"Weder vorurteilsfrei noch ausgewogen"
Die Tagesschau gilt nach wie vor mit einem Marktanteil von 39 Prozent als führende Nachrichtensendung in Deutschland. Der Journalist Alexander Teske war sechs Jahre als Redakteur für sie tätig. Dann beschloss er Ende 2023 auszusteigen und ein Buch zu schreiben. "inside Tagesschau" ist eine kritische Auseinandersetzung mit dem, was hinter den Kulissen geschieht. Das Interview führte Andreas Peter.
Foto: Juliane; Quelle: Wikimedia Commons; LizenzHINTERGRUND Die Tagesschau hat als Flaggschiff des öffentlich-rechtlichen Rundfunks einen Informations- und Bildungsauftrag. Nur deshalb gibt es überhaupt die Sonderfinanzierung mit Rundfunkbeitrag pro Haushalt. Wird die Tagesschau diesem Anspruch noch gerecht?
ALEXANDER TESKE Es wäre übertrieben zu sagen, sie werde dem überhaupt nicht gerecht, aber jedenfalls nicht so, wie sie es könnte und eigentlich sollte. Meiner Meinung nach berichtet die Tagesschau weder vorurteilsfrei noch ausgewogen, was zum Beispiel die Gleichbehandlung der Parteien betrifft. Und daher rührt eine gewisse Unzufriedenheit bei einem Teil der Zuschauer, von denen sich viele schon komplett verabschiedet haben. Ich kenne nur noch Leute, die die Tagesschau entweder für die Bibel halten und jedes Wort glauben, oder solche, die sie schon seit Jahren nicht mehr schauen, weil sie es als „Erziehungsfernsehen“ empfinden und nicht mehr ertragen haben.
HINTERGRUND Was stört Sie an der Tagesschau am meisten? Und was finden Sie trotz aller Kritik gut?
TESKE Was mich tatsächlich stört: die Macht der beiden Chefs vom Dienst, die außergewöhnlich groß ist. Ich habe vorher 15 Jahre beim Mitteldeutschen Rundfunk (MDR) gearbeitet und kenne auch andere Redaktionen. Natürlich hat der Chef vom Dienst (CvD) immer viel zu sagen, aber das ist bei der Tagesschau sehr ausgeprägt. Es gibt dort wenig Teamgeist, womit ich meine, dass man über Themen diskutiert und dann als Team entscheidet. Ich würde sagen, 90 Prozent der Entscheidungen werden von den CvDs getroffen. Sie bestimmen die Themen der Sendung, nehmen die Texte der Redakteure ab, geben die Fragen vor, die in einem Gespräch gestellt werden. Auch dann, wenn die Mehrheit der Redaktion anderer Meinung ist. Ich finde, wenn man schon so eine starke Stellung hat, dann sollte man sich ab und zu auch öffentlich verantworten und bekannt sein.
Geradezu verheerend finde ich die zunehmende Boulevardisierung der Tagesschau. Sehr viel Platz wird dem Sport eingeräumt, Berichten über weltweite Naturereignisse wie Waldbrände, Überschwemmungen oder Tornados, die man am nächsten Tag meist schon wieder vergessen hat. Und dann die ganze Berichterstattung
über Royals, Hochzeiten, Todesfälle usw. Dafür gibt es eigentlich andere Sendeformate. Die Tagesschau ist für mich nach wie vor eine der letzten Inseln seriöser Berichterstattung, und deswegen ärgert es mich eben so wahnsinnig, wenn es auch um Unterhaltung und Quote geht.
Ich wurde heftig kritisiert, weil ich für die unlängst angedachte Verlängerung der 20-Uhr-Tagesschau auf eine halbe Stunde bin, denn das würde die Möglichkeit schaffen, auch mal Hintergründe darzustellen und Interviews zu führen. Die derzeit sieben, acht Minuten, die übrig bleiben, wenn man Begrüßung, Verabschiedung, Sport, Wetter, Lottozahlen abzieht, reichen nicht, um bei einem nachrichtenstarken Tag komplexe Zusammenhänge darzustellen.
Gut an der Tagesschau finde ich, dass sie eigentlich einen klassischen nachrichtlichen Zugang hat. Das fängt schon damit an, dass nicht moderiert wird, sondern dass es einen Sprecher gibt, der natürlich neutraler vorträgt, als es ein Moderator tun würde. Denn die Nachrichten sind ja das Wichtige und nicht das Drumherum wie bei anderen Formaten, wo die News-Sendung den Namen des Moderators trägt. Großartig finde ich auch die Ressourcen der Tagesschau. Theoretisch könnte das wirklich ein irre gutes Produkt sein, allein schon wegen des weltweit einmaligen Korrespondenten-Netzes. Auch innnerhalb Deutschlands kann sie auf Ressourcen zurückgreifen, mit denen sich keine andere Redaktion messen kann. Diese Möglichkeit, innerhalb von Minuten wirklich überall hinzuschalten und auch Hintergründe zu erfahren. Dass das manchmal nicht perfekt genutzt wird, steht auf einem anderen Blatt.
HINTERGRUND Sie bezeichnen in Ihrem Buch die Redaktion als „abgehoben und elitär“. Können Sie bitte darlegen, was Sie damit meinen?
TESKE Natürlich gibt es Ausnahmen, aber in der Regel braucht man ein Hochschulstudium, um überhaupt dort anfangen zu können. Ich hatte damals beim MDR einen Chefredakteur, der hatte noch nicht mal Abitur, und er war ein guter Chefredakteur. Die heutigen Bedingungen erhöhen das Risiko, dass man das Gespür verliert für bestimmte Bevölkerungsgruppen. Häufig kommt man aus einem begüterten Elternhaus, das einem Auslandsaufenthalte finanzieren konnte, und man hat vielleicht Geisteswissenschaften studiert. Da ist so eine gewisse Abgehobenheit, die sich dann auch dadurch manifestiert, dass man 10, 20 oder sogar 30 Jahre in der Redaktion sehr gutes Geld verdient. Ein Jahresgehalt von 100.000 Euro ist völlig normal. Und wenn ich das über längere Zeit habe, dann bin ich ganz automatisch abgehoben. Ich habe ein Haus oder eine Eigentumswohnung, fahre mit dem Auto aus der Tiefgarage auf den Parkplatz beim NDR und brauche schon einen sehr guten Freundeskreis, der nicht nur aus Kollegen besteht, um angedockt zu sein an den Problemen der einfachen Leute.
Das wird noch verstärkt, weil man bei der Tagesschau nicht selbst produziert, sondern Aufträge erteilt. In anderen Redaktionen, beispielsweise in Leipzig, sind die Redakteure regelmäßig draußen, reden mit den Leuten vor Ort, zum Beispiel auf Demonstrationen oder drehen in einer Firma, in einem Altenheim. So bekommen sie ein gewisses Gespür für ihre Zuschauer. Das, was der typische Tagesschau-Redakteur dagegen vom Leben mitbekommt, hat er aus Zeitungen, von Nachrichtenagenturen oder von Kollegen.
Ich finde, die Redaktion einer Nachrichtensendung für das ganze Land gehört in der heutigen Zeit nach Berlin und nicht nach Hamburg. Ich glaube, in Berlin ist es schwer möglich, sich von der Realität zu entkoppeln. Das ist in Hamburg anders. Hamburg ist die Stadt mit den meisten Einkommensmillionären. Dort fällt jedes Jahr so viel Erbschaftssteuer an wie im gesamten Osten. In Hamburg stimmten bei der letzten Wahl sieben Prozent für die AfD, im Osten 35 Prozent. Diese Unterschiede würde man in Berlin viel eher spüren als in Hamburg.
HINTERGRUND Dagegen ließe sich einwenden, dass schon das ARD-Hauptstadtstudio in der Kritik einer zu großen Nähe zur Politik steht. Wenn nun auch die Hauptnachrichtenredaktion der ARD nach Berlin ziehen würde, wäre dann nicht die Gefahr von zu geringer Distanz, womöglich Kungelei, noch größer?
TESKE Ich verstehe das Argument. Zur Erklärung möchte ich vorausschicken, dass das Hauptstadtstudio relativ autark arbeitet und eine sehr gehobene Stellung in der ARD hat. Um dies zu veranschaulichen: Es gibt zum Beispiel 14 Uhr werktags die ARD-Chefredakteurskonferenz. Daran nimmt der Leiter des ARD-Hauptstadtstudios gleichberechtigt mit den Chefredakteuren der Anstalten teil und hat dort auch ein Vorschlagsrecht, zum Beispiel für den Kommentar in den Tagesthemen. In einer normalen 20-Uhr-Tagesschau gibt es nur fünf oder sechs Stücke, und der Rest sind kurze Wortbeiträge. Die Mehrzahl dieser Zulieferungen kommen aus dem ARD-Hauptstadtstudio. Die werden dort vom jeweiligen Chef vom Dienst abgenommen und wandern dann nach Hamburg. Natürlich immer nach Rücksprache.
Nun ist es so, dass es für die ARD-Hauptstadtstudio-Kollegen eigentlich eine Dienstbegrenzung auf fünf Jahre gibt. Die wird aber immer wieder überschritten, sodass manche von ihnen tatsächlich zehn, manchmal zwanzig Jahre dort sind. Man sieht manche Politiker jeden Tag, und manchmal sitzt man abends auch bei denen zu Hause, und es wird gemeinsam gekocht oder so etwas. Und da kann eine Nähe entstehen, die zu unkritischer Berichterstattung führt oder dazu, dass Journalisten die Seite wechseln und in die Politik gehen. Das alles gibt es, und das könnte natürlich auch passieren, wenn die Tagesschau-Redaktion ihren Sitz in Berlin hätte.
HINTERGRUND Sie kritisieren, dass mehr oder weniger prominente ARD-Mitarbeiter in die Politik wechseln und dann wieder zurück in die Redaktion kommen.
TESKE Klar, wenn ich meinen Job wechseln will, dann kann man das nicht untersagen. Man könnte sagen, okay, fünf Jahre in Berlin, länger nicht. Wir meiden diese Hintergrundgespräche mit Politikern. Wir überlegen dreimal, ob wir jemanden mitschicken im Regierungsflieger, wo man im Zweifel neben dem Minister sitzt. Denn ist diese Nähe wirklich notwendig? Wenn jemand zurückkommen möchte nach einem Ausflug in die Politik, dann sollte es eine Karenzzeit von ein oder zwei Jahren geben, weil das Hin und Her so übergangs- los nicht guttut. Ein Beispiel: Die aktuelle Leiterin der Radio-Gemeinschaftsredaktion im ARD-Hauptstadtstudios, Anna Engelke, hat jahrelang beim NDR-Hörfunk als Redakteurin gearbeitet, dann war sie fünf Jahre Sprecherin von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier und soll jetzt objektive Berichterstattung aus der Hauptstadt gewährleisten. Das sehe ich sehr kritisch. Ein anderer Fall ist der von Michael Stempfle, der Korrespondent für den SWR im ARD-Hauptstadtstudio war. Im Januar 2023 wurde er zum Sprecher des Bundesverteidigungsministeriums ernannt. Angeblich hat er nur Stunden nach der Veröffentlichung seiner Lobeshymne auf Boris Pistorius den Job bekommen. Wahrscheinlicher ist aber, dass das vorher schon klar war. Ein letztes Beispiel: Sarah Frühauf, die zuletzt beim MDR als Berlin-Korrespondentin angestellt war und seit Mai 2025 Sprecherin von Innenminister Alexander Dobrindt ist. Da sie politisch eigentlich ganz anders tickt, hatte es mich sehr überrascht zu lesen, dass sie ihn als „klugen Politstrategen“ bezeichnet hat.
Den ersten Teil des Interviews mit Alexander Teske lesen Sie in der aktuellen Ausgabe 9/10 2025 unseres Magazins, das im Bahnhofsbuchhandel, im gut sortierten Zeitungschriftenhandel und in ausgewählten Lebensmittelgeschäften erhältlich ist. Sie können das Heft auch auf dieser Website (Abo oder Einzelheft) bestellen.
ALEXANDER TESKE arbeitet seit 30 Jahren als Journalist. Zuletzt sechs Jahre als Redakteur bei der Tagesschau in Hamburg. Davor war er 15 Jahre beim MDR in Leipzig. Dort verfasste er Beiträge für Tagesthemen, Brennpunkt oder Brisant und plante die Nachrichten des MDR. Er stand vor und hinter der Kamera – im Hochwasser, bei Demonstrationen oder auf Parteitagen. Auch das Privatfernsehen kennt Teske gut – fünf Jahre berichtete er für Sat.1, Pro.7 und RTL. Seine Anfänge liegen im Print: Nach einem Volontariat bei der Morgenpost veröffentlichten Stern, Focus, Bild und taz seine Artikel. Teske lebt als freier Autor in Hamburg.