Cancel Culture - Nachträglich
Ende Oktober hielt Helga Baumgarten einen Vortrag zum Thema "Krieg im Nahen Osten" an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, der im Nachgang von der Rektorin scharf kritisiert wurde. Wir veröffentlichen die Kritik und die Replik.
Foto: viarami; Quelle: pixabay; LizenzProf. Helga Baumgarten lehrte von 1993 bis 2019 an der Universität Bir Zait Politikwissenschaften. Sie ist Autorin der Bücher Hamas: Der politische Islam in Palästina und Kampf um Palästina: Was wollen Hamas und Fatah?. Hintergrund traf sie 2019 in Ostjerusalem und sprach mit ihr über die damalige politische Situation in dem Palästinensergebiet.
Ende Oktober diesen Jahres hielt sie einen Vortrag an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, der im Nachgang scharf kritisiert wurde. Um den Fall zu verdeutlichen, veröffentlichen wir nachfolgend zuerst die Pressemitteilung der Rektorin Prof. Dr. Claudia Becker und im Anschluss die Replik von Prof. Helga Baumgarten im Wortlaut.
Statement der Rektorin Prof. Dr. Claudia Becker zu der Veranstaltung am 27. Oktober im Audimax
Nummer 133/2025 vom 29. Oktober 2025
An der Universität Halle ist kein Platz für Veranstaltungen, die einseitig, unwissenschaftlich und gesellschaftlich polarisierend sind. Eine solche war die als Lesung angekündigte Veranstaltung mit Helga Baumgarten am Montag.
Ich hatte Auflagen zur Durchführung der Lesung als wissenschaftliche Veranstaltung erteilt. Dazu zählte beispielhaft,
dass es keine Zusammenarbeit mit den „Students for Palestine“ gibt,
dass das Existenzrecht Israels an keiner Stelle in Frage gestellt wird
und keine antisemitischen Äußerungen getätigt werden.
Zusätzlich habe ich beauflagt, dass es eine wissenschaftliche Einordnung des Gaza-Krieges und der Lage im Israel-Palästina-Konflikt gibt. Bei Nichteinhalten der Auflagen sollte die Veranstaltung abgebrochen werden.
In Vertrauen auf die Redlichkeit der Universitätsmitarbeiterin habe ich die Veranstaltung zugelassen. Das war falsch.
Ich stelle fest, dass die von mir getroffenen Vorkehrungen nicht ausgereicht haben. Die Auflagen wurden nicht eingehalten. Die Veranstaltung, die stattgefunden hat, war eine andere als die, die beantragt und genehmigt worden war.
Das Agieren der Veranstalterin fordert die Universität als Ort des offenen Diskurses heraus. Trotz dieser Erfahrung ist es wichtig, dass die MLU ein Ort der Begegnung, der kritischen Auseinandersetzung und des Lernens bleibt. Unsere Aufgabe ist es, die notwendigen ausgewogenen Rahmenbedingungen für die Zulassung und Durchführung von Veranstaltungen kritisch zu reflektieren und neu zu setzen – ohne dabei die Vielfalt an Positionen einzuschränken. Ein respektvoller Umgang miteinander ist die Grundlage, um in offenen Diskussionen und sachlichen Debatten zu Lösungen zu kommen.
Nachfolgend die Replik von Prof. Helga Baumgarten
An die Rektorin
der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg
Jerusalem, 7.November 2025
Betrifft: Ihre Presseerklärung Nummer 133/2025 vom 29.Oktober 2025
Sehr geehrte Professorin Becker,
mit diesem Schreiben möchte ich auf Ihre Presseerklärung antworten, in der sie mich und meinen Vortrag vom 27.Oktober an zentraler Stelle erwähnen.
Ich zitiere: „An der Universität Halle ist kein Platz für Veranstaltungen,
die einseitig,
unwissenschaftlich
und gesellschaftlich polarisierend sind.
Eine solche war die als Lesung angekündigte Veranstaltung mit Helga Baumgarten am Montag.“
Sie kritisieren mich damit, so ist der Text zu verstehen, als unwissenschaftlich und einseitig und an weiterer Stelle unten in Ihre Erklärung als „antisemitisch“ und als jemand, der das Existenzrecht des Staates Israel in Frage stellt.
Diese Kritik ist mit Verlaub keine Kritik, sondern eine offene Verleumdung.
Da Sie wohl nicht selbst meinen Vortrag gehört haben, möchte ich Sie zunächst informieren, was genau ich vorgetragen habe.
Ich referierte, zur Aktualisierung meines Buches, das Wissenschaftler und Studenten am besten lesen, die Ergebnisse des Gaza-Tribunals vom 23.-26.Oktober an der Universität Istanbul. Das Gaza-Tribunal wurde von Professor Richard Falk, Professor für Internationales Recht an der Universität Princeton, im November 2024 in London initiiert nach dem Vorbild des Russel-Tribunals, das den Vietnam-Krieg und die dort von den USA begangenen Kriegsverbrechen anprangerte. Die Ergebnisse des Tribunals und das Urteil wurden von Professor Christine Chinkin, Professorin für Internationales Recht an den Universitäten Michigan und London School of Economics, als der Vorsitzenden der Jury verkündet.
Teil der Jury waren international renommierte Wissenschaftler und Autoren.
Wenn Sie also mein Referieren dieses Urteils als „unwissenschaftlich“ und „antisemitisch“ bezeichnen, gilt das auch für die obengenannten Kollegen: Richard Falk und Christine Chinkin sind also, in Ihrer Darstellung, zusammen mit den anderen Mitgliedern der Jury, unwissenschaftlich und antisemitisch und werden damit von Ihnen ebenfalls in nicht akzeptabler Weise diffamiert und verleumdet.
Ich fordere Sie nachdrücklich auf, diese Diffamierung und Verleumdung zurückzunehmen und sich öffentlich dafür zu entschuldigen.
Schließlich zur Frage der Einseitigkeit:
Ein Völkermord kann und muss „einseitig“ kritisiert werden. Das trifft für alle Völkermorde der Geschichte zu, nicht zuletzt für den Völkermord durch das Nazi-Regime, der von der deutschen Gesellschaft mitgetragen wurde und an dem wir Deutschen bis heute Schuld tragen.
Wissenschaft, wenn sie denn wirkliche Wissenschaft ist, ist grundsätzlich kritisch, immer wieder polarisierend, einseitig, wenn sie neue Ergebnisse in die Diskussion bringt, die alte wissenschaftliche Erkenntnisse umwerfen, und als Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler haben wir gelernt, damit umzugehen: in der wissenschaftlichen Diskussion, in Lehrveranstaltungen und nicht zuletzt in Rezensionen, in denen oft und völlig zu Recht „die Fetzen fliegen“.
Zur Frage des Antisemitismus: Ich betrachte es als eine nicht akzeptable Beleidigung meiner Person sowie der Kolleginnen und Kollegen des Gaza-Tribunals. Wir sind keine Rassisten bzw. Antisemiten. Teil des Urteils ist der unmissverständliche Satz – den ich klar und deutlich referiert habe -, dass es um das israelische Regime (-nicht um den Staat Israel-) und um die ihn tragende Ideologie des Zionismus geht, NICHT und NIRGENDWO um Juden oder Judaismus.
Mit Erstaunen, ja Befremden, entnehme ich Ihrer Presseerklärung, dass Sie die „Students for Palestine“ explizit ausgeschlossen und dass Sie weiter eine ganze Reihe von Vorbedingungen gestellt haben, ehe Sie die Veranstaltung genehmigten.
Eine Universität sollte doch ein Ort der freien Meinungsäußerung sowie der freien Diskussion historischer und politischer Entwicklungen sein.
Aus Ihrer Presseerklärung könnte man herauslesen, dass die Martin-Luther-Universität ihrem Namensgeber wohl keine Erlaubnis gegeben hätte, einen Vortrag zu halten, eben weil seine Thesen „einseitig, provokant und gesellschaftlich polarisierend waren“.
Abschließend fordern Sie einen respektvollen Umgang miteinander.
Leider befolgen Sie selbst dies in Ihrer Presseerklärung in keiner Weise.
Da Sie mich und ebenso die Veranstalter öffentlich kritisiert haben, werde ich meinen Brief, den ich zunächst persönlich an Sie schicke, ebenfalls als öffentlichen Brief publizieren.
Zuvor hoffe ich jedoch auf eine klare Entschuldigung Ihrerseits.
Freundliche Grüße
Prof. (emer.) Helga Baumgarten