Spiel mit dem Feuer

Konfrontation außer Kontrolle

Hinweis: Die Bilder sind aus den archivierten Hintergrund-Texten vor 2022 automatisch entfernt worden.

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Die Hinrichtung des schiitischen Predigers Nimr Baqir al-Nimr durch Saudi-Arabien könnte weitreichende Folgen haben. Aber was bezweckt die saudische Führung mit der kalkulierten Provokation?

Die Herrscherclique der Golfmonarchie Saudi-Arabien beschenkte die Welt pünktlich zum neuen Jahr mit einem Akt politischen Wahnsinns. 47 Menschen übergaben die Behörden des Landes dem Henker, unter den Hingerichteten befanden sich auch politische und religiöse Dissidenten. Der Prominenteste unter den Getöteten: Scheich Nimr Baqir al-Nimr. Dieser gilt als einer der einflussreichsten schiitischen Geistlichen nicht allein in Saudi-Arabien, sondern in der gesamten Region.

Dementsprechend harsch fielen die Reaktionen aus: In Bahrain, im Irak, im Jemen, im Libanon und zahlreichen anderen Ländern fanden Demonstrationen statt, die den Sturz des saudischen Königshauses forderten. Im Iran stürmte eine aufgebrachte Menschenmenge die saudische Botschaft in Teheran. Aus dem iranischen Außenministerium war zu vernehmen, die saudische Führung werde einen „hohen Preis“ für die Tötung al-Nimrs bezahlen: „Das ungerechtfertigt vergossene Blut dieses Märtyrers wird rasche Konsequenzen haben.“ Riad reagierte mit dem Abbruch aller diplomatischen Beziehungen zu Teheran, iranische Diplomaten wurden ausgewiesen. Bahrain, der Sudan und die Vereinigten Arabischen Emirate zogen nach und schränkten ihre Beziehungen zum Iran ein oder beendeten sie ganz.

Die Eskalation des Streits der beiden Erzrivalen Iran und Saudi-Arabien wird drastische Auswirkungen auf die Konfliktkonstellationen in der gesamten Region haben. „Ich fürchte, dass die Konfrontation außer Kontrolle gerät. Es gibt einen Krieg der Worte, Stellvertreterkriege zwischen den beiden Mächten in Syrien, in Irak, im Jemen, in Bahrain, im Libanon. Das könnte sehr hässlich und gefährlich werden“, kommentiert der Nahost-Experte Fawaz Gerges gegenüber CNN.

Unterstützung für die „heiligen Krieger Syriens“   

Tatsächlich gibt es kaum ein Land im Mittleren Osten, auf das die Auseinandersetzung der beiden Regionalmächte (und ihrer jeweiligen internationalen Bündnispartner) nicht direkt oder indirekt Auswirkungen hätte. Am offenkundigsten ist das in Syrien. Saudi-Arabien unterstützte von Beginn an massiv die islamistischen Kräfte in der Revolte gegen die Regierung Baschar al-Assads, bis heute fördert es dschihadistische Terrorgruppen wie Jaysh al-Islam des kürzlich bei einem Luftangriff getöteten Zahran Alloush. Der Iran dagegen steht auf der Seite der Regierung in Damaskus, Militärberater der sogenannten Revolutionsgarden sind in Syrien aktiv.

Gerade in Syrien hatten sich in den vergangenen Monaten vorsichtige Schritte in Richtung einer Deeskalation des blutigen Konfliktes ausmachen lassen. Die syrische Regierung hatte sich bereits im Oktober 2015 zu möglichen Friedensgesprächen positiv geäußert, internationale Konferenzen, etwa in Wien, dokumentierten auch eine Annäherung zwischen den entscheidenden externen Kontrahenten, Russland und den USA. Mitte Dezember nahm der UN-Sicherheitsrat dann einstimmig einen Fahrplan für Syrien an, der unter anderem Verhandlungen über einen Waffenstillstand zwischen Oppositionsmilizen und der Regierung vorsah.

Generell war nach dem Ausbau des russischen Militärengagements im Laufe des vergangenen Jahres eine Stärkung der Position Baschar al-Assads zu spüren. Die im Westen über Jahre als Voraussetzung jedweder Lösung des Konflikts betrachtete Forderung nach einem sofortigen Abtreten Assads trat unter dem Druck des Eingreifens Moskaus weiter in den Hintergrund.

Der saudischen Führung war diese Annäherung ein Dorn im Auge. Riad arbeitet auf eine nachhaltige und vollständige Beseitigung der Regierung in Damaskus hin, deren möglichen Verbleib betrachtet sie als Gefährdung ihrer eigenen geopolitischen Position. Im Dezember 2015 schwor der saudi-arabische Außenminister Abdel al-Jubeir Anführer syrischer Rebellengruppen auf den Sturz Assads ein: Assad müsse zurücktreten oder mit Gewalt gestürzt werden.

Etwa zeitgleich erließen fünfzig saudische Kleriker eine Fatwa, die zum Dschihad, zum „heiligen Krieg“ gegen Russland und die syrische Regierung aufrief. Muslime seien verpflichtet, alle „moralischen, materiellen, politischen und militärischen Mittel“ zum Sturz der Regierung in Damaskus einzusetzen: „Die heiligen Krieger Syriens verteidigen die gesamte Nation des Islam. Vertraut ihnen und unterstützt sie“, so die sunnitischen Kleriker.

Die Hinrichtung von Nimr Baqir al-Nimr dürfte in diesem Kontext einen konkreten Zweck verfolgen. Sie soll die Friedensgespräche für Syrien torpedieren und die Fortsetzung des „heiligen Krieges“ bis zum Ende Assads ermöglichen. Wie nicht namentlich genannte Vertreter der US-Administration der Nachrichtenagentur Reuters gegenüber verlautbarten, wird dies auch in Washington so wahrgenommen. Das saudische Vorgehen werde die Bemühungen um eine Einigung „sehr erschweren“, zitiert Reuters eine anonyme Quelle aus US-Regierungskreisen.

Ob diese Statements allerdings einen tatsächlichen Interessengegensatz zwischen Riad und Washington widerspiegeln, lässt sich schwer ausmachen. Neben Saudi-Arabien hatte ein zweiter zentraler „Partner“ der USA, die Türkei, in den vergangenen Wochen konsequent versucht, jedwede Deeskalation des Syrienkrieges zu unterbinden. Ähnlich wie die Enthauptung von al-Nimr war auch der Abschuss des russischen Kampfjets durch die Türkei kein Versehen, sondern eine gezielte Provokation.  Auch hier nahm Washington die Rolle des besonnenen Mahners ein.

Möglich sind zwei Szenarien: Entweder die USA und zwei ihrer stärksten Verbündeten in der Region bewegen sich tatsächlich auf einen Interessenkonflikt in Sachen Syrien zu. Oder das Spiel mit verteilten Rollen ist Teil ein und derselben Eskalationsstrategie. Für Letzteres spricht, dass jenseits verbaler Distanzierungen keinerlei Schritte unternommen werden, um Saudi-Arabien oder die Türkei zur Raison zu bringen.

Marktmacht und Ölpreis

Neben einer Reihe anderer Länder, in der das Ringen um Einfluss zwischen dem Iran und Saudi-Arabien politische oder militärische Formen annimmt (wie etwa Bahrain, Jemen, der Libanon oder der Irak) spielt sich die Auseinandersetzung auch auf anderem Terrain, dem ökonomischen, ab.

Saudi-Arabien und Iran gehören zu den wichtigsten Ölproduzenten der Welt, sie sind einflussreiche Mitglieder in der Organisation erdölexportierender Länder (OPEC). Dort setzte Riad lange Zeit einen historisch niedrigen Ölpreis durch, indem es die Fördermengen trotz Preisverfall hoch hielt. Das sollte zum einen dem Erzfeind Iran schaden, zum anderen aber auch der Erhaltung des Marktanteils Saudi-Arabiens dienen. Diese Strategie allerdings führte auch auf saudischer Seite zu Milliardenverlusten.

Dazu kommen nun zwei weitere dramatische Neuerungen auf dem Öl-Markt: Durch den Fracking-Boom in den USA fällt das seit 1973 bestehende Verbot des Exports von Röhol. Und der Iran könnte durch die Aufhebung der Sanktionen seine Ausfuhr steigern. Man wolle zwar langsam und mit Bedacht vorgehen, bekundete kürzlich Irans Ölminister Bidschan Sanganeh. „Aber wir wollen unseren Marktanteil zurückgewinnen.“

Die Ölpolitik Saudi-Arabiens zielt darauf ab, sich die eigene Marktmacht auch unter diesen veränderten Rahmenbedingungen zu erhalten. Das mache durchaus Sinn, „wenn man einen Marktanteil erringen will und der Produzent mit den geringsten Kosten ist, warum sollte man dann Obergrenzen für seine Produktion ansetzen“, erklärt Sadad al-Husseini, Energieberater der von der saudischen Herrscherfamilie kontrollierten King Faisal Foundation. „Und wenn es Neuankömmlinge gibt, die zusätzliche Kapazitäten einbringen – Iran und Irak –, wozu würde man dann eine Obergrenze wollen? Zu versuchen, die Produktion aus einem Land wie Saudi-Arabien, von dem die ganze Welt abhängt, zurückzufahren, macht einfach keinen Sinn.“

Auch wenn die geopolitischen Aspekte für die Hinrichtung des Schiitenführers al-Nimr bedeutender gewesen sein dürften, könnte eine der Überlegungen darin bestehen, durch die Eskalation den „Partner“ in Washington zu überzeugen, die Sanktionen gegen Iran wieder einzusetzen. In jedem Fall aber bleibt der weiterhin historisch niedrige Ölpreis eine politische Waffe gegen den Iran und Russland.

Spiel mit dem Feuer  

Auch wenn es derzeit nicht nach einem direkten Krieg zwischen Iran und Saudi-Arabien aussieht, sind diese Entwicklungen alles andere als harmlos. Die Spannungen zwischen Schiiten und (radikalen) Sunniten sind zwar keineswegs Ursache der Auseinandersetzungen. Sie werden aber gezielt geschürt, um jeweils eigene Interessen durchzusetzen. Das wiederum führt dazu, dass sowohl innerhalb Saudi-Arabiens wie auch im benachbarten Bahrain, wo ein sunnitisches mit Riad verbündetes Regime über eine schiitische Bevölkerungsmehrheit herrscht, die Spannungen steigen.

Innenpolitisch ist die Exekution des oppositionellen Klerikers als Signal an die Schiiten im Land, die bis zu 15 Prozent der Bevölkerung ausmachen, zu werten.  Die herrschende Clique orientiert sich ideologisch an einer extrem verengten wahhabitischen Auslegung des Islam, die alle anderen muslimischen Strömungen als „Ungläubige“ oder „Ketzer“ stigmatisiert. Die Schiiten, so der Glaubenssatz, seien keine „richtigen“ Muslime, weil sie Vielgötterei begingen. Saudiarabische Schulbücher erklären Schiiten zu „Sündern“, Funktionäre der Nomenklatur hetzen gegen sie.

Aus dieser Diskriminierung ergeben sich für die Minderheit Benachteiligungen in nahezu allen gesellschaftlichen Bereichen. „Man muss nicht intensiv recherchieren, um beobachten zu können, dass die Schiiten in Saudi-Arabien sozial, politisch und religiös als Bürger zweiter Klasse eingestuft werden“, schreibt Bayan Perazzo in einer Studie für den US-Thinktank Institute for Gulf Affairs.

Schiiten werden in ihrer Religionsausübung behindert, erhalten für die Errichtung ihrer Moscheen nur schwer Genehmigungen, an deren Finanzierung sich der Staat im Unterschied zu sunnitischen auch nicht beteiligt. Schiiten können keine Berufe im Justiz-, Militär- und Verwaltungsapparat ausüben, ihre Löhne sind selbst bei gleicher Qualifikation niedriger als die von Sunniten in vergleichbaren Stellungen, in mehrheitlich von Schiiten bewohnten Regionen gibt es eine schlechtere Infrastruktur.

Der Umgang mit der Minderheit erinnert an das selbsternannte Kalifat der Terrormiliz Islamischer Staat (IS). Denn obwohl Saudi-Arabien für den Westen ein umworbener Partner ist, steht die Ideologie der Golfdiktatur der des IS und anderer salafistischer Dschihadisten ausgesprochen nahe.

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Die Hinrichtung des charismatischen Schiitenführers könnte in den schiitischen Provinzen Saudi-Arabiens zu einem erneuten Aufschwung der Protestbewegung führen. Sollte das der Fall sein, wird Riad sicherlich mit Gewalt gegen den Aufruhr vorgehen. Das wiederum wird in Iran, in Bahrain, im Irak jene Stimmen stärken, die den Sturz der saudischen Herrscher fordern.

 

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