Journalistin: Bundesverfassungsgericht verweigert Prozess um zurückgehaltene Kohl-Akten
Witwe von Helmut Kohl soll staatliche Dokumente in Privatbesitz und unter Verschluss halten / Journalistin kritisiert „Privatisierung amtlicher Akten“ und Aushebelung von Informations- und Pressefreiheit / Bundesregierung bestreitet, dass sich Akten in privatem Besitz befinden
(Diese Meldung ist eine Übernahme von Multipolar)
Die Witwe des früheren Bundeskanzlers Helmut Kohl (CDU) darf staatliche Akten aus dessen Amtszeit, die sich mutmaßlich in ihrem Besitz befinden, weiter unter Verschluss halten. Die Journalistin Gaby Weber hatte im Zuge ihrer Recherchen über zwei Korruptionsverfahren Einsicht in die Akten erhalten wollen, die im Keller der Witwe lagern sollen. Weber hatte das Kanzleramt als Eigentümerin der Akten auf Wiederbeschaffung der Originaldokumente verklagt und in allen Instanzen bis zum Bundesverwaltungsgericht verloren. Nun wies auch das Bundesverfassungsgericht ihre Beschwerde gegen die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts ohne Begründung zurück. Aus Webers Sicht werde damit die „Privatisierung amtlicher Akten“ legalisiert und die Informations- und Pressefreiheit ausgehebelt. Dem Gesetz nach gehörten diese Dokumente ins Bundesarchiv, „wo sie Historiker, Journalisten und Bürger einsehen können“, erklärt Weber.
Unterschrieben wurde der Beschluss unter anderem vom Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts, Stephan Harbarth (CDU). Ihm und anderen Verfassungsrichtern wurde in der Vergangenheit eine zu große Nähe zur Bundesregierung vorgeworfen. Harbarth war bereits 1987 in die CDU eingetreten und machte Gaby Weber zufolge unter Helmut Kohl Karriere. Weber will nun gegen die Entscheidung des Verfassungsgerichts beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte Beschwerde einlegen.
Die Bundesregierung bestreitet auf Nachfrage von Multipolar, dass sich die Kohl-Akten überhaupt in privater Hand befinden. Eine Sprecherin sagte: „Die amtlichen Unterlagen des Herrn Bundeskanzler a.D. Helmut Kohl befinden sich im Bundeskanzleramt bzw. im Bundesarchiv.“ Auf Nachfrage, ob es sich um alle Akten handele und eventuell welche in jüngerer Zeit zurückgekommen seien, hieß es, man habe der Antwort nichts hinzuzufügen. Die Aussage steht im Widerspruch zu Aussagen von Zeugen, die in der Vergangenheit berichtet hatten, im Privathaus von Helmut Kohl in Ludwigshafen-Oggersheim Einblick in staatliche Dokumente gehabt zu haben.
So konnte das Institut für Zeitgeschichte im Auftrag des Auswärtigen Amtes auf Akten des Privatarchivs von Helmut Kohl zurückgreifen. Auch Heribert Schwan, Biograf von Helmut Kohl, hat laut Weber im Gerichtsstreit über die Rechte an seiner Arbeit bestätigt, dass er in Oggersheim mit Originalen aus dem Kanzleramt gearbeitet habe. Die Akten seien von der Konrad-Adenauer-Stiftung übersandt worden, die CDU-nahe Stiftung habe das bestätigt. Auf Anfrage teilte Schwan Multipolar mit, er könne aus juristischen Gründen keine weitere Auskunft geben.
Das Bundesarchiv bestätigt, in die Rückgabe von Unterlagen involviert zu sein. Sprecher Elmar Kramer sagte auf Anfrage von Multipolar: „Wie in Medien berichtet, hatte das Bundesarchiv der Witwe von Helmut Kohl nach dessen Tod angeboten, bei der Regelung des schriftlichen Nachlasses zu unterstützen.“ Man habe daran erinnert, dass etwaiges dort vorhandenes staatliches Schriftgut aus dem Wirken Helmut Kohls über das Bundeskanzleramt dem Bundesarchiv anzubieten sei. Nachrichten darüber, dass etwas in der Richtung geschehen ist, gibt es nicht.
Laut dem Rechtsanwalt und Kommentator des Bundesarchivgesetzes, Christoph Partsch, ist der Fall Kohl nicht der einzige seiner Art. Es habe sich ein „rechtswidriger wie strafrechtlich relevanter Brauch entwickelt“, dass Regierungsmitglieder – insbesondere Bundeskanzler – nach ihrem Ausscheiden aus dem Amt die sie interessierenden, öffentlich-rechtlich gewidmeten Unterlagen aus dem Bundeskanzleramt einfach mit sich nehmen oder an ihnen nahestehende private Parteistiftungen übergeben. „Der Bundesrechnungshof hat sich mit dieser Praxis beschäftigt und sie 2018 als rechtswidrig eingestuft“, schrieb Partsch im Fachmagazin „Legal Times Online“. Denn nach dem Bundesarchivgesetz müssten Stellen des Bundes grundsätzlich alle Unterlagen, die sie zur Erfüllung ihrer öffentlichen Aufgaben nicht mehr benötigen, an das Bundesarchiv abgeben. Dass dies nicht geschehe, habe der Präsident des Bundesarchivs Michael Hollmann mehrfach als „Diebstahl“ bezeichnet.