Kriege

"Wenn wir nicht aufpassen, sind wir im Krieg"

Der ehemalige Bundesminister und SPD-Politiker Klaus von Dohnanyi und General a. D. Erich Vad fordern in ihrem gemeinsamen Buch "Krieg oder Frieden. Deutschland vor der Entscheidung" einen radikalen Kurswechsel in der deutschen Außenpolitik. Vad, langjähriger militärpolitischer Berater von Angela Merkel, sieht die NATO-Osterweiterung als eigentliche Ursache des Ukraine-Krieges und die weit verbreitete "Domino-Theorie" der russischen Expansion als Illusion. Im Interview erklärt er, warum Deutschland, um seine eigene Sicherheit zu gewährleisten, dringend auf Dialog und Deeskalation setzen muss. Mit ihm sprach ÉVA PÉLI.

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Foto: Pexels; Quelle: Pixabay; Lizenz
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HINTERGRUND Herr Vad, Friedrich Merz warnt, dass Russland nach der Ukraine nicht Halt mache und auch Deutschland an der Reihe sei. Wie realistisch ist diese Einschätzung aus Ihrer Sicht?

ERICH VAD Ich halte die „Domino-Theorie“, nach der Russland nach der Ukraine weitere Länder angreifen wird, für ein inakzeptables Narrativ. Der Hauptgrund für den Krieg waren die politischen und militärischen Vorbereitungen des Westens, angeführt von den USA, für den NATO-Beitritt der Ukraine. Diese Einschätzung wurde sogar vom amtierenden US-Präsidenten nach seiner Amtsübernahme bestätigt. Russland fehlen schlicht die militärischen Fähigkeiten, um die NATO anzugreifen. Russland ist seit dreieinhalb Jahren dabei, den relativ kleinen Donbass zu besetzen, und ist damit immer noch nicht fertig. Die im Einsatz befindlichen russischen Streitkräfte sind bei Weitem nicht stark genug, um die gesamte Ukraine zu besetzen. Im Gegenteil: Die europäischen NATO-Staaten haben, selbst ohne die USA, eine eindeutige konventionelle Überlegenheit gegenüber Russland. An der Grenze zu Polen haben die polnischen Streitkräfte beispielsweise eine dreieinhalbfache Überlegenheit gegenüber Belarus. Darüber hinaus gibt es kein einziges offizielles Dokument, das belegt, dass der Kreml die Absicht hat, die NATO anzugreifen. Die Idee einer unmittelbaren russischen Gefahr geben die militärischen Kräfteverhältnisse einfach nicht her.

HINTERGRUND Sie betonen, dass Kriege eine politische Vorgeschichte haben. Was sind Ihrer Meinung nach die entscheidenden politischen Versäumnisse oder Fehlentscheidungen der vergangenen Jahre, insbesondere auf Seiten des Westens, die den Boden für den Ukraine-Krieg bereitet haben?

VAD Aus russischer Sicht war die NATO-Osterweiterung stets kritisch und nicht akzeptabel. Anfangs versuchte man, die so entstandene strategische Verschlechterung durch diplomatische Initiativen wie die Aufnahme Russlands in die G8 und die WTO sowie die Unterzeichnung der NATO-Russland-Grundakte auszugleichen. Das Klima war damals sehr entspannt. Doch diese Beziehungen wurden maßlos strapaziert, insbesondere durch die Aussicht auf eine NATO-Mitgliedschaft der Ukraine und Georgiens. Seit über 20 Jahren war klar erkennbar, dass dies für Russland ein potenzieller Kriegsgrund ist. Aber auch von William Burns, dem damaligen US- Botschafter in Moskau, waren die Signale eindeutig: Eine NATO-Mitgliedschaft der Ukraine war für Russland eine „dunkel-rote Linie“. Angela Merkel hat dies 2008 auf dem NATO-Gipfel in Bukarest erkannt. Sie wusste, dass eine Aufnahme der Ukraine faktisch einen Krieg mit Russland provozieren würde, und verhinderte dies. Hätte sie nicht so gehandelt, wäre es wohl schon 2008 zum Krieg in der Ukraine gekommen, wie er sich im August desselben Jahres im Georgien-Krieg manifestierte.

HINTERGRUND Wie bewerten Sie als Militärexperte die aktuellen Pläne, Deutschland „kriegstüchtig“ zu machen?

VAD Es ist richtig, dass die deutschen Streitkräfte im Rahmen der Landesverteidigung wieder funktionsfähig gemacht werden. Dazu gehört auch die Debatte um die Wehrpflicht. Das geplante schwedische Modell der Freiwilligkeit ist ein vielversprechender Ansatz, doch entscheidend ist, den Dienst bei der Bundeswehr attraktiver zu gestalten, um die geringe Wehrbereitschaft zu erhöhen. Es ist erstaunlich, dass manche deutsche Politiker, die nie selbst gedient haben und keine militärische Erfahrung besitzen, eine aggressive Kriegsrhetorik pflegen. Oft sind es dieselben, die in den vergangenen Jahren aktiv an der Schwächung der Bundeswehr mitgewirkt haben. Dabei ist klar im Grundgesetz verankert, dass die Bundeswehr der Verteidigung dient. Deutschlands Sicherheit wird weder am Hindukusch noch in Mali, am Dnepr oder im Indo-Pazifik verteidigt. Die NATO-Mitgliedschaft Deutschlands basiert auf dem im Grundgesetz verankerten Prinzip der Verteidigung. Bedauerlicherweise wurde dieses ursprüngliche Ziel des Verteidigungsbündnisses durch die offensive NATO-Erweiterungspolitik früherer US-Regierungen mit Blick auf die Ukraine und Georgien ziemlich untergraben.

HINTERGRUND In Ihrem Buch unterscheiden Sie zwischen Verteidigung und Sicherheit. Worin liegt der grundlegende Unterschied, und wer bedroht Deutschland und die EU?

VAD Auf diesen Unterschied hat Klaus von Dohnanyi hingewiesen. Ich komme aus dem Militär und gehe natürlich aus militärstrategischer Sicht an die Dinge heran. Er hat mit Recht angemahnt, dass Sicherheit mehr ist als Verteidigung. Zur Sicherheit gehören Dialog, Interessenausgleich, Verständigung und vertrauensbildende Maßnahmen mit dem potenziellen Gegner. Die NATO hat auch im Kalten Krieg niemals nur auf militärische Verteidigungsbereitschaft gesetzt, sondern immer auch auf Dialog mit der Sowjetunion. Auch wenn sich vieles verändert hat, würde Deutschland – wie im Kalten Krieg auch – in einem europäischen Krieg mit Russland das Schlachtfeld sein. Wir sind die logistische Drehscheibe und das Aufmarschgebiet der NATO und beherbergen US-Hauptquartiere. Viele Politiker scheinen nicht zu verstehen, dass wir mittendrin wären, wenn der Ukraine-Krieg eskaliert. Das ist keine vernünftige Option für uns. Deshalb müssen wir mit Russland reden und verhandeln, um aus diesem sinnlosen Krieg rauszukommen. Es gibt einfach seit Jahren keine militärische Lösung, die die Ukraine zufriedenstellen würde. Die Fortsetzung der Waffenlieferungen ist sinnlos. Wir brauchen ein politisches Konzept, das uns einen Ausweg bietet.

Das vollständige Interview mit Erich Vad lesen Sie in der  aktuellen Ausgabe 9/10 2025 unseres Magazins, das im Bahnhofsbuchhandel, im gut sortierten Zeitungschriftenhandel und in ausgewählten Lebensmittelgeschäften erhältlich ist. Sie können das Heft auch auf dieser Website (Abo oder Einzelheft) bestellen.

DR. ERICH VAD ist Brigadegeneral a. D. Er war 2006 bis 2013 Gruppenleiter im Bundeskanzleramt, Sekretär des Bundessicherheitsrates und Militärpolitischer Berater der damaligen Bundeskanzlerin Angela Merkel. Im Westend Verlag erschienen zuletzt seine Bestseller Ernstfall für Deutschland. Ein Handbuch gegen den Krieg sowie gemeinsam mit Klaus von Dohnanyi Krieg oder Frieden. Deutschland vor der Entscheidung.

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