Kriege

Aufständische übernehmen die Macht in Kundus

Hinweis: Die Bilder sind aus den archivierten Hintergrund-Texten vor 2022 automatisch entfernt worden.

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Kundus, das einmal eine der stabilsten Provinzen war, wird zunehmend von den Taliban kontrolliert –

Von GUL RAHIM NIAZMAND, 20. Oktober 2009 –

Das Fahrzeug ist als Eigentum des Polizeihauptquartiers der Provinz Kundus gekennzeichnet, aber die Insassen sind nicht notwendigerweise Staatsdiener.

Die Taliban haben kürzlich im Bezirk Chahr Dara in der Provinz Kundus acht Polizeifahrzeuge des Typs Ford Ranger Pickup erbeutet, und sie fahren auch damit herum. Es ist nicht schwer, zu erkennen, wer die Autos fährt. Wenn Taliban hinter dem Steuer sitzen, erschallen islamische und nationale Gesänge aus den Lautsprechern auf dem Dach der Autos, und die Insassen haben den Arm um die Schultern ihrer Nachbarn gelegt und freuen sich.

Manchmal fahren die Taliban auch auf Motorrädern, wenn die Wege zu schmal oder zu schwierig für die Pickups sind. Dann haben sie ihre Köpfe und Gesichter mit karierten Halstüchern umwickelt. Gerade ist eine Gruppe Taliban auf Motorrädern auf dem Weg nach Chahr Dara vorbei gebraust und in einer Staubwolke verschwunden.

Die Taliban haben den Bezirk vollkommen unter Kontrolle. Sie haben ihre eigene islamische Herrschaft errichtet und können sich ohne Angst offen in den Dörfern und Basaren bewegen. Die Regierung hat hier keine Autorität mehr.

„Wir kontrollieren nur noch das Büro des Gouverneurs,“ sagte Abdul Wahid, der Gouverneur des Bezirks Chahr Dara. „Außerhalb seiner Mauern haben wir überhaupt nichts mehr zu sagen. Wenn die Leute ein Problem haben, kommen sie nicht mehr ins Büro des Gouverneurs – sie gehen zu den Taliban.“

In vier weiteren Bezirken herrscht etwa die gleiche Situation. Die Stadt Kundus, die Hauptstadt der Provinz, ist von Gebieten umgeben, die der Kontrolle der Regierung fast entzogen sind.

Der Bezirk Archi, 50 Kilometer nördlich von Kundus, steht wie Chahr Dara völlig unter Talibanherrschaft. Der Bezirk Ali Abad, 25 Kilometer südlich von Kundus, wird größtenteils von den Fundamentalisten beherrscht. Der Bezirk Imam Saheb, 70 Kilometer nördlich von Kundus, ist der Kontrolle der Regierung fast völlig entglitten, und im Bezirk Khan Abad, 25 km östlich von Kundus, kontrolliert die Regierung gerade noch das Bezirkszentrum und einige nahe gelegene Dörfer.

Noch vor einem Jahr galt die Provinz Kundus als stabil, die Geschäfte boomten, und die Bewohner waren voller Hoffnung.

Afghanische und ausländische Offizielle bieten viele Erklärungen für die Veränderung an. Die angebotenen Gründe und Erklärungen sind so unterschiedlich wie fantasievoll. Jeder hat eine Theorie, aber keiner scheint im Stande zu sein, Beweise für seine Theorie zu liefern.

Der Gouverneur von Kundus, Ingenieur Mohammad Omar, macht Pakistan für das Erstarken der Aufständischen verantwortlich.

Bis vor kurzem kam der größte Teil des Nachschubs für die internationalen Streitkräfte in Afghanistan über Pakistan, den südlichen Nachbarn Afghanistans, und Islamabad kassierte riesige Geldbeträge an Steuern und Zöllen.

Aber wegen der zunehmenden Unsicherheit auf den Nachschubstraßen durch Pakistan begannen einige NATO-Staaten ihren Kraftstoff und anderen Bedarf von Tadschikistan über den Hafen Sher Khan am Grenzfluss zwischen Tadschikistan und Afghanistan nach Kundus zu bringen.

„Wenn die logistische Versorgung der NATO über den Hafen Sher Khan nach Afghanistan erfolgt, wird das wirtschaftliche Vorteile für die Region und Afghanistan bringen,“ sagte der Gouverneur (von Kundus). „Das will Pakistan nicht hinnehmen, weil es dann die Einkünfte verliert, die es durch die NATO-Transporte erhält. Deshalb versucht es, die Situation in diesem Gebiet zu destabilisieren, damit die NATO gezwungen ist, ihre Versorgung wieder über Pakistan laufen zu lassen.

Pakistanische Offizielle in Kabul wollten sich zu dieser Anschuldigung nicht äußern. Oberstleutnant Carsten Spiering, der Sprecher des deutschen Rekonstruktionsteams für die Provinz Kundus, hat nicht bestritten, dass die Änderung der Nachschubrouten zum Teil für die wachsende Unruhe in der Provinz verantwortlich sein könnte.

„Es gibt mehrere Gründe für die sich verschlechternde Sicherheitssituation in Kundus, und einer davon besteht darin, dass die Streitkräfte der NATO- und der US-geführten Koalition ihre Versorgungskonvois jetzt über den Hafen Sher Khan umleiten,“ sagte er ohne weitere Erklärungen.

Gouverneur Omar ergänzte, die Taliban seien auch durch die geringe Polizeipräsenz in Kundus ermutigt worden.

„Wenn die Polizei ein Gebiet überprüft, laufen die Aufständischen weg und verbergen sich,“ sagte er. „Sie sind nicht stark genug, um sich einem offenen Kampf zu stellen. Weil die Aufständischen keine festen Positionen haben, kann die Polizei auch keine Front gegen sie bilden. Die Aufständischen führen nur Guerilla-Aktionen durch.“

Mohammad Razaq Yaqubi, der Polizeichef von Kundus, lastet die Sicherheitsprobleme den Rauschgiftschmugglern in Kundus an.

„Die Taliban versuchen, den Anbau (von Mohn) und die Produktion von Opium in dieser Region auszuweiten,“ sagte er. „Die Kämpfe in Kundus werden von der Rauschgiftmafia angezettelt, die im Namen des Islams agiert.“

Yaqubi forderte die internationalen Streitkräfte auf, den Kampf mit den Schmugglern aufzunehmen.

„Sie müssen gegen sie kämpfen,“ betonte er. „Al-Qaeda verdient einen großen Teil ihres Geldes mit Rauschgift und kauft damit militärische Ausrüstung.“

In Kundus hat es in den letzten drei Jahren keinen Mohnanbau gegeben, aber Rauschgiftexperten schätzen, dass es das Haupttransitgebiet für den Opium- und Heroinschmuggel über Tadschikistan oder Usbekistan nach Russland und Europa ist.

Der politische Analytiker Ghulam Haidar glaubt, dass Ausländer hinter der wachsenden Unsicherheit in Kundus stecken. Haidar behauptet, die Koalitionsstreitkräfte seien für die Ausbildung und das Ausrüsten der Aufständischen verantwortlich, weil sie die Unsicherheit nach Zentralasien tragen wollten.

„Die Vereinigten Staaten wollen sich eine Basis schaffen, von der aus sie Russland bedrohen können,“ erklärte er. „Das politische Interesse der USA an Zentralasien ist kein Geheimnis. Die Vereinigten Staaten können ihre Ziele nur erreichen, wenn die Taliban über den Fluss Oxus, der auch Amu Darya heißt und die Grenze zwischen Afghanistan und den Ländern Tadschikistan und Usbekistan bildet, nach Norden vordringen. Dann können die US-Streitkräfte ihnen folgen und ihren ‘Krieg gegen den Terror’ auch nach Zentralasien ausweiten.“

Haidars Annahme scheinen auch die Einwohner des Bezirks ChahDara zu teilen. Ein Einheimischer, der seinen Namen nicht preisgeben wollte, bestand darauf, dass die Taliban von den Vereinigten Staaten unterstützt werden.

„Ich habe es mit meinen eigenen Augen gesehen,“ sagte er. „Als ich abends mein Vieh nach Hause trieb, sah ich Taliban aus amerikanischen Hubschraubern klettern. Sie luden auch Motorräder aus den Hubschraubern aus. Später ging ein örtlicher Mullah, den ich sehr gut kenne, zu den Amerikanern, um mit ihnen zu sprechen, und dann flogen die Hubschrauber wieder weg.“

Captain (Hauptmann) Elizabeth Mathias, eine Sprecherin der US-Streitkräfte in Afghanistan, bestritt diese belastenden Angaben.

„Die Vereinigten Staaten unterstützen keine Talibankämpfer und wollen den Konflikt auch nicht nach Zentralasien ausweiten. … Mit Afghanistan und Pakistan und besonders mit der Instabilität dieser beiden Staaten haben die Streitkräfte der USA und der NATO genug zu tun,“ sagte sie.

„Die Gerüchte halte ich ehrlich für eine spontane Reaktion der Leute, die versuchen, die schwierige Situationen zu verstehen, in der sie sich befinden. … Regierungs- und Koalitionstruppen setzen die Kämpfe gegen die destabilisierenden Kräfte in der Region fort und versuchen natürlich ihre Anstrengungen den Einwohnern von Kundus zu vermitteln,“ (erklärte sie).

Ein weiteres Problem, das den Einfluss der Taliban gefördert haben könnte, ist die Auffassung der Paschtunen, dass die NATO und die Koalitionsstreitkräfte nur Krieg gegen eine ethnische Gruppe – die Paschtunen – führen.

Die Taliban sind überwiegend Paschtunen, und der Krieg wird vor allem in Paschtunen-Gebieten geführt. Das hat nach Meinung Haidars zu einer Solidarisierung unter den Paschtunen geführt und zu der Bereitwilligkeit, die Aufständischen zu unterstützen, um Rache zu üben oder ihren Schutz zu suchen.

„Wo auch immer Paschtunen leben, gibt es Zusammenstöße, bei denen Zivilisten getötet werden,“ sagte er. „Dieser Krieg wurde den Paschtunen aufgezwungen, aber sie wollen ihn nicht mehr.“

Ereignisse wie die Bombardierung im Bezirk Chahr Dara am 4. September, als das deutsche Militär einen Luftangriff auf zwei Treibstofflaster veranlasste, die von den Taliban entführt worden waren, steigern nur die Wut der Einheimischen.

Mehrere Dutzend Zivilisten wurden getötet, als die Bomben eine Gruppe Menschen trafen, die um die Fahrzeuge versammelt waren. Die Deutschen sagen, sie hätten sie alle für Aufständische gehalten; aber es waren vor allem Dorfbewohner, die versuchten, etwas kostenlosen Kraftstoff aus den Lastwagen abzuzapfen.

Abdul Wahid, der Gouverneur des Bezirks Chahr Dara, macht die Untätigkeit der Regierung für die (schlimme Entwicklung) verantwortlich.

„Am Anfang gab es sehr wenige Taliban, und die Regierung hätte sie besiegen können,“ meinte er. „Aber sie ignorierte das Problem. Jetzt werden die Aufständischen täglich stärker.“

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Der Autor: Gul Rahim Niazmand ist Praktikant des IWPR in Kundus. Das britische Institute for War & Peace Reporting / IWPR will sich nach eigenen Angaben mit unabhängiger, fairer Berichterstattung für Frieden und Demokratie einsetzen (s. http://www.iwpr.net/?p=&apc_state=henh&s=o&o=top_aims.html ).

Übersetzung: Wolfgang Jung, Friedenspolitische Mitteilungen – Luftpost Kaiserslautern http://www.luftpost-kl.de/
Der Artikel erschien im Original am 12. Oktober 2009 unter dem Titel "Insurgents Taking Charge in Kunduz " auf der Webseite des IWPR.

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