Hitler-Stalin-Pakt

Misstrauen und Antikommunismus ermöglichten den Krieg

Die sowjetische Außenpolitik der 1930er Jahre suchte ein Bündnissystem gegen Nazideutschland. Es kam nicht zustande, weil sie keine Partner dafür fand. So nahm Stalin, was er bekommen konnte – den Nichtangriffspakt mit Deutschland und zwei Jahre Aufschub.

1747716432

Molotow trifft Ribbentrop
Foto: Kalashnikov; Quelle: Wikimedia Commons; Lizenz: Public Domain, Mehr Infos

Die sowjetische Außenpolitik gegenüber Europa in den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts wird in der Regel von ihrem Ende her interpretiert. 1 Der US-amerikanische Historiker Steven Kotkin, Autor der jüngsten Biografie Stalins, hat den zweiten Band gleich mit dem Untertitel versehen: „Warten auf Hitler, 1929–1941“. Zugespitzt lautet die zugrundeliegende Frage: Wie gewunden war der Weg, der für die Sowjetunion zum Nichtangriffspakt mit Deutschland vom 23. August 1939 führte? Einem Pakt, der insbesondere die eigenen Anhänger im Ausland aufs Schwerste verunsicherte? In Bertolt Brechts Urteil in seinen internen Aufzeichnungen war die Enttäuschung noch zurückhaltend formuliert:

Die union trägt vor dem weltproletariat das fürcherliche stigma einer Hilfeleistung an den faschismus, den wildesten und arbeiterfeindlichsten teil des Kapitalismus. Ich glaube nicht, dass mehr gesagt werden kann, als dass die union sich eben rettete, um den preis, das weltproletariat ohne losungen, hoffnungen und beistand zu lassen. 2

Viele linke Intellektuelle nahmen den Pakt zum Anlass, mit dem Kommunismus oder ihrer Sympathie für die UdSSR zu brechen. Freilich leidet diese Betrachtung vom Ende her am Fehler der Teleologie: Weil es so gekommen sei, habe es so kommen müssen. Vor allem Anhänger der Totalitarismus-Theorie finden in dem Pakt ein dank- bares Material, ihre Thesen von der Wesensverwandtheit der „zwei Diktaturen“ oder einer geheimen Affinität zwischen Stalin und Hitler zu belegen. 3 Vernünftiger wäre wohl die Frage, wie es zu der im August 1939 manifestierten Kehrtwende kommen konnte.
Mit dem Abschied Sowjetrusslands von dem Versuch, sich durch die Förderung von sozialistischen Revolutionen im Ausland Entlastung von der internationalen Isolation zu verschaffen, und dem Übergang zum

Aufbau des Sozialismus in einem Lande“ war objektiv die Notwendigkeit einer defensiv orientierten Außenpolitik verbunden: „Der Aufbau des ›Sozialismus in einem Lande‹ vertrug sich schlecht mit äußeren Konflikten, sondern verlangte im Gegenteil nach Absicherung. 4

Wie aber dieses Ziel erreichen? Die Sowjetunion versuchte zunächst, durch Handelsverträge die westlichen Staaten mit der Größe des eigenen Absatzmarktes für ihre Produkte zu locken; der erste davon wurde 1921 mit Großbritannien abgeschlossen. Aber schon hier baute die britische Seite in den Vertrag das im Prinzip sachfremde Kriterium ein, dass die Sowjetunion auf antikoloniale Propaganda im bri- tischen Empire verzichten solle – eine Forderung, die 14 Jahre später beim Besuch des britischen Außenministers Anthony Eden in Moskau immer noch beziehungsweise wieder zur Sprache kam. 5 Ein Jahr später folgte der „Rapallo-Vertrag“ mit Deutschland. Freilich waren die Verträge mit der Sowjetunion in den westlichen Ländern, die sie abschlossen, innenpolitisch immer umstritten: Der damals stellvertretende sowjetische Außenkommissar Maksim Litwinow sah 1927 voraus, dass Rapallo nicht ewig halten werde – was sich 1933 bestätigte –, und lieferte sich sogar mit Stalin eine Auseinandersetzung darüber: Sowjetrussland könne es sich nicht leisten, die Brücken nach London und Paris zugunsten des Verhältnisses mit der Weimarer Republik abzubrechen. 6 Litwinow war freilich jemand, der die „Westorientierung“ der UdSSR auch emotional unterstützte; er war in England in der Emigration gewesen und als Jude und durch seine deutschen Sprachkenntnisse früher als der Großteil der sowjetischen Führung mit dem Inhalt von Mein Kampf vertraut geworden: Die erste russische Übersetzung von Hitlers Programmschrift erschien erst 1935, und dies in einem obskuren Emigrantenverlag in Shanghai 7; er zitierte oft daraus, um intern die deutsche Bedrohung zu illustrieren, und pflegte deutschen Diplomaten, die ihm die Friedfertigkeit Nazideutschlands versicherten, nur mit ironischen Hinweisen auf den Inhalt von Mein Kampf zu kontern.

Das Problem der sowjetischen Außenpolitik war, dass ihre Ansprechpartner im Westen zwar die Botschaft hörten, ihnen aber der Glaube fehlte. Vor allem in Großbritannien war die konservative Partei auch ideologisch von starker Ablehnung der Sowjetunion geprägt, sie betrachtete die UdSSR genauso vom bürgerlichen Klassenstandpunkt aus wie umgekehrt die UdSSR den Westen von ihrem. 8 Die Kommunistische Internationale, 1919 als Vehikel des Revolutionsexports und damit einer Nebenaußenpolitik ins Leben gerufen, kam sich mit dem staatlichen Interesse der Sowjetunion an stabileren Beziehungen zum Westen zunehmend in die Quere, und Außenkommissar Maksim Litwinow äußerte sich mehrfach genervt über die Querschüsse ihrer revolutionären Propaganda in einer nichtrevolutionären Situation.

Dass die Machtübertragung an die deutschen Faschisten 1933 ein Wendepunkt der europäischen Geschichte war, ist ein Gemeinplatz. Plötzlich stand die Frage von Krieg oder Frieden, die die sowjetische Propaganda rhetorisch die ganze Zeit im Mund geführt hatte – „Wer Hitler wählt, wählt Krieg“ hatte die KPD 1932 bei der Reichspräsidentenwahl erklärt – auch außenpolitisch wieder auf der Tagesordnung. Die Sowjetunion war schon 1928 dem sogenannten Kriegsächtungspakt beigetreten und hatte sogar dessen vorzeitige Inkraftsetzung verlangt. 9 Aber die Bemühungen der sowjetischen Diplomatie um eine Annäherung an Großbritannien und Frankreich blieben jahrelang ohne sichtbaren Erfolg. Sowjetische Vorschläge für Nichtangriffs- oder Neutralitätsverträge versandeten in den damals kurz aufeinander folgenden Regierungswechseln in Paris und scheiterten daran, dass sich Frankreich stets hinter Großbritannien versteckte und nichts ohne Rückendeckung aus London unternehmen wollte: „Nicht einmal auf die Toilette wären die Franzosen ohne britische Billigung gegangen“, ironisiert der Historiker Michael J. Carley. 10

Zum Misserfolg der sowjetischen Bemühungen trug der Unwillen der Westmächte bei, sich militärisch gegenüber der Sowjetunion zu binden. Aus britischer Sicht war das traditionelle Politik gegenüber dem europäischen „Kontinent“, in Frankreich trug die zweideutige sowjetische Haltung gegenüber dem Vertragssystem von Versailles zum Misstrauen bei. Beim Besuch einer britischen Regierungsdelegation unter Außenminister Anthony Eden kamen die Unterschiede deutlich zum Vorschein. Während Außenminister Litwinow erklärte, die Sowjetunion hege „keine Illusionen über die deutsche Aggression“, und er die deutsche Politik als von dem Streben nach Revanche für Versailles und dem nach Vorherrschaft in Europa bestimmt sah, setzte Stalin die Akzente anders: „Es war unmöglich, das deutsche Volk auf Dauer in den Ketten von Versailles zu halten. Früher oder später musste sich das deutsche Volk von Versailles befreien.“ 11 Es komme darauf an, auf welche Weise diese Emanzipation Deutschlands von den Versailler Restriktionen sich vollziehe. Später im selben Jahr warnte Stalin die sowjetische Diplomatie davor, angesichts des italienischen Angriffs auf Äthiopien zu deutlich Partei gegen Italien zu nehmen: Die Sowjetunion sei daran interessiert, sich herauszuhalten und ihr Getreide jeder kämpfenden Seite zu verkaufen. 12 Im Prinzip war dies auch die britische Haltung gegenüber dem Vertrag von Versailles, und deshalb fand Hitlers mit diesem Kontext begründete Aufrüstungspolitik in London einiges Verständnis. Aus sowjetischer Sicht musste das so aussehen, als hielte sich Großbritannien beide Optionen offen: ein antisowjetisches Bündnis mit Nazideutschland oder das Beistandsabkommen, das die UdSSR ihm vorschlug. Ebenso wollte sich Frankreich nicht militärisch an die UdSSR binden. Ein resigniert klingender Litwinow schrieb schon 1935 an Stalin, die Sicherheit der Sowjetunion ruhe vorrangig auf den Schultern der Roten Armee. 13

Den vollständigen Text lesen Sie in der aktuellen Ausgabe 5/6 2025 unseres Magazins, das im Bahnhofsbuchhandel, im gut sortierten Zeitungschriftenhandel und in ausgewählten Lebensmittelgeschäften erhältlich ist. Sie können das Heft auch auf dieser Website (Abo oder Einzelheft) bestellen.

REINHARD LAUTERBACH, Jahrgang 1955, Studium der Slawistik und Osteuropäischen Geschichte in Mainz, Kiew und Bonn, 26 Jahre Redakteur bei verschiedenen öffentlich-rechtlichen Sendern, davon drei als Korrespondent für die Ukraine und Belarus. Seit 2013 freier Osteuropakorrespondent mit Lebensmittelpunkt in Polen.

1 Die nachfolgenden Überlegungen stützen sich in erster Linie auf folgende Quellen: Michael Jabara Carley, „Who Betrayed Whom? Franco-Anglo- Soviet Relations, 1932–1939“, Vortrag FU Berlin 2014, online unter: https:// www.academia.edu/9608960/_Who_Betrayed_Whom_Franco_Anglo_Soviet_ Relations_1932_1939_Gab_es_einen_Stalin_Hitler_Pakt_Freie_Universität_ Berlin_Berlin_conférence_février_2014; Manfred Hildermeier, Geschichte der Sowjetunion 1917–1991, München 1998, S. 352ff., 585ff; Steven Kotkin, Stalin. Waiting for Hitler. 1929–1941, Vol. II, S. 238ff. Für eine größere Literaturauswahl vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Deutsch-sowjetischer_ Nichtangriffspakt#Historische_Bewertung
2 Bert Brecht, Arbeitsjournal, Frankfurt/Main 1973, Bd. I, S. 62 (Eintragung vom 9.9.1939. Rechtschreibung wie im Original)
3 Selbst Kotkin, der kein Totalitarismus-Theoretiker ist, spielt mit diesem Gedanken und nennt Stalin einen „Germanophilen“, der an Deutschland dessen Modernität bewundert habe – genau das, was dem Russland, das er vorfand, gefehlt habe. (a. a. O., Vorwort, S. XIII)
4 Hildermeier, S. 353f.
5 zu 1921: Hildermeier, S. 356; zu 1935: Kotkin, S. 243
6 Carley, S. 2; vgl. a. Hildermeier , S. 362: „Die Sowjetunion benötigte […] weniger einen Bündnispartner, den sie dem Systemfeind entriss, als eine Vielzahl zumindest neutraler Vertragspartner.“
7 Kotkin, S. 238
8 Carley, S. 3
9 Hildermeier, S. 588
10 Carley, S. 11
11 beide Zitate zit.n. Kotkin, S43f.
12 Kotkin, S. 269
13 Carley, S. 8

Newsletter

Wir senden keinen Spam! Erfahren Sie mehr in unserer Datenschutzerklärung.

Der Hintergrund-Newsletter

Wir informieren künftig einmal in der Woche über neue Beiträge.

Wir senden keinen Spam! Erfahren Sie mehr in unserer Datenschutzerklärung.

Abo oder Einzelheft hier bestellen

Seit Juli 2023 erscheint das Nachrichtenmagazin Hintergrund nach dreijähriger Pause wieder als Print-Ausgabe. Und zwar alle zwei Monate.

Hintergrund abonnieren

Drucken

Drucken

Teilen

Voriger Artikel Nach der Befreiung Die Amerikanisierung (West-)Europas
Nächster Artikel Wie kam es dazu? Der Tod, ein Meister aus Deutschland