Erinnerung an die Verbrechen des Nationalsozialismus wachhalten
Die Verantwortung für die faschistischen Verbrechen und die Dankbarkeit gegenüber der Sowjetunion dürfen nicht von der Politik überschattet werden. Durch politische Maßnahmen werden Symbole des Sieges an sowjetischen Kriegerdenkmälern verboten, russische Delegationen von Gedenkveranstaltungen ausgeschlossen und der Anteil der Roten Armee an der Befreiung Deutschlands ignoriert. Drüber sprach ÉVA PÉLI mit dem Außerordentlichen und Bevollmächtigten Botschafter Russlands in Deutschland, Sergej J. Netschajew.

HINTERGRUND Welche Rolle spielt die Erinnerung an den Sieg über den Faschismus am 9. Mai 1945 heute in Russland, für die Gesellschaft, aber auch in politischer Hinsicht?
SERGEJ J. NETSCHAJEW Der Tag des Sieges ist ein Feiertag, der einem jeden russischen Bürger heilig ist. Vom Großen Vaterländischen Krieg war jede sowjetische Familie betroffen. Im Juni 1941 nahmen Menschen aus ausnahmslos allen Völkern der Sowjetunion die Waffe in die Hand, um ihr Vaterland zu verteidigen. Jedem war klar, dass es um die Existenz des eigenen Heimatlandes, die Rettung des eigenen Zuhauses und der eigenen Familie ging. Auf dem Altar des Sieges opferte die Sowjetunion 27 Millionen Menschenleben, die meisten von ihnen waren Zivilisten, Alte, Frauen und Kinder.
Die Nazis haben von Anfang an keinen Hehl daraus gemacht, dass sie einen Vernichtungs- und Versklavungskrieg gegen die UdSSR führen wollten. Das fand in den Grundsatzpapieren des Dritten Reiches Eingang und wurde später in den Beschlüssen der Nürnberger Prozesse bestätigt. Die Brutalität, die der Aggressor an den Tag legte, war in der Geschichte der Menschheit beispiellos. An den Völkern der UdSSR wurde ein Genozid begangen, der sich in grauenvoller Weise auch durch die Leningrader Blockade manifestierte. Allein während der Belagerung Leningrads kamen mehr als eine Million Zivilisten durch Hunger, Kälte und Bombenangriffe ums Leben. Die Führung des Dritten Reiches sah sich vor der Aufgabe, die Stadt und ihre Bevölkerung komplett zu vernichten. Das darf niemals dem Vergessen anheimfallen. Diese Erinnerung ist bei jedem von uns Teil des genetischen Gedächtnisses.
Gerade deshalb wird sich Russland weiterhin dafür einsetzen, dass Verbrechen, die das Dritte Reich und dessen Helfershelfer auf dem Territorium der UdSSR begingen, als Genozid an den Völkern der Sowjetunion eingestuft werden. Wir hoffen, dass die neue deutsche Bundesregierung und der neue Bundestag den Mut haben werden, einen entsprechenden Beschluss zu fassen.
HINTERGRUND Russische Journalisten sagten uns vor einem Jahr in St. Petersburg, dass es ein Tag ist, an dem der Opfer und der Gefallenen gedacht, aber auch gefeiert wird. Der Krieg sei Vergangenheit und heute gehe es darum, das Leben und den Frieden zu bewahren. Wie sehen Sie das? Ist es mehr ein Tag der Erinnerung und des Gedenkens oder ein Tag der Freude und des Feierns?
NETSCHAJEW Das Lied „Tag des Sieges“, das jeder Bürger in Russland kennt und das vielen auch im Ausland bekannt sein wird, hat folgende Zeilen:
Dieser Tag des Sieges riecht nach Pulverrauch, Diese Feier – mit den Schläfen silbergrau. Diese Freude – mit den Tränen kommt sie auf …
Für uns gibt es hier keinen Widerspruch. Am 9. Mai gedenken wir unserer heldenhaften Vorfahren. Wir erinnern an unsere Väter, Großväter und Urgroßväter, die den Sieg geschmiedet haben, legen Blumen an Ehrendenkmälern und Grabstätten sowjetischer Soldaten nieder und verneigen uns vor ihnen tief.
Der 9. Mai ist aber auch natürlich ein Feiertag. Mit diesem Sieg wurde nicht nur unser Land, sondern ganz Europa und die gesamte Welt vom Faschismus befreit. Ohne den entscheidenden Beitrag des sowjetischen Volkes wäre der Sieg nicht möglich gewesen. Auf dem besiegten Reichstag hissten die Sowjetsoldaten das rote Siegesbanner. Es gibt also einiges, worauf wir stolz sein und an diesem Maitag anstoßen können.
HINTERGRUND Eine Form des Gedenkens der Menschen ist seit einigen Jahren das „Unsterbliche Regiment“, das an die Gefallenen und die Veteranen des Großen Vaterländischen Krieges erinnert. Wie groß ist diese Bewegung? Welche Rolle spielt das in Russland, wird es das auch in Deutschland geben in diesem Jahr?
NETSCHAJEW Beim „Unsterblichen Regiment“ handelt es sich um eine Bürgerinitiative zum Gedenken an die Teilnehmer des Großen Vaterländischen Krieges. Eine einmalige Aktion hat sich mit der Zeit zu einer allrussischen Bewegung entwickelt und seitdem weit über Russland hinaus Anklang gefunden. Heute werden Märsche des „Unsterblichen Regiments“ in über hundert Ländern organisiert. Die Teilnehmer ziehen durch zentrale Straßen ihrer Städte mit den Bildern von Familienangehörigen in der Hand, die als Soldaten, Untergrund- und Widerstandskämpfer und Arbeiter des Hinterlandes am Großen Vaterländischen Krieg teilgenommen haben. Millionen Menschen beteiligen sich an diesen Märschen. Auch in Deutschland ziehen diese Aktionen immer mehr Teilnehmer und Unterstützer an. 2024 wurden die Märsche der russischen Landsleute in 17 deutschen Städten organisiert. Wir sind sicher, dass diese Veranstaltung auch im 80. Jahr nach dem Großen Sieg stattfinden kann. Wir hoffen, dass die Behörden auf Bundes-, Landes- und auf kommunaler Ebene die Organisatoren und Teilnehmenden wohlwollend unterstützen werden.
HINTERGRUND Es gibt in Russland in dem Zusammenhang den Wunsch eines friedlichen Himmels (мирного неба). Was bedeutet das?
NETSCHAJEW Es ist einfach. Das ist ein Wunsch, dass am Himmel die Sonne scheint und vom Himmel nur Regentropfen fallen, aber keine Bomben und Geschosse.
Es ist aber auch klar: Damit dieses Ziel überall Wirklichkeit werden kann, braucht es eine gleiche und unteilbare Sicherheit für alle Staaten der Welt. Für alle Staaten eben, nicht nur für Mitglieder einzelner Militärbündnisse, die anderen internationalen Akteuren ihren Willen aufzwingen wollen. Dafür hat sich Russland eingesetzt und wird es auch weiterhin tun.
HINTERGRUND Wie wird Russland, als Nation und als Gesellschaft, und wie werden die russischen Menschen diesen 80. Jahrestag des Sieges über den Faschismus begehen? Welche Aktivitäten plant die russische Botschaft in Deutschland aus diesem Anlass?
NETSCHAJEW Diesen Jahrestag wollen wir groß und feierlich begehen. Anlässlich des 80. Jahrestages des Sieges im Großen Vaterländischen Krieg werden in Russland Staats- und Regierungschefs aus verschiedenen Ländern erwartet, einschließlich unserer Partner aus der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS), der BRICS und der Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit (SOZ). Vertreten sein werden weitere befreundete Staaten. Auch für EU-Länder, die am Dabeisein interessiert wären, bleibt die Tür offen.
Zusammen mit unseren Freunden aus der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten, mit russischen Landsleuten in Deutschland und deutschen Bürgerinitiativen wollen die Botschaft und andere russische Vertretungen hierzulande ein umfassendes Veranstaltungsprogramm umsetzen, das Kranzniederlegungen an sowjetischen Grabstätten und in KZ-Gedenkstätten, Gedenkaktionen sowie Bildungs- und Kulturevents (Filmvorführungen, Ausstellungen und Konzerte) umfassen wird.
HINTERGRUND In Deutschland wird zunehmend politisch und medial die Erinnerung daran verdrängt, dass die Sowjetunion die Hauptlast im Kampf gegen den Faschismus, einschließlich der 27 Millionen toten Sowjetbürger in Folge des Krieges, und den entscheidenden Anteil am Sieg über den Faschismus trug. Wie gehen Sie damit um?
NETSCHAJEW Wenn sich jemand in diesem Land vorgenommen hat, die Erinnerung an die heldenhaften Leistungen und an die Opfer des sowjetischen Volkes im Zweiten Weltkrieg zu verdrängen oder – noch schlimmer – die neueste Geschichte in antisowjetischer beziehungsweise russlandfeindlicher Weise umzuschreiben, dann soll das auf seinem Gewissen bleiben. Wir sind überzeugt, dass die Erinnerung, das Bewusstsein der Deutschen für die Verantwortung für die schrecklichen Verbrechen des Nationalsozialismus und die Dankbarkeit gegenüber dem sowjetischen Volk für die Befreiung und die Nachkriegsversöhnung nicht von der aktuellen politischen Lage beeinflusst werden dürfen und können. Bedauernswerterweise findet die politische Großwetterlage dennoch unter anderem dadurch Ausdruck, dass das Zeigen von Symbolen des Sieges an sowjetischen Kriegsehrenmälern untersagt, russischen Delegationen die Teilnahme an jährlichen Gedenkveranstaltungen verweigert und der Anteil der Roten Armee an der Befreiung Deutschlands ignoriert wird.
Gleichzeitig ist es uns sehr wohl bewusst, dass all das nichts zu tun hat mit den Gefühlen einfacher Deutscher, die um die heldenhaften Leistungen der sowjetischen Soldaten wissen, deren Andenken in Ehren halten und richtige historische Akzente setzen. Wir haben wiederholt die Gelegenheit gehabt, uns davon zu überzeugen.
HINTERGRUND In den letzten Jahren wird in Deutschland durch Behörden das Gedenken an den Sieg und die Opfer zunehmend behindert und eingeschränkt. Sie haben in den Jahren zuvor den deutschen Behörden für die Pflege der Gedenkstätten und die Unterstützung gedankt. Wie sieht das zum 80. Jahrestag aus?
NETSCHAJEW Die deutsche Seite erfüllt ihre Verpflichtungen aus dem entsprechenden Regierungsabkommen nach Treu und Glauben. Dafür sind wir den zuständigen Behörden von Herzen dankbar. Das wissen wir zu schätzen. Nahezu alle sowjetischen Kriegsgräber in Deutschland – und davon gibt es ca. 4.000 – befinden sich in einem angemessenen Zustand, sie werden kontinuierlich gepflegt und gegebenenfalls renoviert. Vandalismus kommt vereinzelt vor, konnte jedoch leider noch nicht komplett unterbunden werden. Auf der Arbeitsebene gibt es Kontakte zu regionalen und kommunalen Behörden sowie zum Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge. Besonders möchte ich die Sucharbeit des Volksbundes würdigen, die letztlich die Beisetzung der geborgenen Gebeine von Rotarmisten ermöglicht.
Die russischen diplomatischen Vertretungen richten auch ein großes Augenmerk darauf, in welchem Zustand sich die sowjetischen Kriegsgräber hierzulande befinden. Im Vorfeld des Feiertages planen wir etwa 200 Inspektionen dieser Art. Aufgrund der drastischen Reduzierung der russischen diplomatischen und berufskonsularischen Präsenz in Deutschland durch die deutsche Seite werden in diese Arbeit russische Landsleute und nicht gleichgültige deutsche Bürger eingebunden, die uns nach Kräften unterstützen. Unser Dank für die Unterstützung gilt auch den deutschen Sicherheitsbehörden beziehungsweise der Polizei.
HINTERGRUND Wie erleben sie die Reaktionen in der bundesdeutschen Gesellschaft auf diesen Jahrestag, die Erinnerung an die Ereignisse vor 80 Jahren?
NETSCHAJEW Bei traditionellen Gedenkveranstaltungen an sowjetischen Kriegsdenkmälern und Kriegsgräbern sehen wir uns fast nie negativen Ausfällen, Provokationen oder Beleidigungen gegenüber. Im Gegenteil, die Deutschen bringen Blumen zu sowjetischen Gräbern. Dafür möchte ich ihnen aufrichtig danken.
HINTERGRUND Zurück nach Russland: Die Sowjetunion existiert nicht mehr. In welcher Form gedenken die getrennten Völker der Sowjetunion gemeinsam des Sieges über den Faschismus, an den einstigen gemeinsamen Kampf?
NETSCHAJEW Wir waren und sind stets gegen die Versuche, die Opfer des Krieges nach deren Nationalitäten zu kategorisieren und den gemeinsamen Sieg in die nationalen Schubladen aufzuteilen. Nur durch gemeinsame Anstrengungen war es möglich, die Kriegsmaschinerie des Dritten Reiches, die ganz Europa erobert hatte, niederzuringen. Unsere Kollegen aus den diplomatischen Vertretungen der GUS-Staaten laden wir immer zu gemeinsamen Gedenkaktionen, Veranstaltungen und Empfängen ein. Wie ich bereits gesagt habe, werden die Staatschefs dieser Länder am 9. Mai nach Moskau kommen. Den Beitrag unserer Verbündeten aus der Anti-Hitler-Koalition und der Kämpfer des antifaschistischen Widerstands wissen wir auch hoch zu schätzen. Die Erinnerung daran halten wir in Ehren.
Wir hoffen auch, dass in den postsowjetischen Ländern, in denen heute nicht die sowjetischen Befreier, sondern die SS-Veteranen und Nazi-Schergen geehrt werden, in denen die sowjetische Fahne untersagt ist und Nazi-Symbole hingegen erlaubt sind, ein Umdenken stattfindet.
Das Interview ist ein exklusiver Vorabdruck aus der Ausgabe 5/6 2025 unseres Magazins, das ab dem 19. April im Bahnhofsbuchhandel, im gut sortierten Zeitungschriftenhandel und in ausgewählten Lebensmittelgeschäften erhältlich ist. Sie können das Heft auch auf dieser Website (Abo oder Einzelheft) bestellen.
SERGEJ J. NETSCHAJEW (Jahrgang 1953) ist seit 1977 im diplomatischen Dienst der Sowjetunion und dann Russlands tätig. Er wurde zum 10. Januar 2018 per Erlass des Präsidenten der Russischen Föderation zum Botschafter der Russischen Föderation in der Bundesrepublik Deutschland ernannt. Er hat den diplomatischen Rang des außerordentlichen und bevollmächtigten Botschafters.