Paul-Ehrlich-Institut hält Untererfassung von Impfnebenwirkungen für „Spekulation“
Behörde: Wegen „Änderung der Rechtslage“ und „einfachen“ Meldemöglichkeiten werden Verdachtsfälle „systematisch erfasst“ / Wissenschaftliche Publikationen liegen nicht vor / Aussage widerspricht früheren Publikationen der Behörde
(Diese Meldung ist eine Übernahme von Multipolar)
Das Paul-Ehrlich-Institut (PEI) bestreitet die mutmaßlich hohe Untererfassung bei Verdachtsfällen von Impfnebenwirkungen. Das PEI ist die in Deutschland zuständige Bundesbehörde für die Zulassung und Überwachung der Sicherheit von Arzneimitteln – dazu gehören auch Impfstoffe. Nach monatelangen Verzögerungen antwortet die Behörde nun Multipolar auf eine entsprechende Anfrage und teilt mit, dass „Spekulationen über Dunkelziffern für die sicherheitsrelevante Bewertung der Impfstoffe keine Rolle spielen“. Es sei „davon auszugehen, dass Reaktionen systematisch erfasst“ würden.
Damit konkretisiert das PEI ähnliche Äußerungen, die es bereits im Mai diesen Jahres getätigt hatte – in Reaktion auf eine Anfrage nach dem Informationsfreiheitsgesetz (IFG). Der Fragesteller wies damals darauf hin, dass es bei Verdachtsmeldungen nach Impfung „bekanntlich eine hohe Dunkelziffer“ gebe. Bei den ärztlichen Pflichtmeldungen sei eine Dunkelziffer von 90 bis 95 Prozent „gesichert bekannt“, bei den freiwilligen Laienmeldungen sei sie unbekannt. Das PEI entgegnete damals: „Zu der von Ihnen angeführten hohen Dunkelziffer bei der Meldung durch Ärztinnen und Ärzte ist anzumerken, dass diese Zahl aus einer Zeit vor In-Kraft-Treten des Infektionsschutzgesetzes stammt und heute nicht mehr zutrifft.“
Gegenüber Multipolar argumentiert das PEI nun, dass sich durch das Infektionsschutzgesetz (IfSG) „die Rechtslage bei der Meldung von Verdachtsfällen unerwünschter Reaktionen nach Impfungen geändert“ habe. Das Gesetz ist seit 2001 in Kraft. Das PEI schreibt, darin seien „Meldepflichten“ definiert – für Ärzte, für Personen, „die für die Durchführung einer Impfung verantwortlich“ sind, und für „Leiter öffentlicher Apotheken“, in denen geimpft wird. Dieser Personenkreis sei „gesetzlich verpflichtet“, den Verdacht auf einen Impfschaden zu melden. Aufgrund dieser Verpflichtungen und „der einfachen Möglichkeit für alle Personen“ über ein eigens eingerichtetes Meldeportal Verdachtsfälle zu melden, gehe das PEI von einer systematischen Erfassung aus. Das genannte Portal ist seit November 2020 aktiv.
Auf Nachfrage von Multipolar räumt das Institut allerdings ein: „Wissenschaftliche Publikationen liegen hierzu nicht vor.“ Die Aussage beziehe sich auf „die Wirkungen einer Änderung der Rechtslage“. Auch auf seiner eigenen Seite schreibt das Institut: „Bei der regulären Erfassung von Verdachtsfällen von Impfnebenwirkungen im Rahmen der Spontanerfassung werden zwar Verdachtsfälle erfasst, nicht bekannt ist aber, wie viele Reaktionen aus unterschiedlichen Gründen nicht gemeldet werden.“
Im „Bulletin zur Arzneimittelsicherheit“ – herausgegeben vom Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte und dem Paul-Ehrlich-Institut – aus dem Jahr 2017 hieß es noch, „nur etwa sechs Prozent“ aller unerwünschten Arzneimittelwirkungen (UAW) und nur „fünf bis zehn Prozent“ der schweren UAW würden Schätzungen zufolge gemeldet. Es handele sich um „bekannte Limitierungen des Spontanberichtssystems“. Hinzu komme, dass „die Berichte nicht selten unvollständig dokumentiert“ seien.
Gegenüber Multipolar zieht sich das PEI nun darauf zurück, dass es sich bei der zitierten Passage „nicht um eine Aussage des Paul-Ehrlich-Instituts im Hinblick auf Impfstoffe“ handele. Der entsprechende Artikel stamme vom Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) und dem Institut für Medizinische Biometrie, Informatik und Epidemiologie der Universität Bonn. Konkret gehe es dabei um „chemisch-synthetischen Arzneimittel in der Zuständigkeit des BfArM“. Das PEI weist in seiner Antwort zudem „ergänzend“ darauf hin, dass die Quellen in besagtem Artikel aus den Jahren 2002, 2006 und 2010 stammten. Seitdem sei „viel unternommen“ worden, „um auf die Bedeutung hinzuweisen, die der Meldung von Verdachtsfällen von Nebenwirkungen von Arzneimitteln – insbesondere von Impfstoffen – zukommt“. Das PEI nennt hierzu das eigens eingerichtete Meldeportal und die jährliche Kampagne „MedSafetyWeek“.
Diese Argumentation steht im Widerspruch zu früheren Aussagen des PEI. So war die Regierungsbehörde, gemeinsam mit dem Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung, verantwortlich für eine Studie zur „App-basierten Erfassung von Symptomen nach betriebsärztlicher Influenza-Impfung“ („SafeVac“). Im Studienkonzept aus dem Jahr 2018 heißt es, das Spontanmeldesystem zur Erfassung von Nebenwirkungsmeldungen weise „Limitationen“ auf. Die Meldung von Verdachtsfällen von Nebenwirkungen erfolge hauptsächlich nicht direkt durch den Verbraucher, sondern durch den Arzt. Als Quelle ist im Studienkonzept an dieser Stelle eine Publikation des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte angegeben. Darin geht es um Eingänge von Nebenwirkungsberichten – ohne explizite Erwähnungen von Impfungen. Im Studienkonzept heißt es außerdem, „durch die fehlende Anzahl tatsächliche geimpfter Personen“ sei „die Aussagekraft der Meldungen über das Spontanmeldesystem eingeschränkt“.