Zweiter Weltkrieg

Ahnungslose Erben

Wenn wir jetzt, 80 Jahre nach dessen Ende, auf den Zweiten Weltkrieg zurückschauen, dann sind wir in akuter Gefahr, erneut die Sichtweise der lautstärksten Siegermächte zu übernehmen und diejenige der Opfer zu vernachlässigen. Die im Krieg teuer erkaufte Neuordnung der Welt wird heute ausgerechnet von jenen infrage gestellt, die ihren Sieg vergleichsweise einfach errangen, und von jenen, die für ihre Rolle im Krieg nie richtig zur Verantwortung gezogen wurden.

1748614380

Foto: Arcaion; Quelle: Pixabay; Lizenz
Lizenz, Mehr Infos

Es kann hier nicht darum gehen, ein einseitiges Geschichtsbild zu revidieren. Das wäre per se noch ein akademisches Problem. Einseitigkeit, Unkenntnis und die Weigerung, die Sichtweise anderer kennenzulernen, führen aber dazu, dass wir die historischen Erfahrungen anderer Staaten nicht kennen und ihr Verhalten weder voraussehen noch verstehen können – mit fatalen Folgen, wie sich gerade heute in der Ukraine zeigt.

Hollywood feiert sich selbst und deutsche Generäle waschen sich rein

Hollywood hat mit historisch unpräzisen und teilweise tendenziösen Filmen das Bild des Zweiten Weltkriegs in der westlichen Welt geprägt. 1 Wer im postsowjetischen Raum unterwegs ist, weiß aber, dass dort bis heute die Erinnerung an den Großen Vaterländischen Krieg, wie der deutsch-sowjetische Krieg von 1941 bis 1945 auch genannt wird, in zahlreichen Filmen gepflegt wird. Selbst nach dem Ende des Kalten Kriegs haben aber Filme aus Russland den Weg nach Westen ebenso wenig gefunden wie Hollywood-Streifen jenen nach Osten.

Dazu kommt, dass gerade im deutschsprachigen Raum die Sicht auf den Krieg von den Arbeiten der zahlreichen deutschen Generäle geprägt ist, die nach Kriegsende im Dienst der US Army die Ereignisse des Krieges mit aufarbeiteten und dabei nicht selten sich selbst zu rehabilitieren suchten. 2 Traditionellerweise läuft diese Geschichtsschreibung darauf hinaus, dass der angeblich überlegene deutsche Soldat nur durch die gewaltige materielle und zahlenmäßige Überlegenheit von skrupellos kämpfenden Gegnern geschlagen werden konnte. Besonders beliebt ist auch das Narrativ vom unfähigen Feldherrn Adolf Hitler, dessen Einmischung ins Kriegsgeschehen an der Front zahlreiche Niederlagen und hohe Verluste verursacht habe. Hier gesellt sich dann gerne auch noch die Mär von der angeblich sauberen Wehrmacht dazu. Der Weg zu revisionistischen Thesen ist dann nicht weit.

Sieg der Westalliierten

Die Betrachtung des Endzustands vom Frühsommer 1945 legt nahe, die USA und Großbritannien als die großen Sieger des Krieges zu bezeichnen, die sich noch viel mehr als die anderen drei offiziellen Siegermächte durchsetzen konnten.

Während die Sowjetunion in Fragen der Neuordnung Osteuropas ihren Einfluss wahren konnte – wobei die Regelung der Einflusssphären auf der Moskauer Konferenz vom 9. bis 20. Oktober 1944 zwischen Churchill und Stalin wohl einen Meilenstein darstellt –, blieb sie im Falle Japans außen vor: Hier setzten die Amerikaner insbesondere die Beibehaltung des japanischen Kaiserhauses und den Verzicht auf eine strafrechtliche Verfolgung von Kaiser Hirohito durch. Ob nun der Abwurf der Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki Japan zur Kapitulation zwang oder die sowjetische Invasion in der Mandschurei, bleibe dahingestellt. Der Beitrag der Sowjetunion hierzu ist im Westen allemal wenig bekannt.

Die Neuordnung des globalen politischen Systems mit den 1945 in San Francisco gegründeten Vereinten Nationen im Zentrum war eines der Lieblingsprojekte des kurz vor Kriegsende verstorbenen US-Präsidenten Roosevelt gewesen. Auch bei der Schaffung eines neuen Finanzsystems auf der Konferenz der Finanzminister und Notenbankpräsidenten in Bretton Woods im Juli 1944 setzten sich US-amerikanische Vorstellungen durch.

Rasch zeigte sich nach dem Krieg, dass die USA nur bedingt bereit waren, ihren europäischen Verbündeten zu helfen, ihre Kolonialreiche zu bewahren. Die Völker Afrikas und Asiens hatten begriffen, dass ihre europäischen Kolonialherren nicht unschlagbar waren, und sie forderten den Lohn für ihre Anstrengungen im Kampf gegen Deutsche, Italiener und Japaner. Erst die Sorge vor einem kommunistischen Umsturz weltweit brachte die Amerikaner dazu, sich an die Seite der europäischen Kolonialmächte zu stellen.

Großbritannien hatte – wenn man von den Inseln im Ärmelkanal einmal absieht – keine Besetzung durch feindliche Truppen erdulden müssen, hingegen Schäden durch deutsche Luftangriffe erlitten. Die USA waren von beidem fast gänzlich verschont geblieben. Die menschlichen Opfer, die der Krieg von Briten und Amerikanern forderte, waren mehrheitlich Militärpersonal, ganz im Gegensatz zur Mehrheit der anderen kriegführenden Länder, wo die Zivilbevölkerung in ganz erheblichem Maße ihren Blutzoll zu entrichten hatte.

Völlig anders muss der Rückblick aus der Sicht der Sowjetunion aussehen, die im Krieg gegen Deutschland und seine europäischen Verbündeten die Hauptlast getragen hatte. 3 Aus seiner ideologisch bestimmten Betrachtungsweise heraus hätte Stalin vor dem Krieg lieber in einer neutralen Position zugeschaut, wie sich die feindlichen, „kapitalistischen“ Mächte des Westens gegenseitig die Felle zerrissen, musste aber nach 1933 rasch erkennen, dass seine Sowjetunion Hauptangriffsziel des nationalsozialistischen Deutschlands werden würde. 4 Seit den späten 1920er Jahren hatten die Sowjets die meisten ihrer europäischen Nachbarn und die großen europäischen Länder als feindlich eingestuft und stets die Entstehung einer umfassenden Koalition gegen die Sowjetunion befürchtet. 5 Britische Appeasement-Politik und westliche Untätigkeit in den Vorkriegsjahren mögen in Moskau auch den Verdacht geweckt haben, dass politischen Kreisen im Westen ein deutsch-sowjetischer Krieg gar nicht so ungelegen kommen könnte. In der Tat gab es in den USA und in Großbritannien Kreise, die glaubten, Deutschland instrumentalisieren zu können, oder die sogar Sympathien für das „Dritte Reich“ hegten. 6 Mit dem deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakt vom August 1939 – auch Ribbentrop-Molotow- oder Hitler-Stalin-Pakt genannt – glaubte Stalin, vorerst eine mögliche gesamteuropäische Allianz gegen die Sowjetunion verhindert und gleichzeitig seinen Hauptgegner aus der Zwischenkriegszeit, nämlich Polen, ausgeschaltet zu haben. Nach dem deutschen Angriff auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941 kämpfte die Sowjetunion auf Seiten einer Allianz mit den stärksten Industrienationen der damaligen Zeit. Die pessimistischsten Prognosen des Jahres 1928 waren nicht eingetreten – immerhin.

Mit dem Ausscheiden Finnlands, Rumäniens, Bulgariens und Ungarns aus dem Krieg und ihrem Seitenwechsel im Herbst 1944 hatte innerhalb von drei Monaten ein geradezu atemberaubendes Renversement des Alliances stattgefunden. 7 Als die Rote Armee schließlich am 8. Mai 1945 im Herzen Deutschlands stand, waren die Befürchtungen der 1920er Jahre verflogen. Das alles war aber zu einem fürchterlich hohen Preis erkauft worden: Die unvorstellbar hohe Zahl von 27 Millionen getöteten Sowjetbürgern spricht für sich selbst.

Den vollständigen Text lesen Sie in der aktuellen Ausgabe 5/6 2025 unseres Magazins, das im Bahnhofsbuchhandel, im gut sortierten Zeitungschriftenhandel und in ausgewählten Lebensmittelgeschäften erhältlich ist. Sie können das Heft auch auf dieser Website (Abo oder Einzelheft) bestellen.

RALPH BOSSHARD, Oberstleutnant i.G., war Berufsoffizier der Schweizer Armee, u.a. Ausbilder an der Generalstabsschule und Chef der Operationsplanung im Führungsstab der Armee. Nach der Ausbildung an der Generalstabs-Akademie der russischen Armee in Moskau diente er als militärischer Sonderberater des Ständigen Vertreters der Schweiz bei der OSZE, als Senior Planning Officer in der Special Monitoring Mission to Ukraine und als Operationsoffizier in der Hochrangigen Planungsgruppe der OSZE. Zivilberuflich ist Ralph Bosshard Historiker.

1 Das wohl extremste Beispiel hierfür ist der US-amerikanischer Kriegsfilm U-571 aus dem Jahr 2000, der von der Erbeutung der Verschlüsselungsmaschine Enigma an Bord eines deutschen U-Bootes durch die US Navy handelt. Die erste vollständige Enigma wurde am 9. Mai 1941 an Bord des deutschen U-Boots U 110 vom brit. Kriegsschiff HMS Bulldog erbeutet. Das amerikanische Machwerk beschäftigte zeitweise sogar das brit. Parlament. Siehe „U-boat film an ‚affront‘, says Blair“, in: BBC News, 7. Juni 2000, http://news.bbc.co.uk/1/hi/ uk/781858.stm. Ein weiterer derartiger Fall ist der Film Gesprengte Ketten über den Ausbruch alliierter Kriegsgefangener aus einem deutschen Gefangenenlager in Schlesien. Unter den Ausbrechern befand sich beispielsweise nicht ein einziger US-Soldat. Vgl. Jane Warren, „The Truth About The Great Escape“, in: Express, 7. August 2008, https://www.express.co.uk/expressyourself/56001/The- Truth-About-The-Great-Escape
2 Die historische Abteilung des US-Generalstabs umfasste zeitweise eine deutsche Sektion, die vom ehemaligen Generalstabschef Franz Halder geführt wurde. Siehe Ronald Smelser, Edward J. Davies, The Myth of the Eastern Front:
The Nazi-Soviet War in American Popular Culture, New York, S. 65, https://dokumen.pub/the-myth-of-the-eastern-front-the-nazi-soviet-war-in- american-popular-culture-0521833655-9780521833653.html
3 In den Jahren 1941 bis 1945 betrug der Anteil der Personalverluste der Wehrmacht auf dem sowjet. Kriegsschauplatz nie weniger als 80 Prozent.
4 Schon kurz nach der Machtübernahme Hitlers war dem sowjetischen Nachrichtendienst die Liebmann-Aufzeichnung übermittelt worden, eine Zusammenfassung der Rede Hitlers am 3. Februar 1933 vor den Spitzen der Reichswehr, in welcher er seine Kriegspläne offenlegte. Sie ist online verfügbar unter https://www.1000dokumente.de/index.html?c=dokument_ de&dokument=0109_hrw&object=pdf&st=&l=de
5 Im Jahr 1928 wies der damalige Generalstabschef Michail N. Tuchatschewski den Nachrichtendienst der Roten Armee an, eine umfassende Lagebeurteilung ausarbeiten. Das Werk „Der zukünftige Krieg“ beschreibt sehr detailliert die Umrisse eines zukünftigen Krieges und benennt die potenziellen Gegner. Eine Zusammenfassung und Beurteilung durch И.В. Федотова (I.W. Fedotowa): „Будущая война“: опыт аналитического предвидения военного конфликта практиками разведки РККА, bei Исторический архив Омской области, 28. Oktober 2022, S. 55–64, https://iaoo.ru/files/articles/2022/Fedotova_RKKA.pdf, in russ. Sprache
6 In Großbritannien zeigte namentlich das Clivenden Set Sympathien für das Regime Hitlers. Siehe Ian Kershaw, Hitlers Freunde in England. Lord Londonderry und der Weg in den Krieg, München 2004, S. 254, und John Taylor, A Reevaluation of Cockburn’s Cliveden Set, San Francisco State University 1999, http://userwww.sfsu.edu/~epf/1999/taylor.html

Newsletter

Wir senden keinen Spam! Erfahren Sie mehr in unserer Datenschutzerklärung.

Der Hintergrund-Newsletter

Wir informieren künftig einmal in der Woche über neue Beiträge.

Wir senden keinen Spam! Erfahren Sie mehr in unserer Datenschutzerklärung.

Abo oder Einzelheft hier bestellen

Seit Juli 2023 erscheint das Nachrichtenmagazin Hintergrund nach dreijähriger Pause wieder als Print-Ausgabe. Und zwar alle zwei Monate.

Hintergrund abonnieren

Drucken

Drucken

Teilen

Voriger Artikel Kriege „Die Ukraine hat den Krieg provoziert“
Nächster Artikel Kriege Mittel gegen die Verwahrlosung der Wahrheit: Buch über Wurzeln des Ukraine-Krieges