Kriege

Syrien: Türkei erwägt Einsatz von Bodentruppen

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Von SEBASTIAN RANGE, 12. August 2015 –

Während die Gewalt in der Türkei eskaliert, schließt der türkische Ministerpräsident Ahmet Davutoğlu eine Entsendung von Bodentruppen nach Syrien nicht mehr aus, um im Grenzgebiet eine sogenannte Pufferzone zu schaffen, wie er in einem Interview gegenüber der BBC erklärte. (1)

Das dafür vorgesehene Gebiet soll einen rund einhundert Kilometer langen und fünfzig Kilometer breiten Streifen entlang der Grenze zur Türkei umfassen. Es wird gegenwärtig vom „Islamischen Staat“ (IS) und anderen islamistischen Terrorgruppen kontrolliert. Dem „IS“ dient es als Nachschubroute in die Türkei. Auch eine der wichtigsten Einnahmequellen der Terrormiliz, der Ölverkauf in die Türkei, hängt von der Kontrolle über dieses Gebiet ab.  

Die Initiative zur Schaffung der Pufferzone kommt nicht zufällig zu einem Zeitpunkt, nachdem es den kurdischen Kämpfern der YPG gelungen war, den „IS“ immer weiter aus der Region zurückzudrängen. Gelänge es den Kurden, dieses Gebiet zu erobern, würde damit eine Verbindung zwischen der westlich gelegenen kurdischen Enklave Afrin und dem von den Kurden im Osten kontrolliertem Gebiet, darunter die vom „IS“ zurückeroberten Städte Kobane und Tall Abyad, bestehen.

Ankara fürchtet die Entstehung eines kurdischen, zudem noch vom PKK-Ableger YPG kontrollierten Staates, sollten die kurdischen Kämpfer es schaffen, ein durchgehendes Gebiet entlang der Grenze zu erobern.  Zudem wären damit die von der Türkei unterstützen islamistischen „Rebellen“, die in Aleppo gegen die Assad-Regierung kämpfen, vom Nachschub abgeschnitten.

Nicht zuletzt um grünes Licht aus Washington zu bekommen, begründet die türkische Regierung die Schaffung einer Pufferzone vornehmlich mit humanitären Gründen und dem Kampf gegen den „IS“. In die Türkei geflüchtete Syrer könnten dorthin zurückkehren, wenn der „IS“ von dort vertrieben sei, so Davutoğlu, der sich erneut dafür aussprach, in Nordsyrien eine Flugverbotszone einzurichten.

Gleichzeitig stärkt Ankara mit seinen Bombenangriffen auf PKK-Stellungen die Position des „IS“ – was bei den westlichen Verbündeten für Unmut sorgt. „Nicht nur unternehmen die Türken kaum etwas gegen den IS, sie greifen die einzige Gruppe an, die wirksam den IS bekämpft“, äußerte sich Michael Rubin, Nahostexperte des konservativen US-Think-Tanks American Enterprise Institute. (2)

Zwar ist die PKK weiterhin in den USA als Terrorgruppe gelistet, doch de facto hat Washington in den vergangenen Monaten mit den Öcalan-Anhängern der PKK-Schwesterorganisation YPG kooperiert, die sich in Syrien als einzig verlässliche und auch schlagkräftige Truppe im Kampf gegen den „IS“ erwiesen hat.

Da Luftschläge allein den „IS“ nicht wesentlich schwächen können, ist Washington auf Bündnispartner vor Ort angewiesen. Will man dabei nicht mit der syrischen Armee kooperieren oder auf mit dem „IS“ konkurrierende islamistische Gruppen zurückgreifen, bleiben praktisch nur die kurdischen Kämpfer als einzige Kraft übrig.

Jüngste Äußerungen des türkischen Außenstaatssekretärs Feridun Sinirlioğlu zeugen von dem Bemühen Ankaras, einen Keil zwischen die Kurden und Washington zu treiben. Wie die Zeit unter Berufung auf türkische Medien berichtete, sagte Sinirlioğlu, die Streitkräfte der USA oder der Türkei würden den „IS“ oder kurdische Kämpfer angreifen, wenn sie in die geplante Zone eindrängen. (3) Das Weiße Haus dementierte jedoch unverzüglich. Es gebe keine Vereinbarung über irgendeine Art von Zone, so ein Sprecher des Außenministeriums.

Ankaras Nebelkerze: „Moderate“ Rebellen

Sollte es den „moderaten“ Rebellen gelingen, den „IS“ aus diesem Gebiet zu vertreiben, gebe es für die Türkei keine Notwendigkeit, Bodentruppen zu schicken, erklärte Ministerpräsident Davutoğlu. In der Zone könnten Kämpfer der Freien Syrischen Armee (FSA) auf Streife gehen, äußerte sich  Außenstaatssekretär Sinirlioğlu. Dabei handelt es sich freilich um einen Wunschtraum, denn die FSA „existiert praktisch nicht mehr“, wie Spiegel-Online vor einer Woche feststellte. (4)

Die Rede von den „moderaten Rebellen“ gleiche der Rede von einer ausgestorbenen Spezies, so Michael Rubin: „Sie existierte irgendwann einmal, aber nun ist sie ausgelöscht.“ Im Kampf gegen den „IS“ auf sie zählen sei eine „gefährliche Fantasie“.

Kaum etwas könnte das besser verdeutlichen als das zum Fiasko gewordene Ausbildungsprogramm der USA für „moderate“ Kämpfer in der Türkei. Dort will die US-Regierung pro Jahr fünftausend Rebellen für den Kampf gegen den „IS“ ausbilden. Seit Mai ließen sich jedoch nur 54 Männer verpflichten, die die Voraussetzung erfüllten, keine Affinität zu dschihadistischen Gruppen zu haben – die Zielmarke von dreitausend ausgebildeten Kämpfern bis zum Jahresende ist in weite Ferne gerückt.

Nach eineinhalbmonatiger Ausbildung wurde die aus ihnen formierte „Division 30“, ausgestattet mit Waffen und Geländewagen, über die türkische Grenze geschickt. Doch zum Kampf gegen den „IS“ kam es gar nicht erst, nachdem rund die Hälfte der Mitglieder von der al-Nusra-Front getötet und gefangen genommen wurde.

In einer Pressemitteilung erklärte der syrische al-Qaida-Ableger am Montag, sich aus den Gebieten zurückzuziehen, die innerhalb der geplanten Pufferzone liegen. Die al-Nusra-Front habe kein Interesse daran, eine Rolle in einer von Ankara unterstützten Militäroperation zu spielen, die ausschließlich den nationalen Interessen der Türkei diene, und nicht dem Kampf gegen Assad.

Die ebenfalls zum Dunstkreis al-Qaidas gehörende Terrormiliz Ahrar al-Scham begrüßte dagegen die Pläne Ankaras zur Einrichtung einer Pufferzone. Die beiden dschihadistischen Gruppen bilden die führende Kraft der „Armee der Eroberer“, der es dank massiver türkischer Unterstützung – und moderner US-Waffen – in den vergangenen Monaten gelungen war, große Teile der nordwestlichen syrischen Provinz Idlib zu erobern. (5)

Die Absenz der von Davutoğlu bemühten „moderaten“ Rebellen, zudem solcher, die bereit wären, neben dem „IS“ auch die Kurden zu bekämpfen, macht einen Einmarsch türkischer Truppen wahrscheinlicher.

Für die syrische Regierung, an deren Sturz die Türkei nach wie vor festhält, hätte die Einrichtung der Pufferzone keine unmittelbaren Folgen, denn das Gebiet ist für die syrische Armee schon lange verloren und eine zeitnahe Rückeroberung außerhalb jeder realistischen Einschätzung..

Ende Juli hat Präsident Assad erstmals öffentlich die Tatsache eingestanden, dass die syrische Armee nicht in der Lage sein wird, die territoriale Integrität des Landes wiederherzustellen. Stattdessen müssten „einige Gebiete“ aufgegeben werden, „um andere, bedeutendere Gebiete halten zu können“.

Die Armee konzentriert sich daher darauf, das zu verteidigen, was sich als „Kern-Syrien“ bezeichnen ließe: Die Küstenregionen, die zentralen Städte Hama und Homs sowie die Hauptstadt Damaskus. Nur die außerhalb dieser Region gelegene Stadt Aleppo dürfte strategisch so bedeutsam sein, dass die syrische Armee sich nicht aus dem von ihr kontrollierten Teil der zweitgrößten Stadt des Landes zurückziehen wird. Das traditionell bevölkerungsreichste Gebiet Syriens befindet sich demnach immer noch unter Regierungskontrolle. Hinzu kommen Millionen Binnenflüchtlinge, die dort Zuflucht gefunden haben. So wuchs allein in der Küstenprovinz Latakia die Zahl der Bevölkerung von rund 1,3 Millionen auf über drei Millionen an.

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Doch der Druck auf dieses „Kern-Syrien“ nimmt zu: Vor einer Woche eroberte der „IS“ die Stadt Karjatain in der Provinz Homs, die an einer wichtigen Verbindungsstraße nach Damaskus liegt. Anschließend verschleppten die Terroristen über zweihundert Menschen, vornehmlich Christen, darunter Frauen und Kinder.


 
Anmerkungen
(1) http://www.bbc.com/news/world-europe-33868627
(2) http://www.washingtontimes.com/news/2015/aug/10/obamas-syria-safe-zone-plan-lacks-moderate-rebels-/
(3) http://www.zeit.de/politik/ausland/2015-08/syrien-tuerkei-davutoglu-bodentruppen-buergerkrieg
(4) http://www.spiegel.de/politik/ausland/islamischer-staat-das-ist-strategie-von-usa-und-tuerkei-in-syrien-a-1046655.html
(5) Siehe dazu: http://www.hintergrund.de/201505083534/globales/kriege/schuetzenhilfe-fuer-al-qaidas-siegeszug.html

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