Über den wertschöpfenden Charakter der Arbeit

Wann wird Arbeit wieder unsere beste Freundin?

Sind all jene, die arbeiten müssen, arm dran? Oder ist Arbeit nicht vielmehr etwas, das dem Menschen Würde verleiht und Freude am Leben gibt? „Links“ verbrämtes Mitleid mit denen, die unser Gemeinwesen an dessen Basis funktionieren lassen, ist Teil eines Problems geworden. In seinem Essay beschreibt unser Autor die Situation und zeigt Auswege auf.

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Wie kommen wir auf die abwegige Idee, dass Arbeit in irgendeinem Gegensatz zum Leben steht und damit in irgendeine Balance gebracht werden müsse?
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„Im Schweiße deines Angesichts wirst du dein Brot essen.“

Genesis 1,19

„Die Arbeit ist die Quelle alles Reichtums,
sagen die politischen Ökonomen.

Aber sie ist noch unendlich mehr als dies.
Sie ist die erste Grundbedingung alles menschlichen Lebens,
und zwar in einem solchen Grade,
dass wir in gewissem Sinne sagen müssen:
Sie hat den Menschen selbst geschaffen.“

Friedrich Engels,
Anteil der Arbeit an der Menschwerdung des Affen

„Die Arbeit ist die beste Freundin des Menschen.“

Berta Klopprogge, Erinnerungen 1890-1971

Von einer hohen Sockelarbeitslosigkeit in das Gegenteil – einen Fachkräftemangel, der mehr und mehr das Leistungsgeflecht unserer Wirtschaft und Gesellschaft bedroht. „Wo sind die nur alle hin?“ fragte der Spiegel im Juli 2022 und die Lage hat sich seitdem weiter verschärft.

Schon in der Corona-Zeit wurde unser gewohntes System der Arbeit durcheinandergewirbelt. Angeblich fand alles im Homeoffice statt, aber arbeiteten im Lockdown wirklich alle von zu Hause? Es ist die Rede von neuen virtuellen Arbeitswelten, in denen man zu beliebigen Zeiten und von beliebigen Orten aus arbeiten kann – eine Art Metaversum der Arbeit. Der Generation „New Work“ soll es besonders um die sogenannte „Work-Life-Balance“ und um Sinnstiftung gehen. Pädagogische Konzepte versprechen ein Lernen ohne Anstrengung. Oder wird Künstliche Intelligenz menschliche Arbeit ohnehin zu einem Konzept von gestern machen? Eine aktuelle Studie zeigt, wie die Erwähnung von Begriffen, die mit „Arbeiter“ im weiteren Sinne zu tun haben, sowohl im Bundestag als in verbreiteten Medien von 1949 bis 2019 auf ein Minimum zurückgegangen ist.[1] Für die Stahlindustrie fordert die IG Metall den Einstieg in die Viertage-Woche mit 32 Stunden. Gleichzeitig nehmen wir uns gewaltige Vorhaben wie den ökologischen Umbau der Wirtschaft vor. Und eigentlich verlangt die demographische Entwicklung, dass wir mehr und länger arbeiten. Ist Zukunft wirklich nur eine Frage der Haltung, wie neuerdings der Werbeslogan eines Autoherstellers lautet? Es ist an der Zeit, aus verschiedenen Perspektiven auf die Arbeit und ihre Bedeutung für uns Menschen zu schauen.

Wirtschaft ohne Menschen: Wer nimmt wessen Arbeit?

„Wir geben ihnen Arbeit und sie wollen auch noch Geld!“ So ungefähr lautete die Einstellung eines kleinen Unternehmers in meiner Verwandtschaft. Die Begriffe „Arbeitnehmer“ und „Arbeitgeber“ spiegeln ganz offiziell diese Haltung wider. Nicht etwa der Mitarbeiter gibt seine Arbeit für den Erfolg des Unternehmers, sondern der Unternehmer gibt ihm Arbeit – sozusagen, um ihn von der Straße zu holen.[2] Das alles ist nicht nur vulgäres Geschwätz, sondern wenn man in die Geschichte der Ökonomie schaut, dann ist dort kein angemessener Platz für die wertschöpfende Kraft der Arbeit. In der Lehre der Produktionsfaktoren stehen Boden, Kapital und Arbeit nebeneinander, als hätten sie gleiches Recht. Schon Karl Marx spottete über die Produktionsfaktoren: „Sie verhalten sich gegenseitig etwa wie Notariatsgebühren, rote Rüben und Musik.“[3] Er verwies unter anderem darauf, dass Kapital nichts anderes als kristallisierte Arbeit ist. Schaut man bei Wikipedia nach, dann entsteht der Zinsertrag durch die Knappheit des Kapitals – Menschen, die knapp bei Kasse sind, können diese wunderbare Vermehrung vermutlich nicht bestätigen.

Schon vor über hundert Jahren warf Joseph Schumpeter der Volkswirtschaftslehre vor, in ihren statischen Modellen habe niemand eine andere Funktion als die der Kombination von Produktionsfaktoren und diese Funktion setzte sich „gleichsam mechanisch, gleichsam von selbst durch, ohne eines persönlichen Momentes zu bedürfen, das von dem der Beaufsichtigung und dergleichen verschieden wäre“.[4] In seinem Gegenmodell dachte Schumpeter gewiss weniger an die angestellten Arbeiter oder Ingenieure, nicht einmal an die angestellten Manager, sondern nur an den Pionierunternehmer. Aber immerhin hielt so ein leibhaftiger gestalterischer Mensch Einzug in die Ökonomie. Allerdings blieb dies trotz der allgegenwärtigen Schumpeter-Zitate ohne Auswirkungen auf das Fach. Dort erscheinen Unternehmer nach wie vor als anonyme Vollstrecker von ökonomischen Gesetzen und Anreizen, von Marktbedürfnissen, Trends oder Kapitalmarkterwartungen.

In den gängigen Bilanzierungsregeln erscheint menschliche Arbeit nur als Kostenfaktor – seltsam, dass man diesen Kostenfaktor trotzdem immer wieder einstellt. In den gängigen Werkzeugen des Berichtswesens kommen die Arbeit als Wertschöpfungsfaktor und die Menschen, die diese Wertschöpfung vollbringen, nicht in derselben Weise vor wie andere Elemente. Aus jahrelanger Mitarbeit an einer Initiative, die schließlich zu einer weltweit anerkannten Norm führte, weiß ich aus eigener Erfahrung, wie mühsam es war und immer noch ist, nur eine schlichte Liste von mitarbeiterbezogenen Berichtsgrößen mit weltweit anerkannten Definitionen zu verankern.[5] Auch die wohlwollenden Bemühungen, menschliche Arbeit irgendwie in den sogenannten „Intangibles“ unterzubringen, führen in eine absurde Geisterwelt: Maschinen, Gebäude, Produkte und auch ein geistiges Konstrukt wie Kapital gelten als anfassbar, aber nicht die Menschen, die all das mit ihrer Arbeit geschaffen haben. Und die gefeierte Verhaltensökonomie sieht das Subjektive letztlich nur als Störung des Objektiven, während die Tatsache, dass Subjekte durch ihre Arbeit neue Objekte schaffen, unterbelichtet bleibt.

Obwohl solche Befunde ebenso wenig neu sind wie die Klagen darüber, könnte man alles damit abtun, dass die Ökonomie eben die Wissenschaft des Kapitals ist und die ganzen Berichtsinstrumente eben die Handwerkzeuge ihrer Vollstrecker sind. Eine solche Einschätzung geht zwar meines Erachtens an der Sache vorbei, aber für den Augenblick lassen wir es so stehen.

Arbeit als Mitleidsthema? Die linke Sicht

Schauen wir also zu denen, die sich als natürliche Anwälte der Arbeiter fühlen oder fühlen müssten. Kürzlich kritisierte die Politikwissenschaftlerin Ulrike Guérot zu Recht die wenig diverse Zusammensetzung des Parlaments und betonte, dass es bei der mangelnden Diversität nicht nur um Frauen oder Transgender gehen dürfe, sondern vor allem um andere soziale Perspektiven. Dann brachte sie als Beispiel nicht vertretener Gruppen in einem Atemzug das untere Fünftel, das nicht studiert hat, den Harz-4-Empfänger und die Lidl-Verkäuferin.[6] Gestolpert bin ich bei dieser Paarung nicht nur über den etwas abgegriffenen Sozialkitsch im Stile der berühmt-berüchtigten „Schlecker-Frauen“, denen man üblicherweise die Pflegekraft und den Streifenpolizisten hinzufügt. Mir fiel vielmehr auf, dass jemand, der Arbeit hat und Steuern und Sozialbeiträge zahlt, in einem Atemzug genannt wird mit einer anderen Gruppe, die nicht arbeitet und von den Steuern und Sozialbeiträgen anderer lebt. Auch in den Verlautbarungen und Forderungen der Linkspartei ist gebetsmühlenartig von „Geringverdienern“ die Rede. Was verbindet die beiden Gruppen? Doch nur, dass sie irgendwie „arm dran“, im „unteren Fünftel“ oder „unterprivilegiert“ sind oder wie auch immer die entsprechenden Wort-Ungetüme lauten.

In meiner Studentenzeit erzählte mir eine befreundete Lehrerin für Geistigbehinderte, dass, wenn in irgendeiner Kneipe oder Disco die übliche Kontaktfrage „Was machst du?“ kam und sie ihren Beruf nannte, fast stereotyp der halb respektvolle, halb mitleidige Ausruf folgte: „Oh, das ist sicher sehr schwierig.“ Und genauso wie Pflegekräfte, die ständig bemitleidet werden, ärgerte sie sich zunehmend über diese Reaktion. Erstens war die Tätigkeit nicht schwieriger als jede andere ernsthafte Arbeit. Vor allem muss man für Schwierigkeiten nicht bemitleidet werden, sondern genau aus ihnen erwächst der Stolz und – geschwollen ausgedrückt – die vielzitierte Resilienz.

Ich habe viel in Skandinavien gearbeitet und irgendwann habe ich meinen schwedischen Freund und Geschäftspartner gefragt: „Ihr Schweden seid doch eigentlich überhaupt nicht schmuddelig. Warum sind die Toiletten an Flughäfen oder in Restaurants oft in einem so bedauernswerten Zustand?“ Er verstand sofort, was ich meinte, und antwortete halbironisch: „Wir sind so sozial, dass wir glauben, dass es diese Arbeiten gar nicht geben sollte.“ Es gibt aber diese und viele vergleichbare Tätigkeiten, einfach weil wir saubere Toiletten und viele andere Dinge haben wollen. Warum fällt es uns so schwer, diese Tätigkeiten wertzuschätzen?

Eine befreundete Landtagsabgeordnete wurde in die Schule einbestellt, nachdem ihr Sohn verkündet hatte, er wolle nach dem Abitur Koch werden. Es lag offenbar jenseits der Vorstellungswelt der Lehrerin, dass jemand nicht studieren will, sondern freiwillig und gerne einen handwerklichen Beruf anstrebt. Ich glaube, dass solche Eindrücke weder Einzelfälle noch Zufälle sind.

Wenn man bei Arbeit sofort an Geringverdiener, Hartz 4 oder Sozialleistungen denkt, dann hat man den wertschöpfenden Charakter von Arbeit nicht verstanden. Wenn man meint, dass körperliche Arbeit, Anstrengung, Schmutz, Schichtdienst oder auch nur die zwingende Anwesenheit an einem physischen Arbeitsplatz automatisch ein Grund für Mitleid ist, dann nehmen wir den Menschen ihre Würde und ihren Stolz. Wenn wir dann die Fähigkeit verlieren, über die Tätigkeiten so zu reden, wie sie sind, alles in einen freundlichen verbalen Nebel verhüllen und die Leistung zwar nutzen, aber nicht sehen wollen, dann landen wir in einer Heuchelei mit sozialfürsorglichem Anstrich.

Es ist gewiss zu begrüßen, dass durch die Bildungsreformen vergangener Jahrzehnte der Zugang zu höherer Bildung erleichtert und erweitert wurde. Aber wenn die Studienquote zum wichtigsten Kriterium gelungener Bildungspolitik wird, wenn dafür die Kinder terrorisiert und gleichzeitig die Anforderungen ständig heruntergeschraubt werden, wenn schließlich die Übertrittsempfehlung zur Weichenstellung eines gelungenen oder gescheiterten Lebens wird, dann läuft etwas schief. Das ist nicht nur bildungspolitisch und volkswirtschaftlich fatal, sondern degradiert alle, die nicht in Gymnasium oder Universität landen, zur Restbevölkerung von der Restschule. Und ich frage mich schon seit langem, was an dieser über Jahrzehnte betriebenen Politik eigentlich links und sozial sein soll. Für die USA sieht der amerikanische Philosoph Michael Sandel in dieser „Tyranny of Merit“ einen der Gründe für den Erfolg eines Donald Trump.

Ist Wirtschaft rechts? Ist eine Arbeitslosenindustrie links?

Vor zwanzig Jahren betrug die Arbeitslosigkeit in Deutschland 4,4 Millionen oder 11,6 Prozent. Bis 2005 stieg sie noch weiter auf 4,9 Millionen oder 13 Prozent. In den Neuen Bundesländern lag die Arbeitslosenquote über ein ganzes Jahrzehnt bei rund 20 Prozent. Und wohlgemerkt: In diesen Zahlen waren die Hunderttausende, die sich in geförderten Qualifizierungs- oder Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen befanden, nicht enthalten. Ich hatte damals die Gesamtverantwortung für das Personalmanagement eines DAX-Unternehmens mit rund 80.000 Mitarbeitern und war Mitglied in verschiedenen Arbeitgeber-Gremien. Wie viele Kollegen hatte ich mich weitgehend damit abgefunden, dass ein solcher Sockel der Arbeitslosigkeit bleiben würde und man allenfalls dafür kämpfen könnte, dass er angesichts des globalen Kostenwettbewerbs nicht noch größer würde. Einfache Arbeit hatten wir für Deutschland ohnehin abgeschrieben.

Und dann kam die Agenda 2010 mit dem Versprechen, die Arbeitslosigkeit zu halbieren. Seit dieser Zeit hadern SPD und Gewerkschaften mit ebendieser Agenda 2010. Natürlich werden die Hartz-Reformen an manchen Stellen Fehler gehabt haben – wie sollte es anders sein. Aber wie kann es angehen, dass in der immerwährenden „linken“ Kritik an der Agenda 2010 nie eine Rolle spielt, dass die Arbeitslosigkeit in den Folgejahren und bis heute tatsächlich halbiert wurde – als wäre das nur ein vernachlässigbares Detail.

Schnell kommt dann der Hinweis auf die Minijobs oder auf Beschäftigungsverhältnisse am unteren Rand der Entlohnungsskala. Warum wird vergessen, dass es ohne die Reformen diese Arbeiten gar nicht gäbe? Warum ist es „links“, die Analysen zu ignorieren, die zeigen, dass man aus einer geringfügigen Beschäftigung viel leichter in eine qualifizierte Vollzeitbeschäftigung zurückkehrt als direkt aus der Arbeitslosigkeit, erst recht aus einer Langzeitarbeitslosigkeit? Und wer hat sich eigentlich an den Maßnahmen der Hartz-Reformen gestört? Die Menschen, die in Arbeit waren und mit ihren Steuern und Sozialbeiträgen alle Sozialsysteme finanzieren müssen? Die drei Millionen Menschen, die in Arbeit zurückgekehrt sind? Wohl kaum.

Seinerzeit wurde auch das Konzept der „Aufstocker“ entwickelt. Es war ein Versuch, den Zielkonflikt zu lösen, dass Arbeit einerseits wettbewerbsfähig sein muss (sonst gibt es sie nämlich gar nicht), und dass man andererseits für Arbeiten mehr bekommt als für Nicht-Arbeiten und dass schließlich Menschen in teuren Ballungsgebieten von ihrer Arbeit leben können. Von der Arbeitgeberseite hatten wir übrigens nicht die Sorge, dass es von den Arbeitenden missbraucht werden könnte, sondern eher vor einem wettbewerbsverzerrenden Mitnahmeeffekt seitens der Unternehmen: Wer durch schlechtere Bezahlung einen Wettbewerbsvorteil hat, würde dafür noch vom Staat belohnt. Nun, wie sich herausstellte, hat das Instrument trotz aller Bedenken durchaus funktioniert. Dennoch wird beklagt, dass es so viele Aufstocker gebe. Was wäre denn besser? Dass die Menschen nicht aufstocken müssten, sondern komplett von Arbeitslosengeld oder Hartz 4 lebten, weil sie gar keine Arbeit haben?

Diese Frage ist weniger rhetorisch und sarkastisch, als sie klingt. In der Zeit höchster Arbeitslosigkeit saß ich im Vorstand des Bildungswerkes der Bayerischen Wirtschaft. Dort waren auch Bildungsmaßnahmen angesiedelt, die zur Umschulung oder bei Beschäftigungsabbau von der Bundesagentur für Arbeit finanziert wurden. Obwohl wir auf diesem Markt im Vergleich zu den gewerkschaftsnahen Bildungsanbietern nur ein kleiner Fisch waren und als Arbeitgeberverband auf die „Arbeitslosenindustrie“ schimpften, wollten wir trotzdem etwas vom Subventionstopf der Arbeitsagentur abhaben. War das eine besonders „linke“ und erstrebenswerte Zeit, weil die Subventionstöpfe wegen der Arbeitslosigkeit so groß waren?

Im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts bin ich durch die Gegenden in Ostdeutschland gewandert, wo die Arbeitslosigkeit oft über 20 Prozent betrug. Ich habe gesehen, was das mit den Menschen macht – nicht zuletzt auch mit den Kindern, die ihre Eltern seit Jahren nicht arbeiten gesehen hatten. Viele der damaligen Sorgen, Bedenken und Diskussionen haben sich durch die Arbeitsmarktentwicklung umgekehrt und erscheinen wie aus einer anderen Zeit. Trotzdem prägen sie bis heute das kollektive Gedächtnis gerade auf der „linken“ Seite. Für mich ist dieses ewige Hadern mit der Agenda 2010 ein weiterer Beleg dafür, dass ausgerechnet das angeblich „linke“ Spektrum den Blick für den wertschöpfenden und persönlichkeitsbildenden Charakter von Arbeit verloren hat.

Ich fragte neulich einen ehemaligen Wirtschaftsminister eines Bundeslandes, warum das Thema Arbeit eigentlich so selbstverständlich in den Sozialministerien und nicht in den Wirtschaftsministerien angesiedelt ist. Der CDU-Politiker verstand sofort, wovon ich sprach. Er erläuterte mir, dass er mit Erfolg dafür gekämpft habe, dass Wirtschaft, Arbeit, Verkehr und Digitalisierung zu seinem Wirtschaftsministerium gehörten. Kluge Arbeitsmarkt-Politik sei eben Wirtschafts-Politik. Nach dem Regierungswechsel sei aber das Thema Arbeit wieder dem SPD-geführten Sozialministerium zugeschlagen worden. Ist das nicht eine verkehrte Welt? Nach üblichen Vorurteilen würde es nicht überraschen, wenn „die Rechten“ uns weismachen wollten, dass Wirtschaft etwas ist, was die Unternehmer und Banken ohne Zutun der Arbeitenden unter sich ausmachen. Aber was ist passiert, wenn eine Linke, an deren Wiege der Gedanke stand, dass alle Wirtschaft auf dem wertschöpfenden Charakter von Arbeit beruht, Arbeit in einem „Mitleids- und Hilfsministerium“ unterbringen will?

Warum arbeitet man eigentlich? Kann man Wirtschaft runterfahren?

Im Goinger Kreis beschäftigten wir uns gleich zu Beginn des Corona-Lockdowns mit den Folgen des Homeoffice – nicht nur für die Herausforderungen, die sich aus der Kombination von Homeoffice und Homeschooling ergaben, sondern vor allem auch, was es mit den sozialen Arbeitsbeziehungen macht. In unserer Studie „Fernverbindung“ kamen wir zu einigen kritischen Fragezeichen, was das Arbeiten über Entfernung und ohne direkten sozialen Kontakt betraf – Fragezeichen, die heute viel diskutiert werden, die aber in der damaligen Euphorie über die virtuelle Zukunft des Arbeitens noch niemand hören wollte.[7]

Während wir daran im Verbund mit Hochschulinstituten arbeiteten, Interviews führten und Fachliteratur sichteten, kamen uns jedoch mehr und mehr ganz andere Fragezeichen in den Sinn: Ständig war davon die Rede, dass nach Corona nichts mehr so sein werde wie vorher. Das virtuelle Arbeiten sei die Zukunft. 80 Prozent der Tätigkeiten könnten von zu Hause oder jedem anderen beliebigen Ort erledigt werden. Der Rest sei eben eine aussterbende Spezies von Ewiggestrigen. Auch die Homeoffice-Verordnung des Arbeitsministeriums beruhte auf einer solchen Annahme und drehte deshalb die Beweislast um: Unternehmen mussten begründen, warum Mitarbeiter nicht von zu Hause arbeiten durften.

Und das alles passierte, während dieselben Leute, die so etwas verbreiteten, gleichzeitig in aller Selbstverständlichkeit davon ausgingen, dass Supermärkte offen haben, dass die Regale befüllt werden, jemand an der Kasse sitzt und die Waren ja auch hergestellt werden müssen. Sie sahen Menschen auf Baustellen arbeiten, sahen Busse und Bahnen fahren – und auch hier musste es neben dem Vorgang selbst noch eine Infrastruktur im Hintergrund geben. Sie bestellten Waren im Internet, die am nächsten Tag von einem leibhaftigen Menschen an der Tür abgeliefert wurden – und auch diese Waren wurden vorher gewiss nicht virtuell oder im Homeoffice hergestellt und verpackt. Ich muss zugeben: Je mehr mir diese Diskrepanz bewusst wurde, desto größer wurde mein persönliches Unbehagen über diese Einengung des Blickfeldes. In einem Interview aus dem Frühjahr 2020 brachte der damalige Vorsitzende des Goinger Kreises und Infineon-Personalchef das Unbehagen auf den Punkt: „Selbst die virtuellsten Netzarbeiter essen Kartoffeln, Erdbeeren oder Spargel, sie brauchen Toilettenpapier oder jemanden, der sie im Alter wäscht und füttert. Und auch in zahllosen Fabriken arbeiten Menschen mit ihren Händen, mit Werkzeugen, miteinander. Als Infineon tragen wir zwar zur Digitalisierung und Virtualisierung bei, aber unsere Reinräume zur Chipherstellung sind nicht virtuell, sondern absolut real. Manager, die den ganzen Tag vom heimischen Arbeitszimmer aus Zoom-Meetings abhalten und vollmundig behaupten, jede Arbeit sei durch virtuelle Tools zu ersetzen, kennen ihre eigenen Unternehmen nicht – und zeigen erschreckend wenig Empathie für andere Berufsgruppen.“

In der Corona-Zeit gab es Forderungen, nicht nur Cafés, Boutiquen oder Bibliotheken zu schließen, sondern die ganze Wirtschaft herunterzufahren. Der Ministerpräsident von Thüringen, Bodo Ramelow, machte einen drastischen Vorschlag. Er wollte die gesamte Wirtschaft in den Lockdown schicken. „Wir müssen jetzt einfach einmal eine komplette Pause machen. Ich sehe keine Alternativen.“ Während sich die Grünen an seine Seite stellten, traf Ramelow bei der CDU und Wirtschaftsvertretern auf Widerstand. In der CDU hieß es, viele Branchen würden einen kompletten Lockdown nicht überstehen.

In demselben Rahmen der Corona-Epidemie tauchte der Begriff der „systemrelevanten Berufe“ auf – sie sollten für das Funktionieren der Gesellschaft unverzichtbar sein. Die dort Tätigen sollten auch im Lockdown besondere Aufmerksamkeit zum Beispiel hinsichtlich der Kinderbetreuung genießen. Allein schon die ständigen Veränderungen der Definition setzten Fragezeichen hinter die Tauglichkeit des Begriffes der „Systemrelevanz“. Die Zusammenstellung war äußerst heterogen. In manchen Bundesländern waren landwirtschaftliche Berufe enthalten, in anderen nicht – kamen die Menschen in letzteren Regionen ohne Essen und Trinken aus? Der Verkauf von Lebensmitteln galt als systemrelevant, die Produktion dieser Lebensmittel nicht. Gebäude zu reinigen galt als systemrelevant, nicht jedoch diese Gebäude zu bauen und zu warten. Omnibusse und Lkw zu fahren, galt als systemrelevant, nicht jedoch dieselben herzustellen, zu reparieren oder zu betanken.[8]

Komischerweise haben ausgerechnet viele der Berufe, die als systemrelevant galten, ein geringes Berufsprestige, ja insgesamt haben systemrelevante Berufe ein niedrigeres Prestige als nicht systemrelevante Berufe. Wie kann das sein? Und in wessen Augen ist das so? Haben Fernfahrer, Lokführer, Reinigungskräfte wirklich ein geringeres Berufsprestige in den Augen von Fernfahrern, Lokführern oder Reinigungskräften? Und haben diese Tätigkeiten ein geringeres Berufsprestige in den Augen derjenigen, die auf die entsprechenden Leistungen angewiesen sind? Gibt es nicht eher eine Korrelation zwischen dem niedrigen Prestige bestimmter Berufe und ihrem Verschwinden aus der Wahrnehmung zum Beispiel in der Homeoffice-Diskussion?

Ich schreibe dies so ausführlich, weil sich das alles nicht auf irgendeiner „rechten“ oder „neoliberalen“ Seite des Meinungsspektrums abspielt. Nein, es sind Menschen, die sich für empathisch halten, die ein soziales Gewissen haben und sich wahrscheinlich eher links einordnen. Es sind sozialdemokratisch geführte Ministerien für Arbeit und Soziales. Eher linke Medien und Parteien. Und es sind keine Menschen, die irgendetwas Böses wollen. Aber umso mehr erschreckt es mich. Niemand würde sich wundern, wenn irgendein Cuponschneider, der mit Goldkettchen, Zigarre und Champagner auf seiner dicken Yacht sitzt, nicht mit der Frage behelligt werden möchte, woher sein Geld kommt. Aber was bedeutet es, wenn eine ganze Schicht, die keineswegs alle Millionäre sind, den großen Teil der Bevölkerung, der sich jeden Tag zu einer bestimmten Zeit an einen bestimmten Ort begibt, um dort nützliche Arbeit zu verrichten, für ein Phänomen der Vergangenheit hält? Was bedeutet es, wenn diese Menschen nicht mehr wahrgenommen werden, obwohl man sie täglich um sich herum sieht? Was bedeutet es, wenn man körperliche Arbeit nur noch als Gegenstand von Mitleid beschreiben kann?

Und schließlich: Wenn man Wirtschaft „einfach mal runterfahren“ kann, warum betreibt man sie eigentlich? Für den Profit von Unternehmen, wie die Linken meinen? Um Branchen zu schützen oder zu erhalten, wie CDU und Wirtschaftsverbände anführten? War da nicht noch was? Werden in „der Wirtschaft“ – egal ob kapitalistisch oder sozialistisch – nicht Güter produziert und Dienstleistungen erbracht, die wir zum Überleben und für einen bestimmten Lebensstandard benötigen? Was bedeutet es, wenn wir in einer Gesellschaft das Verständnis für den wertschöpfenden Charakter von Arbeit verloren haben – und zwar egal, ob in Politik oder in der ökonomischen Wissenschaft, egal ob im sogenannten rechten oder linken Meinungsspektrum? Was bedeutet es, wenn selbst in der CDU der eigene Wirtschaftsflügel automatisch als rechts gilt? Ist Wirtschaft rechts? Vielleicht sollten diejenigen, die bewusst oder unbewusst so denken, mal wieder einen Blick in die grundlegenden Schriften von Karl Marx werfen.

Gibt es Arbeiten mit mehr oder weniger Purpose?

Erhärtet wird dieser Befund durch den modischen Begriff des „Purpose“. Anders als früher, so heißt es, erwarten junge Menschen, dass das Unternehmen, in dem sie arbeiten, sinnstiftend ist. Purpose wird zum Beispiel so beschrieben: „Aus Sicht von Good Jobs sind Purpose-Unternehmen solche, die einen Mehrwert für die Gesellschaft oder die Umwelt bieten.“ Davon abgesehen, dass es in einer Marktwirtschaft eigentlich gar keine Unternehmen gibt, die nicht in irgendeiner Form einen Wert für die Gesellschaft liefern, verengt sich die Perspektive des Begriffes rasch: „Diese Unternehmen sind im Bereich Bildung, Nachhaltigkeit, Tierwohl, Klimaschutz etc. tätig oder setzen sich dafür ein, dass zum Beispiel menschliches Leid gelindert wird. Kurzum, sie streben danach, die Welt zu einem besseren Ort zu machen.“[9]

Was ist die Aufgabe eines Unternehmens, was sein Sinn? Wir sollten nicht aus den Augen verlieren, dass die gesellschaftliche Aufgabe eines Schraubenherstellers zunächst einmal darin besteht, Schrauben herzustellen. Und wenn man es verfeinern will: je nach Marktsegment besonders haltbare oder besonders kostengünstige Schrauben. Wenn eine Gesellschaft keine Schrauben benötigt, wird auch der Schraubenhersteller verschwinden, so wie Köhler oder Hufschmiede verschwunden sind.

Wenn ein Unternehmen über das spricht, was es tut und was es bewegt, sollte es vor allem anderen über seine Kernaufgabe sprechen: Schrauben herstellen, Schweinehälften zu Wurst verarbeiten, Zahnräder gießen oder schleifen, Segmente von Windrädern schweißen, Menschen im Alter pflegen, Brot backen. Mit allem Weitergehenden übernimmt sich ein Unternehmen; und im Zweifel ist der Anspruch auch nicht ehrlich. Die Purpose-Etikettierung trägt auch nicht zur Markt-Differenzierung bei, denn wenn alle Unternehmen erzählen, dass sie die Welt zu einem besseren Ort machen wollen, dann ist das nichtssagend und austauschbar, solange nicht jemand behauptet, er wolle die Welt zu einem schlechteren Ort machen.

Hat eine Arbeit in einem Unternehmen für Umwelt- oder Medizintechnik mehr Purpose als ein Steinbruch? Ein Krankenhaus mehr als eine Autowerkstatt? Eine Gleichstellungsbeauftragte mehr als ein Lagerarbeiter? Nehmen wir eine Arbeit, die nach den gängigen Beschreibungen besonders mit Purpose ausgestattet sein müsste, etwa ein Ingenieur im Bereich erneuerbarer Energien. Lebt dieser Mensch (und sein Unternehmen) von seinem Purpose? Braucht man nicht in jeder Umwelttechnik auch Schrauben? Wird dieser Ingenieur in seiner Pause nicht auch ein Wurst- oder Käsebrot essen? Hat ein Windrad keine Zahnräder? Werden die Windräder nicht vielleicht mit Lkws zu ihrem Einsatzort gebracht und müssen diese Fahrzeuge nicht bisweilen repariert werden – von einem Kfz-Mechaniker, der selbst wieder Schrauben benötigt und in der Pause Wurstbrote isst? Umweltingenieur und Kfz-Mechaniker werden übrigens zum Friseur gehen und saubere Toiletten bevorzugen. Und so weiter und so fort. Im Handumdrehen hat man die gesamte Volkswirtschaft ausgerollt und Begriffe wie „Purpose-Unternehmen“ oder „systemrelevante Berufe“ enthüllen ihre Inhaltslosigkeit. Am Ende bleiben nur zwei Dinge: Zum einen die triviale Erkenntnis, dass in einer arbeitsteiligen Gesellschaft alles mit allem zusammenhängt. Und zum anderen das schale Gefühl, dass einige Glieder dieses Netzwerkes partout etwas Besseres als andere sein wollen.

Arbeiten wir künftig in Liegestühlen und Wohlfühl-Oasen?

„Flexibel von zu Hause oder der ganzen Welt als virtuelle Assistenz arbeiten.“ Solche Angebote bezeichnen unter der Überschrift „New Work“ Arbeitsformen, bei denen sich die Menschen gar nicht mehr begegnen, sondern auf unterschiedliche virtuelle Weisen zusammenarbeiten – von zu Hause oder jedem beliebigen Ort, möglichst auch zeitlich flexibel. Als Aufmacher in Anzeigen oder Zeitungsartikeln zu New Work und zum virtuellen Arbeiten sieht man häufig Menschen, die mit ihren Laptops in Parks, an Seen oder gar im Liegestuhl am Strand sitzen. Die bisherigen Büroformen einschließlich der gerade noch gefeierten „Coworking Spaces“ wurden plötzlich zu Relikten einer altmodischen „Präsenzkultur“. Deutsche Manager werden aufgefordert, endlich aufzuwachen und solche Arbeitsplätze großflächig anzubieten. Und auch dort, wo es noch physische Arbeitsplätze gibt, sollen diese zu Wohlfühl-Oasen umgewandelt werden: „Nun gehört es zu den wegweisenden Phänomenen der Gegenwart, dass immer größere Teile der Arbeitswelt tatsächlich zu Orten werden, die Träume erfüllen. (…) Dabei geht es nicht um einen Trend, es geht um die revolutionierte Arbeitsdefinition der für den Markt relevantesten Generation.“[10]

Offenbar scheint keine Rolle mehr zu spielen, dass es bei Arbeit um reale Wirkung in der Welt geht und dass man das nicht nur um das eigene momentane Wohlbefinden herum bauen kann. Offenbar fehlt das geringste Bewusstsein dafür, dass es dem Erz in tausend Meter Tiefe, der brennenden Scheune oder dem defekten Rechenzentrum ziemlich gleichgültig ist, ob wir gerade in passender Stimmung sind. Und zum anderen funktioniert das Lebens- und Wohlfühlmodell der angeblichen „Generation New Work“ nur, wenn die große Mehrheit der Menschen nicht so arbeitet. Oder werden die Bäckereien, Autowerkstätten, Schreinereien, Computerhersteller oder Feuerwehren ihren Mitarbeitern jetzt nur noch Wohlfühl-Oasen bieten statt Backstuben, Hebebühnen, Kreissägen, Montageplätzen und Drehleitern? Oder wie funktionierte das Arbeiten mit Laptop am Strand, wenn auch die Hersteller von Liegestühlen und Laptops am Strand säßen – oder gar die Mitarbeiter der Strandbar? Wie weit muss man sich von der Realität menschlichen Wirkens abgekoppelt haben, um eine so winzige, fast parasitäre Zuckerguss-Welt für ein allgemeines Arbeitsmodell der Zukunft zu halten?

Ich unterstelle solchen Sichtweisen keine böse Absicht, aber gerade die Gedankenlosigkeit macht es noch schlimmer. Spiegeln die skizzierten Arbeitswelten nicht einfach nur den begrenzten Lebenshorizont bestimmter Schichten wider, die das Bewusstsein für die Leistungszusammenhänge einer arbeitsteiligen Gesellschaft verloren haben? Spiegeln sie nicht einfach nur Milieus wider, in welchen die Menschen, die diese Leistungen erbringen, gar nicht mehr wahrgenommen werden? Und wenn sie diese wahrnehmen, dann nur als Tätigkeiten mit weniger Prestige und Purpose. Ist es da noch verwunderlich, dass die so abgewerteten Berufe auch ein niedrigeres Lohnniveau besitzen? Das Mitleid, das gleichzeitig vielen der abgewerteten Tätigkeiten entgegengebracht wird, treibt den Mangel an Respekt auf die Spitze.

Vor diesem Hintergrund beschäftigten wir uns 2022 im Goinger Kreis in einem weiteren Projekt mit den Vor-Ort-Arbeitenden und veröffentlichten die Ergebnisse in der Studie „Ortsbesichtigung“.[11] Dabei wurde anhand der Zahlen schnell klar, dass das ganze Getöse um New Work und Virtualisierung eher ein Sturm im Wasserglas ist. Die meisten Menschen sind aus guten Gründen mit dem größten Teil ihrer Arbeitszeit an bestimmte Zeiten und Orte gebunden. Das gilt nicht nur für Fabrikarbeiter, sondern für die unterschiedlichsten Tätigkeiten, zum Beispiel auch für Chirurgen oder Nobelpreisträger im Labor. Und gerade in der Corona-Zeit haben wir schmerzhaft gelernt, welche Folgen es hat, wenn Lehrer ihre Arbeit nicht gemeinsam mit den Schülern vor Ort ausüben.

Auch wir selbst im Goinger Kreis hatten unsere Lernkurve. Schließlich sind auch wir Schreibtischarbeiter, die in der Coronazeit von zu Hause arbeiten mussten und vielfach auch die Flexibilität genossen haben. Als wir in unserem Projekt Vor-Ort-Arbeitende befragten, hatten nicht nur Professoren und Studenten, sondern auch wir selbst zunächst zu stark den Motivationsaspekt im Blick. So wollte man ernsthaft die Handwerker, die Lkw-Fahrer, die Hafenarbeiter fragen, ob sie motivierter wären, wenn sie ihre Arbeit von zu Hause aus machen könnten. Natürlich haben die Befragten uns erstaunt angeschaut. Andere Studien starteten mit der Vermutung, dass körperliche Arbeit in der Fabrik prinzipiell zu Unzufriedenheit und damit zum Abwandern nach rechts führe. Die Realität war jedoch eine andere: Die befragten Vor-Ort-Arbeitenden sind überhaupt nicht unzufrieden mit ihrer Arbeit. Sie wissen, dass ihre Arbeit sinnvoll ist. Sie wissen abends ganz genau, was sie getan haben. Sie beziehen ihre Zufriedenheit gerade aus der Bindung an bestimmte Orte und daraus, bestimmte Probleme zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort bewältigt zu haben. Sie wollen sehen, riechen, anfassen, hochheben, was sie tun, und es macht ihnen nichts, wenn ihre Hände dabei schmutzig werden. Und zwar nicht, weil sie für Schreibtischarbeit zu dumm wären, sondern weil sie die Wirkung ihrer Arbeit spüren.

Wenn im Zusammenhang mit der Digitalisierung oft genug der Eindruck erweckt wird, eine Warenbestellung im Internet sei ein digitaler oder virtueller Vorgang, sozusagen etwas, das zwischen dem Kunden zu Hause am Bildschirm, dem Webdesigner und vielleicht noch dem digitalen Bezahldienstleister ausgemacht werde, dann verschwinden all die Tausenden und Millionen Mitarbeiter in der Fertigung und Logistik vom Hafen- und Lagerarbeiter über die Packer und Sortierer bis zu den Auslieferungsfahrern in der Unsichtbarkeit – ganz zu schweigen von denen, die wiederum diesen Menschen in der Kantine das Mittagessen zubereiten oder sie mit Bus und Straßenbahn zur Arbeit bringen. Dies ist zum einen respektlos gegenüber diesen Tätigkeiten. Aber es raubt auch den dort tätigen Menschen die Möglichkeit, stolz und konkret über ihre Arbeit zu sprechen. Die heillose Überbewertung des Homeoffice in der Corona-Zeit zeigt, wie weit dieser verhängnisvolle Prozess der Realitätsverdrängung schon fortgeschritten ist.

Slogans wie „Für eine Welt, in der Innovationen reibungslos verlaufen“ oder „Future is an attitude“ übersehen, dass gestalterische Arbeit notwendigerweise mit Widerstand und Mühen verbunden ist. Wie Forscher herausgefunden haben, benötigt man ungefähr zehntausend Stunden, um in einem beliebigen Feld Exzellenz zu erlangen. Zehntausend Stunden – das sind zehn Jahre jeden Tag drei Stunden lernen, üben, probieren. Was man wie eine Handbewegung in der Luft ohne Mühen bewerkstelligen kann, hinterlässt keine bleibenden Spuren. Was leicht kommt, ist auch schnell wieder weg.

Manche sprechen im Zusammenhang mit virtuellen Welten von „Realität plus“. Natürlich ist auch ein Gedanke eine Realität – das ist trivial. Aber der Gedanke steht nicht für die Tat. Es ist bestimmt unendlich nützlich, wenn man den Bau eines Tunnels vorher simulieren kann. Aber die Simulation eines Tunnels ist kein Tunnel. So wirklichkeitsnah ein Computer einen Vorgang simulieren kann und so sehr er uns damit zu täuschen vermag: Der Computer kann nicht auch noch seine eigene Stromversorgung simulieren.

Wenn Sinn und Inhalt von Arbeit darin bestehen, in der Welt eine Wirkung zu erzielen, dann könnte man die Beweislast umdrehen: Eine Arbeit, die vollständig unabhängig von Raum und Zeit durchgeführt werden könnte, wäre eine Arbeit, die keinen direkten Bezug zur materiellen Welt besäße. Es wäre eine Arbeit, die niemals auf den Widerstand der Materie träfe, die niemals spürte, dass bestimmte Dinge wie Aussaat und Ernte, wie die Bearbeitung eines glühenden Eisens, wie der Transport und Einsatz von Beton oder wie die Erzeugung von Energie nicht zu einem beliebigen Zeitpunkt, nicht mit beliebiger Dauer oder beliebigen Unterbrechungen durchgeführt werden können. Es wäre eine Arbeit, die niemals in die direkte Interaktion mit anderen Menschen ginge – denn dazu müsste man sich selbst beim virtuellen „Zoomen“ auf einen gemeinsamen Zeitpunkt einigen. Es wäre eine Arbeit, die niemals gelernt hätte, in unvorhergesehenen Situationen eine erfahrungsbasierte Bauchentscheidung zu treffen. Es wäre eine Arbeit, die niemals erlebt, gefühlt, gerochen oder angefasst hätte, was sie bewirkt hat. Es wäre eine Arbeit, die keine Geheimnisse beinhaltet. Besäße eine solche Arbeit überhaupt eine Anbindung an die Welt? Wäre sie in der Lage, Wirkung zu erzeugen? Wäre sie also überhaupt Arbeit im Sinne der obigen Definition? Wäre sie nicht ein bevorzugter Kandidat, durch Automatisierung oder Künstliche Intelligenz ersetzt zu werden? Oder andersherum gefragt: Wäre es überhaupt wünschenswert, dass Menschen, die diese Verbindung zur Welt nicht mehr besitzen, durch irgendeinen Mechanismus bevollmächtigt wären, Wirkung in der Welt zu erzeugen?

Wie reden wir über Arbeit?

Jeder bevorzugt saubere Toiletten, zum Beispiel an seinem Arbeitsplatz oder im öffentlichen Raum. Toiletten zu reinigen ist also eine Aufgabe mit hoher Nützlichkeit und Sinnhaftigkeit. Warum kommt in den ganzen Aufzählungen von Purpose-Unternehmen und Good Jobs nichts vor, was auch nur im entferntesten Sinne solche oder vergleichbare Aufgaben umfasste? Hat man schon einmal Anzeigen gelesen, in denen die „besten Toilettenreiniger Deutschlands“ gesucht werden? Und wenn man Anzeigen zu vielen solch höchst nützlicher Berufe findet, warum ist dann so wenig die Rede von dem, um das es doch geht: bei der Putzkraft um das Toilettenreinigen, beim Kfz-Mechaniker ums Autoreparieren, beim Friseur ums Haareschneiden, bei der Küchenhilfe ums Kartoffelschälen? Warum so wenig von den Anstrengungen, die damit verbunden sind: Körperkräfte, Belastungen, Gerüche, Ekel überwinden, Ausdauer, Geschicklichkeit, Wochenendarbeit? Worum ist so viel von abstrakten Anforderungen wie Teamgeist oder Selbständigkeit und von Aufstiegsperspektiven und Diensthandy, aber so wenig von der eigentlichen Arbeit die Rede?

Natürlich ist es eine gute Sache, wenn es für engagierte Mitarbeiter die Möglichkeit gibt, sich weiterzuentwickeln, sich zu qualifizieren, zu verbreitern und schließlich auch mehr zu verdienen. Aber die Sache bekommt einen schlechten Beigeschmack, wenn dieses Entwicklungs- und Aufstiegsversprechen den Eindruck erweckt, die zu besetzende Stelle und die damit verbundene Arbeit seien gar nicht das Eigentliche, sondern nur eine Art notwendiger Durchgangsstation zu etwas Besserem, ein notwendiges Übel, über das man am besten gar keine Worte verliert. Nun gibt es in einer Organisation normalerweise mehr Indianer als Häuptlinge. Was ist also mit der Mehrheit, die im „notwendigen Übel“ steckenbleibt?

Ein Reinigungsunternehmen sucht zunächst mal einen Toilettenreiniger, eine Gärtnerei einen Gärtner, eine Großküche eine Küchenhilfe. Und somit sind die damit verbundenen Tätigkeiten zunächst einmal das Eigentliche. Das Eigentliche ist nicht etwas, was erst danach kommt. Das ist auch nicht schlimm, denn jede Arbeit, wenn sie gut gemacht wird, hat ihre Würde in sich selbst. Und nicht in etwas, was außerhalb liegt oder erst danach kommt. Warum tun wir uns so schwer, geradeheraus und ohne weitere Schnörkel die Würde der Arbeit eines Straßenkehrers, Postboten, Toilettenreinigers anzuerkennen? Es kann kaum daran liegen, dass wir die Arbeit für überflüssig halten. Wir sprechen viel über Respekt für einfache und überhaupt für handwerkliche und körperliche Arbeit. Aber ist es ein Zeichen von Respekt, wenn wir – natürlich in bester Absicht und Purpose-beseelt – es nicht mehr schaffen, die eigentlichen Tätigkeiten auszusprechen, sondern sie in einen verbalen Nebel verhüllen?

Aber es geht nicht nur um den Respekt, sondern auch um die Vorstellung, was eigentlich Arbeit und was ein Beruf ist. Bei vielen Managementaufgaben ist es schwierig, Branchenfremden oder den eigenen Kindern zu erklären, was man eigentlich tut. Ja, oft genug weiß man es abends selbst nicht. Viele handwerkliche oder sogenannte einfache Berufe haben dieses latente Nutzendefizit und Erklärungsproblem nicht: Ein Altenpfleger wäscht alte Menschen, ein Kfz-Mechaniker wechselt die defekte Lichtmaschine, eine Putzkraft reinigt pro Schicht siebzehn Toiletten, ein Busfahrer steuert Busse und bringt uns zum Ziel, ein Friseur wäscht und schneidet unsere Haare. Diese Berufe brauchen keine geschwollene Purpose-Verbalakrobatik, sondern sie tragen den Sinn offen in sich. Menschen, die diese Aufgaben bewältigen, können ohne komplizierte Begründungen, Erklärungen oder gar Entschuldigungen stolz auf ihre Arbeit sein.

Hinzu kommt, dass man bei vielen dieser Tätigkeiten ganz leicht erkennen kann, ob die Arbeit sinnvoll und erfolgreich war. Die Arbeit eines Kfz-Mechanikers ist gut und sinnvoll, wenn das Auto nachher problemlos fährt. Die Arbeit der Reinigungskraft ist erfolgreich, wenn die Toilette sauber ist und gut riecht. Die Arbeit des Metzgers, wenn die Wurst gut schmeckt. Und in vielen Dienstleistungsbereichen – etwa bei Pflegekräften – wird die Leistung nicht unsichtbar hinter Fabrikmauern erbracht, sondern ohne Netz und doppelten Boden vor den Augen des Kunden. Warum fällt es uns trotzdem so schwer, einfach und in klaren Worten darüber zu reden? Schon vor Jahren habe ich Unternehmen vorgeschlagen, damit zu werben, dass etwas schwierig ist und man deshalb nur ganze Kerle oder besonders tüchtige Frauen gebrauchen könne.

Jede Tätigkeit hat unangenehme oder schwierige Bestandteile. Ein Astronaut oder ein Pilot eines Überschalljets muss beim Start oder bei Flugmanövern Kräfte an der Grenze zur menschlichen Belastbarkeit aushalten – dabei trägt er übrigens Kleidung gegen Inkontinenz. Sportler trainieren ständig und mit Dreißig sind sie oft genug ein körperliches Wrack. Aufgrund der Belastungen im Operationssaal ist ein Chirurgenkongress ein Panoptikum von Haltungsschäden. Jeden Abend können wir Kriminalfilme sehen, in denen geradezu zelebriert wird, wie schwer sich die Arbeit bei der Mordkommission mit einem geregelten Familienleben verträgt. Hier reden wir ohne Weiteres über die schwierigen Seiten der jeweiligen Tätigkeiten, gerade deshalb machen wir die Akteure zu Helden. Warum fällt uns dasselbe so schwer bei den unangenehmen, anstrengenden, schmutzigen Aspekten der Tätigkeiten im einfachen oder handwerklichen Bereich, bei den alltäglichen Arbeiten um uns herum?

Und wem fällt es eigentlich schwer, diese Tätigkeiten als das zu beschreiben, was sie sind und sie ausmacht? Sind es die Arbeiter selbst, die nicht wissen, was sie tun? Wohl kaum. Sind es nicht vielmehr andere, die zwar wollen, dass alles in der Gesellschaft bestens funktioniert, aber nicht die Arbeiten sehen wollen, die dies ermöglichen? Wenn das stimmt, dann sind wir wieder sehr nah an den sogenannten unreinen Berufen der Antike und des Mittelalters. Allerdings geht es offenbar nicht wie im Mittelalter nur um kleine Gruppen „unreiner“ Dienstleistungen, die mit Schmutz, Strafe und Tod zu tun hatten wie Gassenkehrer, Büttel, Köhler, Abdecker, Totengräber oder Scharfrichter, sondern um die Hälfte der Gesellschaft. Oder wir sind wieder nahe bei den Adeligen, die zwar all die Lakaien um sich herum nutzten, aber sie nicht als relevante Personen wahrnahmen. Noch schlimmer wäre es, wenn wir damit nicht nur uns selbst, sondern auch den Betroffenen die Fähigkeit raubten, ganz konkret und selbstbewusst über das zu sprechen, was sie tun.[12]

Arbeit kann die Welt verändern – im Großen wie im Kleinen

Elon Musk ist vielfach umstritten und in meiner Fantasie gehört er nicht unbedingt zu den Menschen, mit denen ich einen dreiwöchigen Urlaub verbringen möchte. Aber ich möchte seine Person benutzen, um die Arbeit von Pionieren zu verdeutlichen.

Die Automobilindustrie hatte sich seit Jahrzehnten mit alternativen Antrieben beschäftigt. Schon in den 80er Jahren erprobte Daimler-Benz in einem Flottenversuch im damaligen Westberlin die verschiedenen Arten der Speicherung von Wasserstoff. Dasselbe Unternehmen engagierte sich für die Brennstoffzelle und verkleinerte die Technik, die 1994 zunächst den Platz eines ganzen Transporters benötigte, auf ein Format, das in den Unterboden einer Mercedes A-Klasse passte, der übrigens von vornherein dafür vorgesehen war. Man legte eine Kleinserie auf – und stellte 2021 alles ein. Alle namhaften Unternehmen haben immer wieder Prototypen von Elektrofahrzeugen entwickelt und erprobt – teilweise sogar in Kleinserien angeboten wie den Volkswagen Golf 1976 und dann wieder 2011.[13] Aber niemand hatte sich getraut, mutig und mit einem ganzheitlichen Konzept den Weg in den Markt zu gehen. Übrigens auch nicht die Hersteller von Elektrokarren, Flurförderzeugen oder Gabelstaplern, die seit Jahrzehnten Erfahrungen mit batteriegestütztem Elektroantrieb besaßen. Niemand wurde zum Pionier der Elektromobilität.

Ja, und dann kam Elon Musk und Tesla. 2003 wurde Tesla gegründet. 2004 stieg Elon Musk ein und übernahm die Führung. 2008 erschien der erste Tesla Roadster auf Lotus-Basis, der in kleiner Serie produziert wurde. Schon 2012 erschien das Modell S, das die Welt für Elektrofahrzeuge revolutionierte und bis heute produziert wird. Es war ein überzeugendes Auto auf eigener Plattform mit sagenhaften Fahrleistungen, einer praxisgerechten Reichweite von über 500 km und kurzen Ladezeiten. In den angepeilten Märkten sorgte Tesla für eine Schnelllade-Infrastruktur, die inzwischen auch von anderen genutzt wird. Es war kein Auto für Spinner, sondern in seiner Klasse preislich konkurrenzfähig – was auch für die Modelle gilt, die inzwischen in darunterliegenden Klassen angeboten werden. Das Unternehmen hat seit seiner Gründung rund fünf Millionen vollelektrische Fahrzeuge gebaut. Bei Tesla arbeiten weltweit rund 130.000 Mitarbeiter. Der Börsenwert beträgt rund 800 Mrd. US-Dollar – zehnmal so viel wie der von Daimler.

Heute, zehn Jahre später sind weltweit viele Anbieter unterwegs, deren Modelle sich mit Tesla messen können oder sie übertreffen. Aber ohne den unternehmerischen Wagemut von Elon Musk und Tesla könnten wir heute überhaupt nicht über Elektromobilität diskutieren. Wir würden uns immer noch damit rausreden, dass Elektroautos eines fernen Tages gewiss eine großartige Sache sein werden, aber im Augenblick noch nicht im Alltag funktionieren. Elon Musk und Tesla haben praktisch im Alleingang gezeigt, dass es funktionieren kann. Und nur deshalb können wir heute über die Verkehrswende diskutieren und das Verbrenner-Aus ab 2035 beschließen.

Es gibt ein Bonmot des Harvard Business School Professors Theodore Levitt, mit dem man in jedem Management-Vortrag die Lacher auf seiner Seite hat: „Die Leute wollen keinen Viertelzoll-Bohrer kaufen, sie wollen ein Viertelzoll-Loch.“ Wie Tesla und viele andere Beispiele der Innovationsgeschichte zeigen, ist dieser Ausspruch nicht nur innovationsfeindlich, sondern auch falsch. Tatsächlich können wir uns, um im Bilde zu bleiben, ein Viertelzoll-Loch gar nicht vorstellen und auch nicht wünschen, bevor es von einem Viertzoll-Bohrer möglich gemacht wurde. Das Bedürfnis nach einer Sache kann der Idee einer Sache nicht vorausgehen. Etwas war unmöglich, bis jemand gezeigt hat, dass es möglich ist.

Gibt es in der Ökonomie einen Platz für diese Pionierrolle des Unternehmertums? In der kapitalistischen Ökonomie außerhalb von Joseph Schumpeter bis heute nicht. Natürlich gibt es allerhand Modelle von Bedarfen, Potenzialen und Notwendigkeiten. Aber diese Theorien können aus vielen Gründen nicht stimmen. Ganz platt auf unseren Fall bezogen: Wenn der Bedarf oder das Potenzial für Elektroautos da war, warum haben andere dieses Bedürfnis und angebliche Marktpotenzial nicht genutzt? Wie man immer wieder sehen kann, sind Begriffe wie „Marktpotenzial“ oder „Bedürfnis“ Konstrukte, die im Nachhinein so tun, als hätten sie es vorher schon gewusst.

Erst recht gibt es in der linken Ökonomie keinen Platz für den Pionierunternehmer. Leicht unterstellt man, dass es nur ums Geld gehe. Erst einmal ist das eine billige Unterstellung, weil niemand die Motive anderer Menschen kennt und man überhaupt bezweifeln kann, dass es hinter dem Wollen noch ein Wollen des Wollens gibt. Vor allem jedoch erklärt es gar nichts. Das wäre ja wunderbar, wenn aus dem Wunsch, reich zu werden, automatisch eine solche Erfolgsgeschichte folgte! Und wollten die anderen Hersteller, die eigentlich einen großen Vorsprung hatten, aber den unternehmerischen Mut nicht aufbrachten, kein Geld verdienen und nicht reich werden?

Nun könnte man Elon Musk als Extrembeispiel abtun. Aber ich habe viele Gründer und Unternehmer kennengelernt, die auf einem kleineren Feld und gewiss weniger prominent eine ähnliche Innovations-, Pionier- und Gründergeschichte hingelegt haben wie Elon Musk. Vor allem jedoch will ich ein Beispiel anführen, das aus dem anderen Ende der Wirtschafts- und Arbeitswelt stammt: In meiner Studentenzeit habe ich jedes Jahr mehrere Monate als Briefträger gearbeitet. War bei einem Brief die Anschrift fehlerhaft oder fehlte der Name am Briefkasten, dann gab es zwei Möglichkeiten: Man konnte den Brief ohne weiteres als „unbekannt“ oder „unzustellbar“ stempeln und an den Absender zurückschicken. Oder man konnte einen Nachbarn fragen und das Problem in einer Minute lösen. Keine „einfache“ Arbeit ist so „einfach“, dass sie nicht solche Spielräume böte, sich zu kümmern, die Extrameile zu gehen oder sich verantwortlich zu fühlen.

Arbeit macht den Menschen zum Menschen

Hat wenigstens die Extrameile des Briefträgers einen Platz in der Ökonomie? In der Philosophie des „Wissenschaftlichen Managements“ ist sie per Definition ausgeschlossen – genau darin besteht ja das „wissenschaftliche“ Selbstverständnis des Taylorismus. Und diese Haltung findet ihre Fortsetzung in den starren Prozessen etwa der Qualitätssysteme oder in anderen digitalen Geschäftsprozessen. Seltsam: Frühere Arbeitskämpfe haben gezeigt, wie man mit „Dienst nach Vorschrift“ ganze Volkswirtschaften lahmlegen kann. Und genau das soll jetzt die Arbeit der Zukunft sein?

Und auch die linke Ökonomie hat keinen Platz für den verantwortlich handelnden Briefträger. Schon bei Marx ist nicht nur kein Platz für den Unternehmer, sondern auch die Arbeiter sind eine anonyme Masse, die durch ihren Klassencharakter erschöpfend beschrieben ist. Und heute empfindet man es schon als bedrohliches Prozessrisiko, dass der Briefträger überhaupt entscheiden kann, ob er es so oder so macht. Und erst recht hält man die Ungleichheit, die sich daraus ergibt, dass der eine die Extrameile geht und der andere nicht, für eine potenzielle Ungerechtigkeit. Warum eigentlich?

Auf der kapitalistischen Seite ist die Unbeholfenheit der Ökonomie im Umgang mit dem Menschen als handelndem Wesen ein Geburtsfehler, der bis heute auf dem Traum beruht, eine Naturwissenschaft sein zu wollen. Mit den Ursachen und absurden Folgen habe ich mich ausführlich in meinem Buch „Die Methode Mensch“ auseinandergesetzt. Und möglicherweise mag es ideologisch gelegen kommen, wenn Kapital und Profit nicht aus Arbeit entstehen. Aber warum tut sich die linke Ökonomie so schwer damit? Warum hält man bürokratische Strukturen, in denen für eigenständiges menschliches Handeln möglichst kein Platz mehr ist, für die Verwirklichung des sozialistischen Traums, für die Befreiung der Arbeiterklasse, für den Weg zu einer gerechteren Welt? Auf Marx und Engels kann man sich dabei jedenfalls nicht berufen.

Arbeit hat nach Friedrich Engels den Affen zum Menschen werden lassen, ihn sozusagen sich vom Affen unterscheiden lassen. Der marxistische Archäologe Gordon Childe versah sein 1936 erschienenes Werk mit dem Titel: „Man makes himself“. Der Anthropologe Arnold Gehlen sagte „Der Mensch ist das handelnde Wesen“. Diese menschliche Fähigkeit, sich von dem zu lösen, was da ist, und gegebene Grenzen zu überschreiten, nannte Jean-Paul Sartre „Transzendenz“. Für Simone de Beauvoir war Transzendenz der Schlüssel zur Selbstbestimmung und Gleichberechtigung der Frau.

Diese Fähigkeit zur Transzendenz führt aber nicht nur zur kollektiv-einheitlichen Unterscheidung des Menschen vom Affen, sondern logischerweise auch zur Unterscheidung zwischen Menschen. Hannah Arendt konstatierte: „In jedem Handeln kommt die Person in einer Weise zum Ausdruck wie in keiner anderen Tätigkeit.“ Wie viel Raum gewährt die Gesellschaft dem, was den Menschen zum Menschen macht? Das Marktprinzip baut alles darauf auf. Aber schaut man in Unternehmen, dann sieht es schon anders aus: Im wissenschaftlichen Management des Taylorismus kommt es nicht vor. In den starren Normen des Qualitätsmanagements ist es eine Todsünde. Und in digitalen Prozessen ist es schlichtweg nicht mehr möglich.

Und wie wird es in einem Milieu gesehen, das sich als links empfindet? Seitens der Gewerkschaften und Betriebsräte habe ich über viele Jahre eine panische Angst vor Ungleichheit erlebt. Wo es Leistungsbeurteilungen gab, sollten sie möglichst zu einem für alle gleichen Ergebnis am oberen Rand führen. Dabei galt in der sozialistischen Bewegung einst der Slogan „Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seiner Leistung“. Den Maßstab der Chancengleichheit mit dem Maßstab der Ergebnisgleichheit gleichzusetzen, beinhaltet die Auffassung, dass alle Menschen gleich dächten und handelten, wenn man sie nur ließe. Damit nähme man dem Menschen das, was ihn auszeichnet – er dürfte sich nicht mehr vom Vorgegebenen ablösen und damit letztlich keine eigene Person mehr sein.

In Unternehmen, ja wahrscheinlich in allen Organisationen und gar in Familien trifft man auf eine Hierarchie jenseits dessen, was in den Organigrammen steht: Arbeit fließt immer dorthin, wo sie erledigt wird. Und zu wem die Arbeit fließt, der hat Macht, ob er will oder nicht. Er braucht nämlich nicht unbedingt die, die oben in den Kästchen stehen, aber die oben in den Kästchen brauchen die, die Arbeit tatsächlich erledigen. Hat eine „linke“ Ökonomie, die panische Angst vor Ergebnisungleichheit hat, einen gerechten Platz für die, die tatsächlich die Arbeit erledigen?

Wen diese Überlegungen nicht überzeugen, dem hilft die geschichtliche Empirie auf die Sprünge: Wir leben nicht mehr in der revolutionären Hoffnung und Unschuld von 1917, sondern wir wissen, dass alle derart bürokratisierten Ökonomien schon an der Versorgung mit Klopapier scheiterten – übrigens nicht anders als kapitalistische Unternehmen, die bürokratisch erstarren oder die glauben, man könne komplexe Systeme von einem zentralen Punkt aus planen und steuern. Was muss noch passieren, dass die linke Ökonomie den Wertschöpfungscharakter der Arbeit wiederentdeckt? Wann schafft es die linke Ökonomie, Unternehmer nicht mit Couponschneidern gleichzusetzen. Wann schafft sie es, für den wertschöpfenden Charakter des Unternehmertums einen Platz zu finden. Wann erkennt sie, dass es längst eine Seelenverwandtschaft zwischen beiden Arten wertschöpfender Arbeit gibt? Mir geht es nicht um ein kitschiges Gemälde paradiesischer gesellschaftlicher Harmonie, sondern darum, jenseits aller strukturellen Interessenkonflikte den Wertschöpfungscharakter der Arbeit zu würdigen.

Gesellschaftspyramide 2.0 – Opfer statt Täter?

Es gibt eine alte Darstellung der Arbeiterbewegung, die die Pyramide der kapitalistischen Ausbeutung zeigen soll. Alles ruht auf den Arbeitern, deren Arbeit alle ernährt. Dann kommen von unten nach oben die Bourgeoisie („Wir fressen für Euch“), das Militär („Wir schießen auf Euch“), die Oberpriester („Wir beten für Euch“ oder in der englischen Urversion: „We fool you“), die Staatmänner („Wir regieren Euch“) und schließlich das Kapital („Wir herrschen über Euch“). Man muss diese Strukturierung nicht mögen und bezeichnend ist, dass ganz oben gar kein Mensch mehr herrscht, sondern das abstrakte Kapital, verkörpert durch einen Sack Geld. Aber für unseren Zusammenhang möchte ich darauf hinweisen, dass alle Ebenen der Pyramide auf dem Fundament wertschöpfender Arbeit ruhen.

Mir scheint, dass diese Rolle im Bewusstsein der neuen Linken verwässert wurde.[14] Plötzlich finden wir an der Stelle der Arbeiter den erwähnten Hartz 4-Empfänger, alle Arbeitslosen oder Unterprivilegierten. Nun mag das Schicksal von Arbeitslosen hart sein, aber die Gesellschaft ruht nicht auf ihren Schultern – im Gegenteil, sie werden von der wertschöpfenden Arbeit der Erwerbstätigen aufgefangen. Dass man „unterprivilegiert“ ist, befördert auch andere nicht in die Basis der Pyramide. Frauen gibt es in allen Ebenen der Pyramide. Schwule und Transpersonen mögen unter Diskriminierung leiden oder gelitten haben, aber es gibt sie ebenfalls in allen Gesellschaftsschichten und die Gesellschaft ruht nicht auf den Schultern ihrer Homosexualität. In abgewandelter Form gilt es etwa für Schwarze: Selbst wenn in der untersten Kategorie überproportional Schwarze vertreten sein sollten, dann ruht die Gesellschaft nicht auf ihrem Schwarzsein, sondern auf ihrer wertschöpfenden Arbeit. Oder Flüchtlinge: Auch wenn man noch so sehr davon überzeugt ist, dass Flüchtlinge aufgenommen werden sollten, steht die Gesellschaft nicht auf den Schultern von Flüchtlingen, sondern ein Flüchtling steht per Definition zuerst einmal auf den Schultern der Gesellschaft, die ihm Schutz gewährt.

Wohlgemerkt, mir geht es nicht darum, die Emanzipation von Frauen, Schwarzen oder Schwulen oder irgendeine Flüchtlingspolitik zu hinterfragen – aber es ist einfach eine ganz andere Kategorie. Die in der Pyramide abgebildete Rolle der Arbeiter, die mit ihrer wertschöpfenden Arbeit alle ernähren, ist nicht beliebig durch Opfergruppen ersetzbar. Das Schicksal dieser Opfergruppen mag nach Lösungen schreien, aber deshalb ruht die Gesellschaft noch lange nicht auf den Schultern von Opfern. Eigentlich ist die Botschaft der Pyramide genau umgekehrt: Das alte Bild sagt, dass Arbeiter keine Opfer, sondern Täter sind. Was ist passiert, dass die sogenannten „Linken“ den wertschöpfenden Charakter der Arbeit vergessen haben, ihn gar nicht mehr sehen wollen? Für mich ist das einer der Gründe, warum ich die neuere Linke für alles Mögliche halte, aber nicht für links.

In Unternehmen gibt es traditionellerweise die Unterscheidung zwischen „direkten“ und „indirekten“ Mitarbeitern oder Bereichen. Während die direkten Bereiche die eigentliche Produktion unmittelbar betreffen, handelt es sich bei den indirekten Bereichen um unterstützende Funktionsabläufe, wie zum Beispiel die Personalabteilung oder das Controlling. In Dienstleistungs- und Beratungsunternehmen spricht man von produktiven und unproduktiven Stunden. Ich habe diese Unterscheidungen nie besonders gemocht, weil sie in allzu platter Weise die Mechanismen eines arbeitsteiligen Zusammenwirkens missachten.

Dennoch kann man vielleicht etwas aus dieser Unterscheidung lernen: Die Gestaltungsspielräume einer Gesellschaft entstehen aus dem Mehrprodukt, das heißt aus dem Ertrag, der das überschreitet, was für den Erhalt der Arbeitskraft erforderlich ist. Am Anfang der Menschheitsgeschichte war das Mehrprodukt minimal. Heute ist es gewaltig. Aber es ist niemals unendlich. Eine Gesellschaft, egal ob kapitalistisch oder kommunistisch, kann auf der „indirekten“ Seite nur das ausgeben, was sie auf der „direkten“ erwirtschaftet hat. An dieser Stelle interessiert mich dabei nicht die volkswirtschaftliche Gesamtrechnung, sondern der Blick auf die Menschen und ihr Selbstverständnis. Bei aller Wechselwirkung einer gesellschaftlichen Arbeitsteilung sollten wir nicht ganz vergessen, dass Bäcker und Klempner ohne Gleichstellungsbeauftragte auskommen können, aber Gleichstellungsbeauftragte nicht ohne Bäcker und Klempner – ganz zu schweigen davon, dass uns erst eine wettbewerbsfähige Automobilindustrie mit einem Volumen von 500 Mrd. Euro erlaubt, Schokokrümel auf dem Sahnehäubchen zu finanzieren.

Es ist das, was ich an der Purpose- und New-Work-Ideologie nicht nur als hohles Gerede empfinde (das ist es auch), sondern auch als unanständig: Wenn Menschen, die sehr auf der „indirekten“ Seite angesiedelt sind, plötzlich propagieren und selbst glauben, dass ihre Tätigkeit einen höheren Sinn und damit einen höheren Wert hat als die der „Direkten“, die ja „nur“ Schrauben herstellen, dann läuft etwas sehr falsch. Erst recht, wenn zu diesem Bild gehört, dass die leider nach wie vor unverzichtbaren „Direkten“ in einer mit Mitleid dekorierten Unsichtbarkeit versinken sollen. Ich weigere mich, das in irgendeiner Weise für links, sozial oder fortschrittlich zu halten.

„Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen.“ Als Urheber dieses Satzes hatte ich Lenin in Erinnerung. Das war nicht ganz falsch, denn das Motto wurde in Zusammenhang mit der Arbeitspflicht in der frühen Sowjetunion verwendet. Tatsächlich jedoch ist der Spruch fast zweitausend Jahre älter und stammt vom Apostel Paulus (2. Brief an die Thessalonicher, ca. 50 nach Chr.). Wörtlich verstanden und aus dem Zusammenhang gerissen ist die Forderung natürlich grausam und unsinnig – man denke nur an Kinder, Alte, Kranke. Umso interessanter ist der Kontext, in welchem ihn Paulus gebraucht: Nicht nur votiert er gegen das griechisch-römische Verständnis, dass ein freier Bürger nicht arbeitet. Vielmehr versteht der Apostel Paulus seine eigene Missionstätigkeit nicht als Arbeit, sondern er legt Wert darauf, dass er sich seinen Lebensunterhalt selbst verdient und seinen Gemeinden nicht zur Last fällt. Dasselbe fordert er auch von den Gemeindemitgliedern. Untätig und frömmelnd das nahe Weltende abzuwarten in der Gewissheit, dann auf der richtigen Seite zu stehen, lehnt Paulus entschieden ab. Von den Gestalten der Bibel wissen wir im historischen Sinne fast gar nichts, aber sehr häufig den Beruf. Und dieser Beruf ist nicht „Heiliger“, sondern Hirte, Bauer, Fischer, Zimmermann, Fischer, Zeltmacher, Soldat, König. Fünfhundert Jahre später finden wir dieselbe Denke in der Ordensregel des Benedikt von Nursia. „Müßiggang ist der Seele Feind.“ (48.1) Benedikt wettert scharf gegen die Bettelmönche und Säulenheiligen, die auf Kosten anderer leben und deren Frömmigkeit nur funktioniert, weil andere nicht so fromm sind, sondern arbeiten. In der Benediktiner-Regel heißt es über die Brüder: „Sie sind dann wirklich Mönche, wenn sie wie unsere Väter und die Apostel von ihrer Hände Arbeit leben.“ (48.8) Anachronistisch ausgedrückt: Zeichen setzen und Haltung zeigen, gilt nicht als Beruf.

Die Würde und Schönheit der Arbeit

Vor einiger Zeit las ich die Überschrift „Es ist menschenunwürdig, Geschirr abzuwaschen.“ Leicht könnte man diesen Satz auf andere anstrengende, schmutzige oder unter schwierigen Umständen stattfindende Tätigkeiten übertragen. Aber was ist unwürdiger daran, Teller abzuwaschen als Teller schmutzig zu machen? Als Paul Bocuse, der Grandseigneur der Gourmet-Küche 2018 starb, wurde er in einem Nachruf mit dem Satz zitiert: Gute Köche gibt es wie Sand am Meer, aber gute Spüler sind selten. Ich wiederhole mich: Jede Arbeit, wenn sie gut gemacht wird, trägt ihre Würde und Schönheit in sich.

Bevor ich das ein bisschen illustriere, möchte ich meine These an einigen kleinen persönlich erlebten Gegenbeispielen deutlich machen. Bei der Bundeswehr war das Essen grausam. Ich hatte mich jedoch mit einem der Köche angefreundet. Da er in meiner Heimatstadt wohnte, lud er mich zum Essen bei sich zu Hause ein. Ich freute mich sehr darauf, erstmalig in meinem Leben privat von einem gelernten Koch kulinarisch verwöhnt zu werden. Aber was gab es? Tiefkühlpizza und grünen Salat! Über die momentane Enttäuschung hinaus war es für mich ein Schlüsselbeispiel dafür, dass Menschen keine Freude und keinen Stolz in dem Beruf empfinden, den sie gewählt und erlernt haben. Hat eine solche Arbeit Würde?

Das zweite Schlüsselbeispiel stammt aus der Frühzeit meiner Berufstätigkeit in einem großen Konzern. Um für eine Broschüre einen Fotografen zu engagieren, hatten wir ein Angebot mit einem üblichen Tagessatz eingeholt und über die Einkaufsabteilung den Auftrag lanciert. Der Einkaufschef verweigerte jedoch die Auftragserteilung. Der Tagessatz sei zu hoch und überhaupt rechne man nur stundenweise ab. Wie lösten wir das Problem? Wir akzeptierten pro forma die niedrigeren Konditionen, aber dann rechnete der Fotograf ohne Protest des Einkäufers pro Tag mehr Stunden ab, als ein Tag überhaupt Stunden hat – so dass wir de facto wieder beim ursprünglichen Angebot waren. Ein solches Verständnis von Arbeit, ein solches Aufplustern in Scheinwelten, wie es im Verhalten des Einkaufschefs zum Ausdruck kommt, hat für mich keine Würde. Und – der kleine Seitenhieb sei mir gestattet – ich frage mich aktuell oft, ob eine Arbeit Würde hat und Stolz vermittelt, deren Berechtigung und Ziel allein darin besteht, anderen Menschen irgendein angebliches Fehlverhalten nachzuweisen.

Ich möchte mit diesen kleinen negativen Schlüsselerlebnissen deutlich machen, dass es durchaus so etwas gibt wie würdelose Arbeit, dass jedoch die Würdelosigkeit aus anderen Dingen entsteht als aus Schmutz oder Anstrengung.[15] Aber verlassen wir die Negativbeispiele und blicken auf die Schönheit der Arbeit.

In einem Beratungsprojekt interviewte ich Mitarbeiter aller Funktionen und Ebenen. Ich erinnere mich sehr gut an eine Frau aus Bosnien, so um die fünfzig Jahre alt. Sie sah gedrungen und muskulös aus, eben wie jemand, der hart gearbeitet hat. Sie erzählte zunächst von ihrem Lebensweg, wie sie als gelernte Ingenieurin nach dem Bosnienkrieg mit ihrem Kind ihre Heimat verlassen hatte, um in Deutschland in mehreren Hilfsjobs gleichzeitig Geld zu verdienen und davon immer einen Teil in die Heimat zu schicken. Die Ehe ging in die Brüche, sie war plötzlich alleinerziehend und Alleinverdiener – das ganze Programm. Und dann schließlich erzählte sie von ihrer gegenwärtigen Tätigkeit als Pflegehelferin – von der Arbeit und den Gesprächen mit den alten Menschen und von den Rückmeldungen, die sie dabei bekommt. Und plötzlich wurden die Gesichtszüge weich, sie begann zu strahlen und wurde schön.

Vor einigen Jahren ließ ich ein paar Holzteile herrichten. Der Schreiner war ein älterer Mann mit einer Werkstatt in einem Gartenhaus – ich fühlte mich wie bei Meister Eder. Er führte mir die restaurierten Holzteile vor, die alle in Seidenpapier eingepackt waren – für mich war es wie Weihnachten. Natürlich wird es bei der Arbeit gestaubt haben und natürlich wird irgendetwas nicht so geklappt haben wie gedacht. Aber wer wollte diesem Verhältnis zur Arbeit Schönheit und Würde absprechen?

Ein Onkel arbeitete bei den Stadtwerken und leitete einen Bautrupp, der ausrücken musste, wenn es Rohrbrüche oder ähnliche Probleme gab. Gemäß Murphy’s Gesetz passierten Rohrbrüche vorzugsweise nachts, an Wochenenden oder wenn es regnet. Natürlich wird mein Onkel mehr als einmal geflucht haben, erst recht, wenn das Problem vor Ort nicht so leicht zu beheben war. Aber gleichzeitig bezog er seinen Stolz genau daraus, dass seine Tätigkeit so unverzichtbar war und auch keinen zeitlichen Verzug duldete.

Freunde führen ein gutes Restaurant in Südtirol. Bei einem Kochkurs konnten wir erleben, mit welcher Sorgfalt und welchem Respekt vor den Zutaten in der Küche vorgegangen wird. Der Chefkoch hatte in der Jugend noch auf der Alm als Almbub gearbeitet. Er schilderte mir, mit welchem Respekt man die Tiere schlachtet, mit denen man mehrere Monate zusammengelebt hat. Da wird kein Teil des Tieres verachtet oder weggeschmissen, sondern möglichst alles verwendet. Oft sieht man die Reste des Vortages am nächsten Tag in veränderter Form wieder auf dem Teller. Übrigens gehört für diese Menschen auch dazu, vor dem Essen ein Gebet zu sprechen, weil nach ihrer Überzeugung trotz aller eigenen Arbeit und Anstrengung der Erfolg immer auch von Faktoren abhänge, die man nicht selbst beeinflussen könne – eine Haltung, die ich ganz unreligiös bei vielen gestalterischen Menschen erlebt habe.

Ich mag Weinbauern. Das ist nicht nur dem Snobismus eines Weintrinkers geschuldet. Vielmehr gefällt mir die Kombination zwischen Bauer und Künstler – und natürlich auch überhaupt Unternehmer und Verkäufer. Sie sind weltoffen und kreativ, stehen aber gleichzeitig mit beiden Beinen auf dem Boden. Ein renommierter Winzer in Franken lieferte den Wein beim Papstbesuch, er kann ganze Säle unterhalten, aber wenn man in den Weinort kommt, dann kann man leicht erleben, wie er mit dem Traktor im Weinberg unterwegs ist.

Die Verkäuferin in der Bäckerei oder Metzgerei: Sie macht ihre Arbeit mit Freude, schäkert mit Kunden, empfiehlt die heutige Kalbslende, gibt Hinweise zum Rezept und die Menschen verlassen den Laden mit einem Lächeln. Auch solche Arbeit hat Schönheit und Würde.

Ich könnte diese Liste mit Beispielen aus verschiedensten Berufen endlos fortsetzen. Mir geht es um keinen Arbeiter- und Bauernkitsch. Mir geht es nicht um irgendeine schale Bergmanns- oder Ruhrgebiets-Herzkammer-Romantik. Mit geht es um die Würde der Arbeit. Jenseits aller ökonomischen Modelle: Eine Arbeit, die gut gemacht wird, hat ihre Ästhetik. Sie ist einfach schön. Und sie macht nicht nur etwas mit der Welt. Sie macht auch etwas mit den Menschen, die arbeiten. Arbeit führt nicht einfach in einen plumpen Machbarkeitswahn. Immer wieder hat mich gerade bei Könnern ihres Fachs, egal ob Wissenschaftler, Musiker, Unternehmer oder Handwerker, diese Mischung aus Fleiß, Hartnäckigkeit, ruhigem Selbstbewusstsein und Bescheidenheit beeindruckt.

Meine Großmutter Berta Klopprogge stammte aus ärmsten Verhältnissen. Sie hat zwei Weltkriege, Inflation, Vertreibung, Vergewaltigung und deutsche Teilung erlebt. Sie hat von Kind an und ihr Leben lang als Landarbeiterin gearbeitet hat. In ihren Erinnerungen resümiert sie gerade in den schwersten Stunden: „Arbeit ist die beste Freundin des Menschen.“ Warum fällt es uns so schwer, das zu verstehen? Natürlich ist es schön, dass die meisten in unserem Land heute nur noch acht Stunden an fünf Tagen arbeiten müssen. Aber warum ist es automatisch besser, wenn es weniger wird? Wie kommen wir auf die abwegige Idee, dass Arbeit in irgendeinem Gegensatz zum Leben steht und damit in irgendeine Balance gebracht werden müsse? Oder wer Friedrich Engels mehr vertraut als meiner Großmutter: Warum sollten wir mehr Leben haben, wenn wir auf das verzichten, was uns aus Affen zu Menschen gemacht hat?

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Der Autor

Dr. Axel Klopprogge studierte Geschichte und Germanistik. Er war als Manager in großen Industrieunternehmen tätig und baute eine Unternehmensberatung in den Feldern Innovation und Personalmanagement auf. Axel Klopprogge hat Lehraufträge an Universitäten im In- und Ausland und forscht und publiziert zu Themen der Arbeitswelt, zu Innovation und zu gesellschaftlichen Fragen. Er ist Mitbegründer des renommierten Goinger Kreises. Gerade erschien sein Buch „Methode Mensch oder die Rückkehr des Handelns“.

Quellen

[1]       Beck, Linda / Westheuser, Linus, Verletzte Ansprüche. Zur Grammatik des politischen Bewusstseins von ArbeiterInnen, Berliner Journal für Soziologie 32 (2022) S.285f.

[2]       Das war tatsächlich ein Argument der Arbeitgeberseite gegen die ersten Bemühungen zur Begrenzung der Arbeitszeit oder der Kinderarbeit. Siehe z.B. die Petition der Fabrikinhaber der Firma Leyen & Cie. In Krefeld an die preußischen Kammern 1854. Quellen zur deutschen Wirtschafts- und Sozialgeschichte im 19. Jahrhundert bis zur Reichsgründung, hrsg. Von Walter Seitz, Bd. 36, Darmstadt 1980 S.316ff.

[3]       Marx, Karl, Das Kapital. Kritik der politischen Oekonomie Bd III, MEW Bd. 25, Berlin 1983 (posthum 1894) S.822

[4]       Schumpeter, Joseph, Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung, Nachdruck der 1. Auflage von 1912, herausgegeben und ergänzt um eine Einführung von Jochen Röpke und Olaf Stiller, Berlin 2006 (1912)  S.68

[5]       Ausführlich dazu Standortbestimmung, in: Goinger Kreis e.V. (Hrsg.), Grenzüberschreitungen zwischen Unternehmen und Gesellschaft. Herausforderungen im System Arbeit gemeinsam bewältigen, Hohenwarsleben 2019 S.308ff.

[6]       Hintergrund 7-8/2023 S.28

[7]       Klopprogge, Axel / Burmeister, Anne / Eichinger, Franz, Fernverbindung. Was man aus der Corona-Krise über virtuelle Führung und Zusammenarbeit lernen kann – und was nicht. Eine Studie des Goinger Kreises. Erster Zwischenbericht April 2020

[8]       Annekatrin Schrenker / Claire Samtleben / Markus Schrenker, Applaus ist nicht genug. Gesellschaftliche Anerkennung systemrelevanter Berufe, Aus Politik und Zeitgeschichte APUZ 13-15 (2021), Bundeszentrale für politische Bildung https://www.bpb.de/apuz/im-dienst-der-gesellschaft-2021/329316/gesellschaftliche-anerkennung-systemrelevanter-berufe Schrenker et al., Applaus 2021 S.2ff.

[9]       https://www.hallokarriere.com/purpose-unternehmen/

[10]      Constanze Ehrhardt, Mein Office, meine Oase https://cmk.faz.net/cms/microsite/14438/mein-office-meine-oase

[11]      Ortsbesichtigung. Warum manche Arbeiten an Orte gebunden sind und wie sich das durch  die Virtualisierung verändern könnte. Eine Studie des Goinger Kreises. Dezember 2022, von Axel Klopprogge, Anne Burmeister, Christina Erdmann, Eberhardt Jakobi, Heiko Mauterer, Nadja Sauerwein

[12]      Vgl. hierzu die Studie Beck /Westhäuser, Verletzte Ansprüche 2022 S.299ff.

[13]      https://www.welt.de/motor/article123516288/Wie-der-erste-Elektro-Golf-grandios-floppte.html

[14]      Siehe dazu etwa Douglas Murray, The Madness of Crowds. Gender, Race and Identity, London 2019 S.51ff.

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[15]      Vgl. viele Beispiele bei David Graeber, Bullshit Jobs. Vom wahren Sinn der Arbeit, Stuttgart 2019

 

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