogen empfanden, sie weitere Sicherheitsmaßnahmen nicht für notwendig hielten und man im Gegenteil der Überzeugung war, dass die teilweise damit einhergehenden Einschränkungen einer lebendigen Fankultur nur schaden. Zum allergrößten Teil solidarisierten sich die übrigen Fans in den Stadien mit der Initiative und realisierten so die größte „Boykott“-Aktion in der Geschichte der Fußballfankultur in Deutschland.

Ohnehin fanden und finden Ultra-Gruppen immer mehr Gefallen an Kampagnen, wie beispielsweise für niedrigere Ticketpreise („Kein Zwanni für nen Steher“), für die Möglichkeit des legalen Abbrennens von Pyrotechnik („Pyrotechnik legalisieren – Emotionen respektieren“), für die Kennzeichnungspflicht bei Polizisten (Unterstützung der dementsprechenden Kampagne von Amnesty International) oder gegen die Kooperation mit der Online-Ticketbörse „Viagogo“, die auf einem Art „Grau-Markt“ zu erheblich teureren Preisen Tickets anbietet („ViaNOgo“).

Mit den Ultras hat sich also eine Art „mündige Fankultur“ entwickelt, die einen Anspruch auf Mitwirkung und Mitbestimmung formuliert. Teilweise, etwa bei der Polizei, aber auch bei einigen Vereinen und Verbandsvertretern, wird dies mit Argwohn gesehen, da man fürchtet, Fangruppen könnten zu viel Einfluss, ja sogar Macht über einzelne Vereine gewinnen. Auch wenn immer wieder das abschreckende Beispiel von „italienischen Verhältnissen“ bemüht wird, um zu suggerieren, es ginge um Formen der Erpressung, muss doch festgehalten werden, dass Versuche der Einflussnahme bisher offensichtlich in der überwältigenden Mehrheit der Fälle auf rein demokratische Art und Weise unternommen werden: wie durch öffentlichen Protest bzw. über die Mitgliederversammlungen der Vereine, die laut den Statuten des DFB nach der sogenannten 50+1-Regel – bis auf wenige Ausnahmen – die Stimmenmehrheit über die ausgegliederten Kapital- bzw. Aktiengesellschaften haben müssen.

Demokratische Teilhabe

Es stellt sich aber durchaus die Frage, wie Fans in Zukunft damit umgehen werden, wenn diese Versuche der demokratischen Mitwirkung ignoriert (oder durch die Aufweichung der 50+1-Regelung unmöglich) werden. Wie würde dieser neuerliche Identifikationsverlust kompensiert werden? Solange Fans das Gefühl haben, dass sie auf demokratischem Wege noch etwas erreichen können, haben sie überhaupt keine Veranlassung, zu erpresserischen Mitteln zu greifen, die gemeint sind, wenn von „italienischen Verhältnissen“ gesprochen wird. Genau diese Möglichkeiten der demokratischen Teilhabe sind im italienischen Profifußball, der keine Vereinsstrukturen kennt, nämlich überhaupt nicht vorgesehen. Es stellt sich also vordringlich die Frage, wie im deutschen Profifußball zukünftig mit Fans umgegangen wird, die die Option „voice“ wählen und die gelernt haben, ihre Stimme zu erheben. Wird ihnen die Möglichkeit gegeben, auf demokratische Weise an ihrem Verein teilzuhaben?

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Genauso stellt sich die Frage, welche Antworten die Innenminister in Zukunft auf gelegentlich abweichendes und in deutlich selteneren Fällen delinquentes Verhalten von (überwiegend jugendlichen) Fußballfans haben. In den vergangenen dreißig Jahren war die Antwort meist die Erhöhung der Einsatzstunden der Polizei. Wird es diesbezüglich Innovationen geben? Es gäbe da eine verwegene Idee: Nachdem vor zwanzig Jahren im Rahmen des Nationalen Konzeptes Sport und Sicherheit (NKSS) ein einheitliches Modell für sozialpädagogische Fanprojekte eingeführt wurde, könnte man damit beginnen, diese gemäß den dort vereinbarten Vorgaben zu finanzieren: So gut wie keines der aktuell gut fünfzig Projekte bekommt die jährliche Summe, die im NKSS vorgesehen ist: rund 100 000 Euro staatliche Fördersumme jährlich pro Standort (DFB bzw. DFL steuern noch einmal die gleiche Summe bei) – das ist in etwa ein Drittel von dem, was zum Beispiel allein der Polizeieinsatz beim Landespokalspiel am 23. März zwischen dem SV Waldhof Mannheim und dem Karlsruher SC gekostet hat.

#zuerst veröffentlicht in: Hintergrund 3/2013

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