Geschichtsvergessen wieder gegen Russland?
Deutschland soll wieder "kriegstüchtig" werden. Dabei werden von den Regierenden nicht nur die heutige Realität, sondern auch die Geschichte und ihre Lehren missachtet.
Foto: falco; Quelle: pixabay; LizenzKern der Debatten um eine Wiedereinführung der Wehrpflicht, die die Bundesregierung aus CDU/CSU und SPD angezettelt hat, ist die von Bundeskanzler Friedrich Merz bereits in seiner Regierungserklärung am 14. März 2025 erklärte Absicht, die Stärkung der Bundeswehr stehe „in unserer Politik an erster Stelle“, die Bundeswehr solle „zur konventionell stärksten Armee Europas werden“. 1 Boris Pistorius, Minister für das Militärwesen, betont, in der real existierenden Bundeswehr gebe es derzeit knapp 183.000 Soldatinnen und Soldaten. Hinzu kamen 2024 49.000 „beorderte Reservisten“, die regelmäßig zum Dienst herangezogen werden. Um die NATO-Vereinbarungen zu erfüllen, brauche es jedoch 260.000 Soldaten und 200.000 einsatzbereite Reservisten. Im Jahr 2025 leisten 15.000 Soldaten den bisherigen freiwilligen Wehrdienst; deren Zahl solle um 3.000 bis 5.000 pro Jahr erhöht werden, um ab 2031 40.000 jährlich zu erreichen. 2
Das hat finanzielle Folgen. Mit dem von Kanzler Scholz geschaffenen „Sondervermögen“ (was eigentlich Schulden sind) und den laufenden Haushaltsmitteln sollen die Militärausgaben für 2025 um rund 10 Milliarden auf rund 62,43 Milliarden Euro ansteigen.3 In der Haushaltsdebatte wurden zugleich die Planungen für 2026–2029 vorgestellt: Der Militäretat soll 2026 83 Milliarden Euro betragen, 2027 93 Milliarden, 2028 136 Milliarden und 2029 153 Milliarden Euro. 4 Der eingeborenen deutschen Bevölkerung wird weiszumachen versucht, das werde keine Folgen für Renten, Kindergeld, Kranken- und Pflegekassen haben. Allerdings betonen die Regierungsparteien, die gesamten Sozialausgaben müssten auf den Prüfstand, zunächst Asylbewerber und ukrainische Kriegsflüchtlinge aus dem Bürgergeldbezug genommen werden.
Bedrohungserzählungen
Begründet wird die aktuelle Hochrüstung des Westens vor allem mit einer militärischen Bedrohung durch Russland. So meinte Jens Spahn, Chef der CDU/CSU-Bundestagsfraktion: „Was nützt die schönste Schuldenbremse, wenn der Russe vor der Tür steht?“ 5 Das ist Originalton Meister Röhrich. Viele im Lande kennen gewiss die Comic-Verfilmung Werner – Beinhart! aus dem Jahr 1990. Da jammert der Klempnermeister immer wieder: „Werner, ich glaub, die Russen sind da!“ Das war damals ironische Verarbeitung der Propaganda des Kalten Krieges. Heute wird versucht, daraus wieder politisches Kapital zu schlagen.
Einschlägige Experten befeuern die Hysterie. Als „Deutschlands bekannteste Friedensforscherin“ präsentierte Der Spiegel Nicole Deitelhoff, derzeit Chefin des Instituts für Friedensforschung in Frankfurt am Main. 6 Die weltpolitische Lage sei eine „düstere Landschaft“, es handle sich um eine „Weltordnungskrise“, verbunden mit einem „Rückzug von Staaten aus internationalen Regelwerken“. Das sehe man nicht nur bei Putin und Xi, sondern auch bei Milei und Trump. EU-Europa dagegen „mag wirtschaftlich stark sein“, sitze jedoch politisch „am Katzentisch“. Deshalb plädiert Deitelhoff dringend für eine „nachholende Aufrüstung der europäischen Mitgliedstaaten“ der NATO und „die Entwicklung europäischer Verteidigungsstrukturen und -strategien“. Bundeskanzler Merz zeige den Willen zu handeln. Er müsse jedoch „offen über die Bedrohungslage sprechen und erklären, warum wir den Wehrdienst brauchen“. Die Koalition trete in dieser Frage „verdruckst auf“. Die Regierung müsse „mutiger sein“, „sich zur Wehrpflicht“ bekennen und die Debatte durchstehen. So klingt im Jahr 2025 „Friedensforschung“.
Deutlich forscher noch Carlo Masala, Professor an der Bundeswehruniversität München: „Mein Szenario orientiert sich an realen Gegebenheiten, wissenschaftlichen Erkenntnissen und Diskussionen, die ich in den letzten beiden Jahren mit vielen Kollegen […] geführt habe“, darüber, „welche Auswirkungen ein russischer Sieg in der Ukraine für die zukünftige sicherheitspolitische Entwicklung haben könnte“. Masala meint: „Geht es wirklich nur um die Ukraine? Was, wenn das nur der Anfang war? Wenn in Wahrheit die europäische Sicherheit und unsere gesamte liberale Weltordnung auf dem Spiel stehen?“ Masalas Szenario beginnt so: „Narwa, Estland, am 27. März 2028: In den frühen Morgenstunden werden die Menschen durch Explosionen geweckt. Zwei russische Brigaden dringen von Norden und Osten in die Stadt ein.“ Bereits drei Tage später sei Narwa wieder russisch. 7
Masala spreizt sich gern im Fernsehen. Bei Sandra Maischberger saß er am 19. März 2025 zusammen mit Generalmajor Carsten Breuer, Generalinspekteur der Bundeswehr. Dort erklärte Masala: „Russland bereitet sich auf einen großen Krieg vor.“ Breuer setzte noch eins drauf und behauptete, Russland habe die Zahl seiner Soldaten verdoppelt und richte seine Militärstrukturen „ganz klar in Richtung Westen“ aus. 8 Der für die russischen Streitkräfte mühselige Fortgang des Krieges in der Ukraine zeugt eigentlich vom Gegenteil, jedenfalls nicht davon, dass sie zu weiträumigen Angriffsoperationen auf NATO-Territorium in der Lage wären.
Dessen ungeachtet wird in staatstragenden deutschen Medien behauptet: „Geheimdienste sehen Russland in wenigen Jahren in der Lage, den Westen anzugreifen.“ So wurde in zeitlicher Nähe zu den Debatten um den Militärhaushalt erneut Breuer zitiert, es lägen Erkenntnisse vor, „dass die russische Armee Richtung Westen ausgerichtet werde und in den kommenden Jahren materiell und personell in der Lage sei, einen Angriff auf NATO-Gebiet durchzuführen“.
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ERHARD CROME (Jg. 1951) hat am Institut für Internationale Beziehungen in Potsdam-Babelsberg studiert. 1987 Habilitation. Von 2002 bis 2016 Mitarbeiter der Rosa-Luxemburg-Stiftung, Geschäftsführender Direktor des WeltTrends-Instituts für Internationale Politik, Potsdam. Der Politikwissenschaftler publizierte in Verlagen der Eulenspiegel-Verlagsgruppe mehrere Bücher.
1 Regierungserklärung von Bundeskanzler Friedrich Merz vom 14. März 2025, in: Bulletin der Bundesregierung, Nr. 34-3 vom 14. Mai 2025, S. 6
2 www.zdfheute.de, 27. August 2025
3 www.bmvg.de, 24. Juni 2025
4 www.vorwaerts.de, 9. Juli 2025
5 www.faz.net, 11. März 2025
6 Der Spiegel, Nr. 29/2025
7 Carlo Masala, Wenn Russland gewinnt. Ein Szenario, München 2025
8 Zit. nach: www.welt.de, 20. März 2025