Kriege

Afghanistan – Alles andere als sicher

Hinweis: Die Bilder sind aus den archivierten Hintergrund-Texten vor 2022 automatisch entfernt worden.

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Die Bundesregierung will keine Flüchtlinge aus Afghanistan mehr aufnehmen. Denn angeblich sei am Hindukusch kein “pauschaler Krieg” mehr. Die Wirklichkeit aber sieht anders aus. –

Von EMRAN FEROZ, 1. Dezember 2015 –

Vor wenigen Wochen machte die Bundesregierung deutlich, dass Flüchtlinge aus Afghanistan in Zukunft vermehrt aus Deutschland abgeschoben werden. Aufgrund der immensen „Entwicklungshilfe“, mit der man in den letzten Jahren das Land unterstützt habe, sei es unverständlich, warum viele Afghanen das Land verlassen, so der Tenor. „In Afghanistan herrscht kein pauschaler Krieg“, so Regierungssprecher Steffen Seibert auf einer Bundespressekonferenz. Was ein „pauschaler Krieg“ genau sein soll, wurde allerdings nicht erläutert.

Um diesen Schritt auch ernsthaft in die Tat umzusetzen, begann die Bundesregierung vor Kurzem, sowohl in den sozialen Netzwerken als auch auf den Straßen Kabuls in Form großer Plakate eine sogenannte „Informationskampagne“ zu starten. Konkret werden in Englisch sowie in den afghanischen Landessprachen Dari und Paschto kurze Informationen zum vermeintlich „wahren Leben“ in Deutschland verbreitet. Ziel der Kampagne ist es, Afghanen vor Ort, etwa in Städten wie Kabul, Herat oder Mazar-e Sharif, von einer Flucht abzubringen. „Es geht nicht um Abschreckung, sondern um Aufklärung“, meinte etwa einer der Regierungssprecher auf der Bundespressekonferenz. Bei genauem Hinsehen wird allerdings deutlich, dass plumpe Propaganda betrieben wird, damit die ungewollten Afghanen ja nicht das gelobte Deutschland als ihr Ziel auswählen. Nicht selten gewinnt man bei der Kampagne sogar den Eindruck, dass die Bundesrepublik teils bewusst schlechter dargestellt wird, als es eigentlich der Fall ist. (1)

Von einem Krieg in den nächsten

Bevor das Chaos in Syrien ausbrach, machten Menschen aus Afghanistan weltweit die größte Gruppe von Flüchtlingen aus. Gegenwärtig befinden sie sich nach den Syrern an zweiter Stelle – auch in Europa. Der Grund hierfür ist offensichtlich. Seit nun mehr als fünfunddreißig Jahren herrscht in Afghanistan Krieg. Nachdem die Sowjets einmarschierten, brach in den 1980er-Jahren ein Stellvertreterkrieg – ähnlich wie heute in Syrien – zwischen den damaligen Großmächten aus. Dieser fand mit dem Fall des Eisernen Vorhangs sein Ende, doch das Land driftete in den nächsten Krieg, der nun zwischen jenen Warlords ausgetragen wurde, die in den Jahren zuvor von den USA und ihren Verbündeten bewaffnet worden waren. Dieser Bürgerkrieg erreichte eine neue Phase der Eskalation, als die reaktionäre Taliban-Bewegung aufkam, weshalb einige Kriegsfürsten das Weite suchten. Andere hingegen schlossen sich im Kampf gegen die Taliban zusammen – womit wieder eine Art Stellvertreterkrieg ausbrach, an dem vor allem Iran, Russland, Indien, Pakistan aber auch die USA mitwirkten.

Nach den Anschlägen des 11. Septembers 2001 marschierte die NATO unter der Führung der USA ins Land ein. Sie blieb und mit ihr der Krieg. Heute, im Jahr 2015, ist der Krieg in Afghanistan wieder präsenter denn je, dasselbe gilt auch für die Taliban-Kämpfer, die 2001 aus Kabul verjagt wurden. Allein im ersten Halbjahr 2015 wurden laut UN mindestens 5 000 Zivilisten getötet. Viele davon wurden nicht nur Opfer der Taliban und anderer aufständischer Gruppierungen, sondern auch von NATO-Truppen sowie von Soldaten der afghanischen Armee und regierungstreuer Milizen, die oftmals von lokalen Kriegsfürsten kontrolliert werden.

Dies hat unter anderem dazu geführt, dass – ähnlich wie in den 1990er-Jahren – die Bewohner ganzer Städte sich erlöst fühlten, nachdem die Taliban ihre Gebiete erobert hatten. Ein vergleichbares Szenario fand auch vor wenigen Wochen in Kunduz im Norden des Landes statt. Wenige Tage nach dem islamischen Opferfest wurde die Hauptstadt der Provinz von wenigen hundert Taliban-Kämpfern überrannt und war zeitweilig unter deren vollständiger Kontrolle. Die zahlenmäßig überlegene Armee und Polizei – immerhin waren rund 7 000 von ihnen präsent – verließ all ihre Posten kampflos und ließ schweres Gerät zurück. Deren Erbeutung wurde von den Extremisten ausgiebig zur Schau gestellt. Zum gleichen Zeitpunkt machten zahlreiche „Selfies“, welche die Anwohner mit den Kämpfern gemacht hatten, die Runde. Diese betonten immer wieder, wie sehr sie die Tyrannei der Armee sowie der lokalen Milizen satt hatten.

Diesen Schluss zogen allerdings nicht nur die Menschen vor Ort, sondern auch politische Analysten und Beobachter. „Die Taliban konnten aufgrund der schwachen Zentralregierung in Kabul sowie der korrupten und gewalttätigen Milizen in Kunduz erfolreich expandieren“, meint etwa der US-amerikanische Politikwissenschaftler Jason Lyall von der Yale-Universität.

Bomben, Drohnen und Extremisten

Auch die NATO bewies in Kunduz ein weiteres Mal, wie sehr sie zum Eskalieren der Lage beitragen kann. Nachdem die afghanische Armee mittels einer umfangreichen Operation die Stadt wieder unter ihrer Kontrolle bringen wollte, erhielt sie auch massive US-amerikanische Luftunterstützung. Zum Ziel wurden allerdings nicht nur Bewaffnete, sondern auch Zivilisten. Am 3. Oktober wurde ein Krankenhaus der Organisation „Ärzte ohne Grenzen“ (MSF) angegriffen. Mindestens dreißig Menschen wurden dabei getötet. MSF sowie zahlreiche andere Organisation, unter anderem auch die UN, sprachen kurz darauf von einem Kriegsverbrechen. Mittlerweile belegen zahlreiche Berichte, dass das Krankenhaus, das einzige in der Region, in dem schwere Verletzungen behandelt wurden, sehr gezielt bombardiert wurde. (2)

„Es ist davon auszugehen, dass dieser Angriff die Antipathie gegenüber den westlichen Besatzern innerhalb der Bevölkerung stärken wird“, hebt Waheed Mozdah, ein politischer Analyst aus Kabul, hervor. Mittlerweile kam die US-amerikanische Regierung nach ihrer eigenen Untersuchung des Massakers, die alles andere als unvoreingenommen und unabhängig war, zum Schluss, dass ein „Fehler“ passiert sei. Schon kurz nach dem Angriff machte Washington eine äußerst fragwürdige Haltung deutlich, was unter anderem daran lag, dass es seine Sicht der Geschehnisse innerhalb kürzester Zeit ganze vier Mal änderte. MSF fordert weiterhin eine unabhängige Untersuchung. Ihr Personal wurde mittlerweile aus Afghanistan abgezogen. (3)

Die jüngsten Vorfälle in Kunduz sind allerdings kein Einzelfall. Tote Zivilisten, sprich: „Kollateralschäden“ des US-amerikanischen Militärs, gehören seit Jahren zum Alltag in Afghanistan. Einen maßgeblichen Beitrag dazu hat vor allem der Drohnen-Krieg, der unter anderem auch von Deutschland aus koordiniert wird, geleistet. Im Schatten der Weltöffentlichkeit ist Afghanistan weiterhin das am meisten von Drohnen bombardierte Land der Welt. Allein im Oktober fanden mindestens achtzig Luft- und Drohnen-Angriffe statt, die über zweihundert Menschen getötet haben. (5)

Dass diese Angriffe, die vor allem Zivilisten treffen, Extremismus und Aufstand regelrecht schüren, geben mittlerweile auch hochrangige US-Militärs zu. „Der Drohnen-Krieg produziert mehr Terroristen, als er tötet“, meinte etwa Michael T. Flynn, ein ehemaliger General der US-Armee und vormaliger Direktor des militärischen Geheimdienstes DIA, vor Kurzem. Aufgrund seiner kritischen Haltung zur US-Außenpolitik wurde Flynn, der unter anderem im Irak sowie in Afghanistan stationiert war, im vergangenen Jahr von seinem Posten verdrängt.

Dass der Extremismus in Afghanistan eine neue Stufe erreicht hat, wurde in den letzten Monaten deutlich. Mittlerweile lässt sich nämlich auch am Hindukusch ein Ableger des sogenannten „Islamischen Staates“ (IS) finden, der vor allem mit grausamen Massakern und Entführungen auf sich aufmerksam macht. So wurden etwa vor wenigen Wochen in der Provinz Zabul sieben Angehörige der Hazara, einer schiitisch-afghanischen Minderheit, von IS-Extremisten entführt und anschließend geköpft. Unter den Opfern befand sich auch ein neunjähriges Mädchen. (6)

Jene Afghanen, die aufgrund all dieser Dinge ihr Land verlassen wollen, sollen in Deutschland allerdings nicht willkommen sein. Stattdessen hat die Bundesregierung versichert, dass die Truppenstationierung am Hindukusch weiter aufgestockt wird. 980 Soldaten sollen bis Ende 2016 vor Ort verweilen.

Auf die Frage, warum ein Land, in dem Krankenhäuser bombardiert werden,  Drohnen Menschen jagen und Fanatiker Kinder köpfen, als „sicher“ betrachtet wird und warum man in diesem vermeintlich sicheren Land seine eigenen Soldaten stationieren muss, fehlt allerdings jegliche Antwort.


 

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Anmerkung

(1) In den Sozialen Medien ist die Kampagne vor allem unter folgender Facebook-Seite präsent: https://www.facebook.com/germanyinafghanistan
(2) Ausführliches von MSF: http://www.msf.org/topics/kunduz-hospital-airstrike
(3) http://www.latimes.com/world/middleeast/la-fg-afghanistan-kunduz-airstrike-20151124
(4) -story.html
(5) https://www.thebureauinvestigates.com/2015/11/02/at-least-80-us-airstrikes-hit-afghanistan-in-october-the-white-houses-covert-drone-and-air-war-monthly-update/
(6) https://www.washingtonpost.com/news/worldviews/wp/2015/11/12/the-beheading-of-a-9-year-old-girl-prompted-huge-protests-in-afghanistan/

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