Wenn die Demokratie von den eigenen Medien bedroht wird
Wir stehen an einem "medialen Wendepunkt" der modernen Demokratie.
Foto: geralt; Quelle: pixabay;LizenzMedien kommt in den modernen Demokratien die Aufgabe zu, die Öffentlichkeit objektiv zu informieren, damit sich Bürger eine fundierte Meinung zu wesentlichen Vorgängen und Entscheidungen bilden können. Eine be- sondere Rolle haben dabei Leitmedien, die sich durch hohe journalistische Standards und eine sachliche Berichterstattung aus- zeichnen sollen. In den modernen Gesellschaften, die zunehmend von divergierenden Meinungen und sozialen Gegensätzen gebeutelt werden, haben Medien zudem die Aufgabe, einen übergreifenden Konsens zu gesellschaftlichen Themen herzustellen. Ohne diesen Konsens sind gerade Staaten, die sich auf eine demokratische Verfassung berufen, nur noch schwer regierbar. Nach Auffassung von Noam Chomsky und Edward S. Herman haben Medien heute sogar die Macht, einen Konsens zu erzeugen, der den wirtschaftlichen und politischen Interessen einer Minderheit folgt. 1 Mithin ist es möglich, eine öffentliche Übereinstimmung zu zentralen Fragen von Politik und Gesellschaft zu erreichen, die weder die Meinung noch die Interessen der Mehrheit abbildet. Dies bedeutet eine politische Zäsur. Wer Macht über die Medien hat, erlangt nicht nur Kontrolle über die veröffentlichte Meinung, sondern verfügt auch über die unfassbare Macht, sogar vernunftwidrigen und gemeinschaftsgefährdenden Entscheidungen eine öffentliche Zustimmung zu verschaffen und es so erscheinen zu lassen, als sei es der Wille der Mehrheit, dass Unsinn und Verheerendes geschieht. Mit den modernen Medien entsteht eine neue Qualität von Scheindemokratie, die darauf beruht, dass sich herrschende Eliten ihre jeweilige Politik durch die öffentliche Meinung „gutheißen“ lassen können.
Der spanische Medienwissenschaftler Ignacio Ramonet hat darauf hingewiesen, dass sich in den modernen Gesellschaften „still und heimlich eine ‚demokratische Zensur‘ eingenistet hat“. 2 Im Gegensatz zur autokratischen Zensur bestehe diese nicht darin, dass Journalisten verfolgt, Daten unterdrückt, gekürzt oder verboten werden, sondern „im Gegenteil auf der Anhäufung, der Übersättigung und dem Überfluss von Informationen“. 3 Diese Überflutung schaffe „eine Art Patina, einen undurchsichtigen Film, der dem Bürger die Suche nach der richtigen Information schwer macht, schwerer vielleicht als je zuvor“. 4 Viele Menschen finden sich nicht mehr zurecht in einer Fülle von Botschaften, bei der wesentliche Informationen von einer Unzahl von nebensächlichen Daten überlagert werden. Ramonet hoffte, die Bürger würden entdecken, „dass es Anstrengung kostet, sich zu informieren, und dass die Demokratie diesen Preis verlangt“. 5 Aber inzwischen hat sich herausgestellt, dass die Mehrheit sich diese Mühe nicht machen will oder nicht kann. Es ist offenbar leichter, gegen einen Informationsmangel zu kämpfen, als sich gegen Nachrichtenüberfluss zu behaupten. Denn „die durch das Verbot entstandene Lücke ist wenigstens sichtbar“, während die durch Überflutung funktionierende Zensur unbemerkt geschehe und es umso mehr geistige Anstrengung koste, „zu verstehen, mit welchen Mechanismen sie funktioniert“. 6 Man kann Menschen schwerlich vorwerfen, dass sie vom permanenten Informationsüberfluss ermattet und übersättigt sind. Aber eine Zensur mittels Nachrichtenüberflutung reicht nicht aus, um einen unruhiger werdenden Demos in seiner Meinungsbildung zu kontrollieren. Michael Meyen hat kürzlich trefflich analysiert, wie wirkungsvoll „Cancel Culture“ funktioniert. 7
Postdemokratische Meinungskontrolle – subtil und mit Eigendynamik
Medien sollen die Bevölkerung optimal informieren und damit zu einer optimalen Demokratie beitragen, lautet eine idealtypische Vorgabe aus dem Reich der Pressefreiheit. Aber Medien schweben nicht in einem neutralen Raum voller demokratischer Ideale, sondern befinden sich – wie das im Kapitalismus so ist – zumeist in privater Hand. Die Medienlandschaft im Westen wird heute von wenigen transnationalen Konglomeraten beherrscht: Disney, AOL Time Warner, Viacom (CBC), News Corporation, Bertelsmann, General Electric (NBC), Sony, AT&T-Liberty Media und Vivendi Universal. 8 In Deutschland geben Medienkonzerne wie Pro Sieben, Sat 1, Hubert Burda Media, Axel Springer, Bauer Media Group, aber auch ZDF und ARD den Ton an. In den letzten Jahren haben Technologiekonzerne rasant an Einfluss gewonnen, die auf Social-Media-Kommunikation spezialisiert sind: Alphabet (Google, YouTube) oder Meta Platforms (Facebook, Instagram, WhatsApp, Messenger). Es hat sich ein Mediensystem herausgebildet, das von wenigen großen Konglomeraten dominiert wird und in einer nie dagewesenen Dimension die Gesellschaft mit fabrizierten Nachrichten überschwemmt. Dieser Prozess hat „zu einer ernsten Schwächung des ‚öffentlichen Raumes‘ [geführt], also der Orte und Foren, in denen für eine demokratische Gesellschaft bedeutsame Themen debattiert und für eine qualifizierte Beteiligung der Bürger relevante Informationen verfügbar gemacht werden können“. 9
Chomsky und Herman haben schon 1988 in Manufacturing Consent beschrieben, wie Medien den mächtigen Interessen dienen, die sie kontrollieren und finanzieren.10 Ihre zentrale Aussage: Auch in Staaten, in denen die Pressefreiheit als demokratisches Prinzip gilt, wird die öffentliche Meinung massiv beeinflusst. Ihrem Propaganda-Modell zufolge wird die Funktionsweise der Massenmedien maßgeblich durch „Filter“ beeinflusst, die un- erwünschte Nachrichten von der Bevölkerung fernhalten sollen. Diese Filter sind: 1. Größe, Eigentum und Profitorientierung, 2. Werbung: ohne Werbung kein Geschäft, 3. Nachrichtenquellen: staatliche und wirtschaftliche Quellen als Hauptzulieferer von Informationen, 4. Flak und die Einpeitscher: negative Reaktionen (Shitstorms) auf abweichende Berichte, 5. Antikommunismus und Angstideologie. 11 Wer sich heute durch Leitmedien informiert und sich einen kritischen Metablick bewahrt hat, kann evident erfahren, wie emsig und durchgreifend die „Filter“ arbeiten.
Es ist unbestreitbar, dass „freie“ Medien für eine lebendige Demokratie unerlässlich sind. Aber im Grunde ist eine unabhängige Berichterstattung im Kapitalismus kaum möglich, denn das primäre Interesse von kapitalistischen Massenmedien kann nicht darin bestehen, die Bevölkerung möglichst umfassend und objektiv zu informieren. In einer Welt, „in der der Reichtum bei Wenigen konzentriert ist und in der gravierende Interessenkonflikte zwischen den Klassen bestehen“, müssen Medien systematisch Propaganda betreiben, um „etablierte Machtverhältnisse zu stabilisieren und in der Bevölkerung einen Konsens zu einer Politik und einem Wirtschaftssystem herzustellen, die vor allem den Interessen einer mächtigen Minderheit dienen“. 12 Sonst könnte die Mehrheit vielleicht erkennen, dass sie von einer Minderheit an der Nase herumgeführt wird, und am Ende jenes Modell abwählen, das diese Verkehrung als ihre eigene Entscheidung aussehen lässt. Kapitalistische Demokratien können ohne Propaganda nicht funktionieren. Es liegt zudem in der „Natur“ von kapitalistischen Medienunternehmen, dass sie Nachrichten als Waren verkaufen müssen, die zum großen Teil den Marktgesetzen von Angebot und Nachfrage unterliegen. Prinzipien wie Wahrheit, ethische oder staatsbürgerliche Aspekte, die für eine objektive Information der Bevölkerung von entscheidender Bedeutung sind, spielen dann eine untergeordnete Rolle.
Obwohl die Medienwelt im Westen von einigen großen Konzernen beherrscht wird, bedeutet es nicht, dass die öffentliche Kommunikation durch Kapitaleigner, den Staat oder Gruppen im Hintergrund zentral gesteuert wird. Darauf haben Chomsky und Herman deutlich hingewiesen. Postdemokratische Meinungskontrolle ist vielmehr ein subtil arbeitendes System, das nicht zuletzt von der freiwilligen Mitwirkung seiner Protagonisten lebt. In den Köpfen der meisten Medienakteure sind Informationsfilter als eine Art inneres Regulativ verankert, das sich in Form von überzeugtem Engagement, von pragmatischer Selbstzensur oder von sich anpassender Disziplinierung äußern kann.
Ein „Zeitalter des Misstrauens« …
Ramonet hat bereits vor Erfindung der sozialen Medien vermutet, dass für die modernen Mediengesellschaften ein „Zeitalter des Misstrauens angebrochen ist. 13 Argwohn gegenüber Medien ist nicht neu. Solange es Medien gibt, versuchen diese die Wahrnehmung und Deutung der vermittelten Informationen durch Framing, Agenda-Setting und andere Techniken zu beeinflussen. Zu allen Zeiten gab es Menschen, denen das nicht entgeht und die sich dagegen auflehnen. Aber die aktuelle Medienkrise hat eine neue Qualität.
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HORST POLDRACK, Jahrgang 1950, ist Philosoph (Promotion 1979, Habilitation 1987). Er war u.a. Research Fellow am Center for the Philosophy and History of Science in Boston 1981/82 und an der Akademie der Wissenschaften in Moskau 1986/87 sowie Gastprofessor an der Universität in Addis Abeba 1987 bis 1990. Er hat später an der Universität Halle-Wittenberg, am Umweltinstitut Leipzig und am Institut für Sozialwissenschaftliche Analyse und Beratung Köln gearbeitet. Seit 1994 als Trainer und Coach sowie im Management von mittelständischen Unternehmen tätig. Von 2006 bis 2011 arbeitete Poldrack als Trainer für chinesische Führungskräfte in der VR China. Er hat zahlreiche Publikationen und Aufsätze veröffentlicht, zuletzt „Neoliberale Gehirnwäsche“ (verlag am park 2022).
1 Vgl. Edward S. Herman/Noam Chomsky, Die Konsensfabrik. Die politische Ökonomie der Massenmedien, Westend Verlag, Frankfurt a. M. 2023
2 Vgl. Ignacio Ramonet, Die Kommunikationsfalle. Macht und Mythen der Medien, Rotpunktverlag. Zürich 1999, S. 35
3 Ebd., S. 35
4 Ebd., S. 63
5 Ebd., S. 47
6 Ebd., S. 63
7 Vgl. Michael Meyen, Cancel Culture. Wie Propaganda und Zensur Demokratie und Gesellschaft zerstören, Hintergrund Verlag, Berlin 2024
8 Vgl. Edward S. Herman/Noam Chomsky, a. a. O., S. 61
9 Ebd., S. 69
10 Vgl. Edward S. Herman/Noam Chomsky, Manufacturing Consent. The Political Economy
of the Mass Media, Pantheon Books, 1988 (Originalausgabe des Buches Die Konsensfabrik, a. a. O.)
11 Vgl. Edward S. Herman/Noam Chomsky, Die Konsensfabrik, a. a. O., S. 129–178
12 Uwe Krüger/Holger Pötzsch/Florian Zollmann, „Medienkritik materialistisch – Das Propagandamodell von Herman und Chomsky“ (Einführung), in: Edward S. Herman/Noam Chomsky, Die Konsensfabrik, a. a. O., S. 7
13 Ignacio Ramonet, Die Kommunikationsfalle, a. a. O., S. 29