EU verhandelt über Deregulierung bei gentechnisch veränderten Pflanzen
Risikoprüfung und Kennzeichnungspflicht sollen wegfallen / Biologin: Gefahr unerwünschter Nebeneffekte bei gentechnischen Verfahren / Kritiker befürchten Deregulierung auch bei gentechnisch veränderten Nutztieren – US-Behörde erlaubt genomeditierte Schweine
(Diese Meldung ist eine Übernahme von Multipolar)
Seit dem 6. Mai verhandelt die Europäische Union (EU) über eine weitgehende Deregulierung der Anwendung und Kennzeichnung gentechnisch veränderter Pflanzen. Im Vorschlag der EU-Kommission, der seit dem 5. Juli 2023 vorliegt, ist laut einem Bericht von „Agrar heute” eine weitgehende Deregulierung für neue gentechnische Verfahren wie die Genschere Crispr/Cas vorgesehen. Für Pflanzen, bei denen bis zu 20 Erbgut-Bausteine im Genom eingefügt oder ersetzt werden, sollen unter anderem eine Risikoprüfung und eine Kennzeichnungspflicht entlang der gesamten Wertschöpfungskette wegfallen. Nur noch Saatgut soll gekennzeichnet werden. Damit sollen gentechnisch veränderte Pflanzen mit konventionell gezüchteten gleichgestellt werden.
Bereits am 14. März hatte sich eine knappe Mehrheit der 27 EU-Staaten für eine Deregulierung ausgesprochen. Das mehrheitliche Ja war Voraussetzung dafür, dass Trilog-Verhandlungen zwischen der EU-Kommission, dem EU-Rat und dem Europaparlament über den Vorschlag der Kommission Anfang Mai aufgenommen werden konnten. Schon vor rund drei Jahren ließ die EU-Kommission vier gentechnisch veränderte Pflanzen zu.
Der Berliner Verein „Gen-ethisches Netzwerk“ hatte sich nach der Entscheidung am 14. März „schwer bestürzt“ geäußert. Sollte der Vorschlag tatsächlich umgesetzt werden, würden „wichtige Errungenschaften wie das Vorsorgeprinzip, die Wahlfreiheit und Transparenz“ gekippt. Der „Blog der Republik“ verwies zu Jahresbeginn auf eine Stellungnahme der französischen Behörde für Nahrungsmittelsicherheit, Umwelt und Arbeitsschutz (Anses), die zu dem Ergebnis kam, der Begründung der EU-Kommission für ihren Vorschlag fehle eine „wissenschaftliche Grundlage“. Gerügt werden unklare, uneindeutige Begriffe im Vorschlagstext. Es sei nicht einmal eine Definition vorhanden, was die Kommission genau unter „konventionellen Pflanzen“ verstehe. Dies wird in der Stellungnahme als „großer Mangel“ kritisiert.
Laut Alexander Hissting, Geschäftsführer des Berliner Verbands „Lebensmittel ohne Gentechnik” (VOLG), wird in der EU aktuell intensiv um die Deregulierung gerungen. Strittig sei im Augenblick die Kennzeichnung der Lebensmittel für Endverbraucher sowie die Frage der Patentierbarkeit, wie er Multipolar auf Anfrage mitteilte. Hissting warnte zudem: „Sollte es zu einer Deregulierung der neuen Gentechnik bei Pflanzen kommen, steht danach für die Biotechlobby eine Aufweichung der Regelungen für gentechnisch veränderte Tiere ganz oben auf der Tagesordnung.“
Ähnliches befürchtete auch die „Schweizer Allianz Gentechnikfrei” (SAG). Zsofia Hock, Biologin und SAG-Mitglied erläutert auf Anfrage von Multipolar, dass die Genschere Crispr/Cas bei der Veränderung von Nutztieren „zu einem Boom“ geführt habe: „Die Technologie ist sehr lukrativ.“ Würden Pflanzen aus neuer Gentechnik in der EU und in der Schweiz zugelassen, könnte dies ein „Türöffner für Gentechtiere“ sein. Aber auch die Gefahr, dass tierische Produkte aus neuer Gentechnik unbemerkt in den Handel gelangen, steigt laut Zsofia Hock: „Insbesondere, wenn Kontrollmechanismen versagen oder gesetzliche Vorgaben gelockert werden.” Das Risiko verschärfe sich, je mehr Produkte in Ländern mit weniger strengen Regulierungen Marktzulassungen erhalten.
Eingriffe mit der Genschere könnten laut Hock unerwünschte Nebeneffekte verursachen, da nicht hundertprozentig präzise gearbeitet werden könne. Werde ein Genort verändert, könne sich dies vielfältig auf den Stoffwechsel auswirken. Es könnten „neue Inhaltsstoffe gebildet werden, darunter eventuell Allergene“, erläutert sie. Besonders kritisch sieht sie die aktuellen Erfolge bei genomeditierten Schweinen, die gegen die Virusinfektionen „Porzines Reproduktives und Respiratorisches Syndrom“ (PRRS) immun sein sollen. Bisherige Versuche, die Infektionen „per Impfung zu stoppen, führten zur Entstehung neuer Virusvarianten, die sogar Teile der Impfstoffe in ihr Erbgut übernommen hatten und noch virulenter wurden“, sagt Zsofia Hock.
In den USA hat die Behörde für Lebensmittelsicherheit soeben jedoch genau solche gentechnisch veränderten Schweine zugelassen. Auch darüber berichtete „Agrar heute”. Die Schweine stünden demnach kurz vor dem Eintritt in die menschliche Nahrungskette. Ein Sprecher des Zuchtunternehmens geht laut dem Bericht „nicht davon aus, dass Schweinekoteletts oder anderes Fleisch mit einem Hinweis auf ihre gentechnische Veränderung gekennzeichnet werden müssen“. Eine Kennzeichnungspflicht sei nicht bekannt.