Die gecancelte Freiheit
Das Recht, seine Meinung zu äußern, hat zwei Facetten: Jeder kann sagen, was er denkt, und dafür alles sehen, was er will. Das Internet wäre für beides der perfekte Ort, wenn es nicht die Definitionsmacht der Regierungen bedrohen würde. Die Folgen: Propaganda, Zensur und ein Klima der Angst.
Michael MeyenIch bin Medienforscher und kein Jurist. Und ich bin Ostdeutscher. Beides prägt meinen Blick auf das Thema. Ich wollte in der DDR Sportreporter werden und habe als junger Mann gelitten unter Denk-, Sprech- und Schreibverboten, die nirgendwo standen, aber trotzdem den Alltag in den Redaktionen prägten. Den Umbruch 1989/90 habe ich folglich als Versprechen erlebt. Auf eine Formel verdichtet: publizistische Vielfalt. Fortan wird es möglich sein, so habe ich damals gehofft, über alles zu diskutieren. Man wird sich nicht immer einigen können, natürlich nicht, sich aber selbst ein Bild machen können, weil Informationen und Interpretationen für jeden zur Verfügung stehen.
Grund- und Bürgerrechte vs. Cancel Culture
Ich schicke das vorweg, weil man meinen Bewertungsmaßstab kennen sollte, wenn ich hier über Meinungsfreiheit schreibe. In Kurzform: alles auf den Tisch – und zwar dorthin, wo es jeder sehen kann. Auf dem Papier beschreibt dieser Satz die Wirklichkeit. Artikel 5 Grundgesetz, Artikel 19 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte. Jeder kann sagen, was er denkt, und sich vorher umfassend informieren. Jenseits dieser Texte wachsen die Zweifel. 2023 hatten nur 40 Prozent der Deutschen über 16 „das Gefühl“, ihre „politische Meinung frei sagen“ zu können – ein Wert, der in dieser Allensbach-Langzeitstudie bis in die frühen Nullerjahre stabil über 70 Prozent lag.
Im Internet wird gelöscht, was das Zeug hält. Und im wirklichen Leben? Fragen Sie Menschen, die gegen den Strom schwimmen. Journalisten, Musiker, Maler, Verleger, Politiker, Wissenschaftler. Die Antwort heißt immer – Cancel Culture. Die Zensur geht heute, das ist die These dieses Beitrags, von den Leitmedien aus sowie von Institutionen, die der Digitalkonzernstaat genau dafür geschaffen hat. Sie stützt sich auf ein intellektuelles Prekariat, das um Posten in Redaktionen, Universitäten und NGOs buhlt, sowie auf Parteiunternehmen, die Steuereinnahmen in Propaganda umleiten und sich so ihre Pfründe sichern. Der Volksmund sagt: Wes Brot ich ess, des Lied ich sing. Allensbach liefert dazu die Daten. Abitur und Hochschulabschluss, oft verbunden mit der Aussicht auf einen Job in der Bewusstseinsindustrie (Bildung, Kultur, Medien) oder in einer Behörde, verstellen den Blick auf die Cancel Culture. Die Deutschen, die zu dieser Gruppe gehören, glauben deutlich eher, „frei reden“ zu können (51 Prozent, Volks- und Hauptschule: 28 Prozent). Von den Anhängern der Grünen sagen dies sogar 75 Prozent.
Noch eine letzte Zahl: 38,5 Prozent der Erwachsenen, so eine Studie der Universität Zürich von 2022, verweigern sich den Nachrichtenmedien. Diese Menschen liegen nicht im Bett und spielen vermutlich auch nicht Karten. Sie sind im Netz, oft sogar mit zwei Geräten gleichzeitig. Deshalb setzt die Zensur genau hier an.
Die Definitionsmacht der Leitmedien
Jede Regierung möchte lenken, was öffentlich über sie und über die Wirklichkeit im Land gesagt wird. Das funktioniert im Internetzeitalter nur, wenn man mit den Digitalkonzernen kooperiert. Diese Ehe wurzelt in dem Wissen, dass der Handlungsspielraum von öffentlicher Zustimmung abhängt. „Herrschaftsverhältnisse“ sind heute mehr denn je „Definitionsverhältnisse“ (Ulrich Beck). Macht hat der, dem es gelingt, seine Interpretation der Wirklichkeit in der Öffentlichkeit zu platzieren. Zentral sind dabei die Leitmedien. Dort entsteht das „Gedächtnis“ der Gesellschaft (Niklas Luhmann) – das, worauf wir bei jeder Begegnung zugreifen können, ohne Angst haben zu müssen, uns ins Abseits zu stellen. Tagesschau, Süddeutsche oder Zeit werden aus zwei Gründen genutzt. Zum einen wollen und müssen Menschen wissen, wer gerade die Macht hat. Wer schafft es, seine Themen und vor allem seine Moral auf der großen Bühne zu platzieren? Zum anderen sehen wir dort, was die anderen wissen. Was können und müssen wir öffentlich sagen, wenn wir uns nicht isolieren wollen? Wir unterstellen, dass Medien wirken, und nehmen erst einmal an, dass alle genau das in ihr Weltbild übernehmen, was dort präsentiert wird.
Die 38,5 Prozent Leitmedienverweigerer sind genauso wenig ein Gegenargument wie Tichy, Kontrafunk oder Hintergrund: Was immer solche Kanäle an Tatsachen und Perspektiven liefern, kann von Entscheidern in Behörden, Unternehmen oder Gerichten ignoriert werden, solange es nicht die Leitmedien erreicht. Sie können das selbst testen: Sobald Sie sich auf Telegram berufen oder eine der gerade genannten Redaktionen, wirkt das Verdikt, das all diese Angebote mit sich tragen – von den Leitmedien eingebrannt in das Gedächtnis der Gesellschaft.
Propaganda und Zensur
Das Interesse von Regierungen, öffentliche Kommunikation zu steuern, ist untrennbar mit Propaganda verbunden – mit dem Versuch, eine bestimmte Sicht zu platzieren und die Debatte in die gewünschte Richtung zu manövrieren. Dazu gleich mehr. Vorher will ich darauf hinweisen, dass zur Lenkungsabsicht fast zwangsläufig der Wunsch gehört, alle Positionen zu unter- drücken, die das herrschende Narrativ in Frage stellen und gleichzeitig das Potenzial haben, viele Menschen zu erreichen – Zensur. Noch einmal anders formuliert: Propaganda und Zensur sind zwei Seiten der gleichen Medaille. Wer seine Sicht durchsetzen will, muss die Konkurrenz bekämpfen und möglichst ausschalten.
„Eine Zensur findet nicht statt“: Dieser Satz aus dem Grundgesetz stimmt nur noch, wenn man nach einer Behörde sucht, die Texte prüft und dann vielleicht verbietet. Die Allianz von Staaten und Digitalkonzernen hat den gleichen Effekt. Der Digital Services Act der EU perfektioniert und legalisiert die Überwachungsbürokratie, die in den letzten Jahren entstanden ist, und hat so das Potenzial, das Recht auf Meinungs- und Informationsfreiheit zu beerdigen, weil diese Verordnung sowohl Quellen trifft, aus denen man sich informieren kann, als auch die Möglichkeit, sich selbst zu äußern – etwa auf Instagram oder TikTok.
Der Digitalkonzernstaat braucht kein Wahrheitsministerium. Er bezahlt Experten, die sich überall und jederzeit in seinem Sinne äußern, füttert die Medienhäuser, damit sie das auch senden und Gegen- stimmen unter den Tisch fallen lassen, und hält sich ein Heer, das auf alle schießt, die mahnen, zweifeln, meutern.
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MICHAEL MEYEN ist Professor für Kommunikationswissenschaft an der LMU München. Veröffentlichungen: Wie ich meine Uni verlor (2023), Cancel Culture (2024) und Der dressierte Nachwuchs (2024). Videos: https://www.youtube.com/@Michael_Meyen