Corona-Aufarbeitung

„Mitte-Studie“: Bevölkerung bewertet Corona-Maßnahmen rückblickend kritischer

Rund 26 Prozent haben durch Corona-Maßnahmen Vertrauen in den Staat verloren / Studie stellt Zusammenhang mit „Demokratiedistanz“ her / Aktuelle und frühere Studien argumentieren teils widersprüchlich

(Diese Meldung ist eine Übernahme von Multipolar)

Laut der aktuellen „Mitte-Studie“ der SPD-nahen Friedrich-Ebert-Stiftung (FES) ist die „rückblickende Zustimmung“ zu den Freiheitseinschränkungen während der Corona-Krise „offenkundig“ gesunken: Rund 44 Prozent der Befragten finden die Freiheitseinschränkungen zwar nach wie vor „richtig oder eher richtig“. Aber rund 34 Prozent lehnen die Maßnahmen „retrospektiv (eher) ab“ und rund 21 Prozent sind unentschieden. Zu Beginn der Corona-Krise seien Maßnahmen wie Abstandsregelungen, Maskenpflicht oder die Schließung von Schulen und Kitas von der Mehrheit der Bevölkerung „zunächst“ befürwortet worden. Die Studie zitiert eine Befragung des Bundesamtes für Risikobewertung. Demnach hätten im Mai 2020 die Befragten vielen Beschränkungen zugestimmt. Reisebeschränkungen hielt 92 Prozent für angemessen, Abstandsregeln 90 Prozent, Veranstaltungsabsagen 89 Prozent und Kita- und Schulschließungen 75 Prozent.

Die Studienteilnehmer wurden auch gefragt, ob sie durch die Maßnahmen während der Corona-Krise das Vertrauen in den Staat verloren hätten. Rund 26 Prozent bejahten diese Frage, rund 60 Prozent verneinten sie, rund 14 Prozent konnten sich nicht entscheiden. Die Coronapolitik sei laut den Studienautoren zwar kein „Kipppunkt“, aber ein „weiterer Schub für Vertrauensverlust“ gewesen. Spätestens mit der Einführung der Impfungen seien „gesellschaftliche Wissens- und Wertekonflikte“ zutage getreten. Erstmalig sei der Staat für alle Bürger „direkt als restriktiv erlebbar“ gewesen, „indem er Grundrechte – insbesondere die Bewegungsfreiheit – einschränkte“, heißt es in der Studie. Die Folge seien „gesellschaftliche Spaltungstendenzen“ gewesen, die in die Protestbewegung der „Querdenker“ mündeten.

Eine kritische Bewertung der freiheitseinschränkenden Maßnahmen und „mehr noch“ der rückblickende Vertrauensverlust in den Staat würden insgesamt „sehr deutlich“ mit „demokratiedistanten Einstellungen“ zusammenhängen. Die Studienautoren definieren diese Einstellungen als solche „die zu demokratischen Grundwerten und -normen in Distanz stehen und gegebenenfalls auch von der Demokratie als solcher abrücken“. Die Autoren verweisen in diesem Kontext unter anderem auf die Untersuchungen von Oliver Nachtwey, Professor für Sozialstrukturanalyse am Fachbereich Soziologie der Universität Basel. Demnach handele es sich bei den „Querdenkern“ um eine „recht heterogene Bewegung“, die sich gleichwohl durch ein „ausgeprägtes Misstrauen gegenüber demokratischen Institutionen“ auszeichnen würden.

Eine 2021 veröffentlichte Untersuchung von Nachtwey zu den Corona-Protesten stellte fest, dass bei der vorangegangenen deutschen Bundestagswahl 23 Prozent der Maßnahmenkritiker die Grünen gewählt hatten, 18 Prozent die Linke sowie 15 Prozent die AfD. Bei der nächsten Bundestagswahl würden jedoch voraussichtlich rund 27 Prozent von ihnen die AfD wählen, hieß es in der Untersuchung von 2021. Es handele sich in der „Gesamtschau“ um eine Bewegung, „die eher von links kommt und nach rechts geht“. In der Gesamtbevölkerung wuchs der Stimmenanteil der AfD bei der Bundestagswahl 2025 von rund 10 Prozent (2021) auf rund 21 Prozent.

Die frühe Untersuchung aus dem Jahr 2021 von Nachtwey und anderen hielt fest, die Teilnehmer der Corona-Proteste seien „weder ausgesprochen fremden- noch islamfeindlich, auch nicht sozialchauvinistisch“. Es seien „sogar anti-autoritäre Züge“ zu beobachten: „64 Prozent sagen, man solle Kindern nicht beibringen, Autoritäten zu gehorchen“. Dennoch stellte die Autorengruppe um Nachtwey fest, bei den Demonstranten handele sich um „keine antiautoritäre Bewegung“, allein deshalb, weil viele Teilnehmer „rechtspopulistische Parteien“ wählen würden und sich gleichgültig gegenüber „Rechtsextremen“ auf Demonstrationen benähmen.

Auch die aktuelle „Mitte-Studie“ argumentiert in Bezug auf mögliche Zusammenhänge zwischen dem gesundheitlichen Wohlbefinden und demokratiefernen Einstellungen uneinheitlich. Die Autoren kommen zu dem Ergebnis, dass Gesundheit für die „Demokratiedistanz“ nur eine „geringe“ und Stress und weitere Facetten der psychischen Belastung „kaum“ eine Rolle spielen würden. Gleichwohl halten sie fest, wenn es „konkreter“ werde, fänden sich für die „These der psychischen Belastungen durch krisenhafte Erfahrung als Ausgang für Radikalisierung weitere empirische Belege“. Diese werden jedoch nicht benannt. Stattdessen heißt es in der Studie zuvor explizit: „Es ist nicht so, dass Befragte mit höherer psychischer und gesundheitlicher Belastung die Maßnahmen zur Pandemieprävention kritischer sehen, gerade Personen mit gesundheitlicher Belastung dürften diese begrüßt haben.“

Multipolar bat die Herausgeberin und Professorin für Soziale Arbeit Beate Küpper und die Public-Health-Wissenschaftlerin Anna Christina Nowak um eine Stellungnahme. Die beiden Autorinnen sind verantwortlich für das Kapitel „Lebenszufriedenheit, Gesundheit und ein Rückblick auf die Coronapandemie als Treiber der Demokratiedistanz“, aus dem die skizzierten Befunde stammen. Multipolar wollte unter anderem wissen, wie die Autorinnen „Demokratiedistanz“ von Regierungskritik abgrenzen. Die Presseanfrage blieb unbeantwortet.

Studien-Herausgeber Andreas Zick erklärte gegenüber der SPD-Parteizeitung „Vorwärts“, dass sich in der Corona-Krise der Trend nach dem Muster „je älter, desto affiner für Rechtsaußen-Positionen“ umgekehrt habe. Die „Frankfurter Rundschau“ bilanzierte, dass zwar „kein schneller Tod der Demokratie“ drohe, aber das „uns von Rechts verabreichte, schleichende Gift des Misstrauens gegenüber der Politik und dem Rechtsstaat“ über Jahre „auch seine Wirkung“ entfalte. Das Magazin „Cicero“ nahm kritisch Bezug auf die Studie: Demnach würden hierin alle, die kein hundertprozentiges Vertrauen mehr in deutsche Behörden, Gerichte oder Wahlen hätten, als „Verdachtsfall“ betrachtet und im „Scheinwerferkegel der öffentlichen Despektion“ präsentiert. Die Verantwortlichen für die „hier und da durchbrechenden Dysfunktionalitäten“ müssten sich hingegen nicht rechtfertigen.

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