Bundeswehr soll "konventionell zur stärksten Armee Europas" werden. Egal, was es kostet
Die Bundesregierung will aufrüsten und mehr Geld für die Bundeswehr ausgeben. Das hat Folgen.
Foto: planet_fox; Quelle: pixabay; LizenzDer neue Bundeskanzler Friedrich Merz (CDU) formulierte in seiner ersten Regierungserklärung am 14. Mai 2025 ein sehr ambitioniertes Ziel: Die Bundesregierung werde der Bundeswehr alle finanziellen Mittel zur Verfügung stellen, die sie brauche, „um konventionell zur stärksten Armee Europas zu werden“. 1
Im Folgenden konzentriere ich mich darauf, dieses von Merz proklamierte Ziel im Hinblick auf die sicherheits- und finanzpolitischen Aspekte kritisch zu betrachten.
Sicherheitspolitische Betrachtung – Bedrohung und Fähigkeiten
Der Startschuss zum unbedingten Aufrüstungswillen Deutschlands fiel bereits bei der Münchner Sicherheitskonferenz 2014, an der ich seinerzeit teilnahm. In einer konzertierten Aktion von Bundespräsident Joachim Gauck, Außenminister Franz-Walter Steinmeier und Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen wurde damals eine stärkere Verantwortungsübernahme, so der euphemistische Begriff für militärisch basierte Machtpolitik, verkündet. Steinmeier brachte es auf der Konferenz mit der berühmt gewordenen Metapher „Deutschland ist zu groß, um Weltpolitik nur von der Außenlinie zu kommentieren“ zum Ausdruck. Mit dieser Aussage formulierte er nichts weniger als einen globalen Gestaltungsanspruch für Deutschland – natürlich integriert im Vehikel EU. Auf derselben Linie bewegt sich Jahre später Friedrich Merz. Und damit der deutsche Michel den Gestaltunganspruch der politischen und medialen Eliten mit euphemistischen Worten verpackt und finanziell sehr belastend für Deutschland auch akzeptiert, muss eine fragwürdige Bedrohungsanalyse her: Der Russe werde Deutschland, werde Europa – und dies gelte als nahezu „gesichert“ verbreitete Erkenntnis – zeitnah angreifen, wenn die Ukraine den Krieg verlieren sollte, meint auch Carlo Masala in seinem Buch Wenn Russland gewinnt.
So äußern sich derzeit jene sogenannten Militär- und Sicherheitsexperten, die bislang hinsichtlich des Ukraine-Krieges mit ihren Einschätzungen und Prognosen ebenso gesichert danebenlagen und nun den Panik- und Aufrüstungsdiskurs in Deutschland voranzutreiben suchen. Daher müsse die Ukraine bedingungslos, „whatever it takes“, unterstützt werden und zugleich Europa – gemeint ist EU-Europa – aufrüsten. Dies sei alternativlos, wenn es nicht noch gefährlicher und teurer für EU-Europa werden solle. Ob Moskau diese ihm unterstellten Absichten wirklich hat, darüber kann man trefflich streiten, da niemand in die Köpfe der russischen Politikentscheider schauen kann. Und faktenorientiert betrachtet, muss man feststellen: Russland kämpft seit Jahren sehr verbissen in der Ostukraine um jeden Meter mit enormen personellen und materiellen Verlusten. Eine erfolgreiche Bodenoffensive schaut anders aus. Nun soll Russland demnächst Polen und Deutschland angreifen? Solche Thesen sind gelinde gesagt steil. Selbst wenn die russische Armee mit ihren konventionellen Waffenfähigkeiten bis zum Brandenburger Tor vorstieße, wie wollte Moskau die Territorien zwischen Kiew und Berlin dauerhaft kontrollieren angesichts der sicherlich zu erwartenden gesellschaftlichen Widerstände? Und hier sind wir auch beim Kern der Analyse. Über welche finanziellen, personellen und somit auch militärischen Ressourcen verfügt die Russische Föderation im Vergleich zu EU-Europa?
Im Jahr 2024 lagen die Militärausgaben der EU-Mitgliedsstaaten insgesamt bei 326 Milliarden Euro, laut der Homepage des Europäischen Rates und des Rates der Europäischen Union.2 Russland gab im militärischen Bereich laut Statista 2024 etwa 109 Milliarden Dollar aus, was umgerechnet (Stand 2. Juni 2025) rund 95 Milliarden Euro sind. 3
Das Verhältnis der Militärausgaben zwischen den EU-Mitgliedsstaaten und Russland lag somit bei etwa 3,4:1. Selbst kaufkraftbereinigt würden die russischen Militärausgaben in Höhe von ca. 110 Mil- liarden Euro im Jahr 2025 etwa 340 Milliarden Euro ausmachen – lägen mithin etwas über den Militärausgaben der EU. Daher lohnt es, auch die personellen und materiellen Kräfteverhältnisse zwischen den EU-Staaten und Russland in ein Verhältnis zu setzen.
Da es schwierig ist, Quellen zur aktiven Personalstärke aller EU-Länder zu identifizieren, greife ich auf die Kategorie „europäische NATO-Staaten“ zurück. Das Verfahren ist angesichts der weitgehenden Doppelmitgliedschaft von EU-Staaten und NATO-Staaten vertretbar. So befinden sich laut einer Greenpeace-Studie aus dem Jahr 2024 in den europäischen NATO-Staaten rund zwei Millionen Soldaten und in der Russischen Föderation etwa 1,3 Millionen Soldaten im aktiven Dienst. 4
Im Bereich der konventionellen Großwaffensysteme, wie Schiffe, Kampfflugzeuge, Kampfpanzer und Artillerie, liegen die europäischen NATO-Staaten quantitativ deutlich vor Russland. Zwar sagen diese Zahlen noch nichts über die tatsächliche Einsatzbereitschaft des Personals, der Waffensysteme sowie deren Leistungsfähigkeit aus. Dennoch besteht die landläufige Meinung, die westlichen Waffensysteme seien nicht nur an Quantität, sondern auch Qualität den russischen überlegen.
Allein vor dem Hintergrund der quantitativen Überlegenheit hinsichtlich der Großwaffensysteme und aktiven Soldaten der EU muss die Diskussion um eine massive Ausgabenerhöhung zur Aufrüstung vom Kopf auf die Füße gestellt werden. Denn nun stellt sich die Frage, warum die EU, die bereits ein Mehrfaches an Großwaffensystemen und Personalstärken gegen- über Russland besitzt, noch mehr benötigt. Es geht doch nach eigenem Bekunden nur um die Abschreckung und im Zweifel Verteidigung des EU- und NATO-Gebiets in Europa. Hinzu kommt noch ein weiterer, der entscheidende Punkt: Russland ist die größte Atommacht der Welt.
Atomwaffen
Eine Staatsführung – hier die russische –, die ungeachtet der Qualität und Quantität ihrer militärischen Fähigkeiten ihre politischen Absichten auf Angriff gegen einen anderen Atomwaffenstaat (hier USA) oder dessen unter dem Nuklearschutzschild befindlichen Verbündeten (europäische NATO-Staaten) richten würde, beginge faktisch Selbstmord. Und damit sind wir beim Kern der Gegenargumentation hinsichtlich einer massiven Aufrüstung, einer erforderlichen „Kriegstüchtigkeit“, um es mit den Worten des deutschen Verteidigungsministers Boris Pistorius auszudrücken.
Früher wie auch heute, 35 Jahre nach dem Ende des Kalten Krieges, galt und gilt die Doktrin der „Mutual assured destruction“ (MAD), also der gesicherten gegenseitigen Vernichtung, garantiert durch die Möglichkeit eines nuklearen Gegenschlags, die wiederum durch die „nukleare Triade“ abgesichert ist. Die nukleare Triade bedeutet, dass Nuklearsprengköpfe auf diversen Trägersystemen in der Luft (Boden-Luft-Systeme), auf See (seegestützte Systeme) und auf Land (mobile und stationäre Trägersysteme) montiert sind, sodass bei einem anvisierten enthauptenden Erstschlag hinreichend Reaktionskapazitäten für den vernichtenden nuklearen Gegenschlag nahezu gesichert sind. Sowohl Washington als auch Moskau verfügen über diese Triade. Und diese Tatsache macht einen Krieg zwischen zwei Atommächten unter der Prämisse, Krieg sei die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln, sinnlos, da es mit der gesicherten gegenseitigen Vernichtung logischerweise keinen politischen Gewinner geben kann. Der Ausgangspunkt: Das politische Ziel kann nicht erreicht werden. Vielmehr wird Politik buchstäblich pulverisiert. Angesichts dessen gilt es zwei große Fragen zu beantworten:
Ist es sinnvoll, dass ein Staat (hier Russland) das Territorium eines anderen Atomwaffenstaates oder das seiner unter dem nuklearen Schirm geschützten Verbündeten angreift? NEIN! Denn auch ein mit konventionellen Waffen begonnener Krieg zwischen Atommächten droht, sofern es nicht nur ein paar grenznahe Scharmützel sind, ganz leicht in einen nuklearen abzurutschen.
Das politische Ziel des Aggressors, also die Kontrolle, die Okkupation oder die Annexion des Staatsgebietes eines Atomwaffenstaates oder eines unter dem nuklearen Schutzschirm stehenden Verbündeten, ist nicht erreichbar, sondern nur die eigene nukleare Zerstörung hochwahrscheinlich. Aus diesem Grund haben die im Territorialkonflikt stehenden Nuklearwaffenstaaten Pakistan und Indien sowie China und Indien bis heute sehr bewusst ihre Konflikte nicht über ein paar Grenzscharmützel hinaus eskalieren lassen.
Und diese Einsicht führt zu einer Politik, Atomwaffen in erster Linie als Abschreckungswaffen (politische Waffen) zu betrachten und nur bei Versagen der Abschreckung diese auch real einzusetzen.
Die zweite Frage ist aufs Engste mit der ersten verbunden: Ist eine massive konventionelle Aufrüstung von Nuklearmächten sinnvoll, wenn das eigentlich kriegsentscheidende Mittel im Zweifel die Atombombe ist? NEIN! Somit sind ambitionierte konventionelle Aufrüstungsvorhaben zum Zwecke der „Kriegstüchtigkeit“ absurd – und haben noch dazu eine falsche und fatale Verteilung wertvoller Steuergel- der zur Folge. Zwar kann eine vorwiegend auf defensive Waffensysteme gestützte Rüstung in einem vernünftigen Umfang auf der Grundlage der objektiv einzuschätzenden Sicherheitslage als Mittel der Abschreckung sinnvoll sein. Denn auch eine Atommacht wird es sich genau überlegen, eine konventionell überlegene Streitmacht – und das sind die Streitkräfte der EU – anzugreifen, da die eigene Niederlage vorprogrammiert wäre. Es käme dann für Russland nur noch der Einsatz von Nuklearwaffen infrage, um die drohende Niederlage abzuwenden. Und dann? Was hätte Russland von einem nuklear verseuchten Europa? Und die Gefahr des nuklearen Gegenschlags der USA wäre real. Es ergibt schlichtweg keinen politischen Sinn.
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ALEXANDER S. NEU, Jahrgang 1969, ist promovierter Politikwissenschaftler. Praktische politische Erfahrungen sammelte er als Mitarbeiter der OSZE im ehemaligen Jugoslawien. Von 2013 bis 2021 war er Mitglied der Bundestagsfraktion der Linken und deren Obmann im Verteidigungsausschuss und stellvertretend im Auswärtigen Ausschuss sowie Mitglied der Parlamentarischen Versammlung der NATO. Zuvor war er acht Jahre Referent für Sicherheitspolitik der Fraktion. 2023 verließ er die Partei Die Linke. Alexander Neu ist stellvertretender Vorsitzender der Eurasien Gesellschaft.
1 www.bundestag.de/dokumente/textarchiv/2025/kw20-de-regierungserklaerung-merz-1064956
2 www.consilium.europa.eu/de/policies/defence-numbers/
3 https://de.statista.com/statistik/daten/studie/1287041/umfrage/vergleich-verteidigungsbudget-russland-ukraine/
4 www.greenpeace.de/frieden/kraeftevergleich-nato-russland