Wie können wir uns vor Desinformation schützen?
Ein Beispiel aus den 60er Jahren des letzten Jahrhunderts
Foto: Christoph Scholz; Quelle: Wikimedia Commons; LizenzDie gegenwärtige Kriegspropaganda wird von vielen Menschen stillschweigend hingenommen, doch es gibt auch Bürger, die sie als Zumutung empfinden, unter ihr leiden und endlich etwas gegen sie tun möchten. Was könnten die Mediennutzer und nicht zuletzt die Intellektuellen (Lehrer, Publizisten, Juristen, Sozial- und Naturwissenschaftler, usw.) unter ihnen tun, um endlich angemessen informiert zu werden?
Der Kapitalismus sucht den Ausweg aus seiner seit langem größten Krise durch massive Aufrüstung, Sozialabbau sowie Abbau der formalen Demokratie. 1 In den Massenmedien, die Teil des polit-ökonomischen Machtapparates sind, wird in den für die Monopole wichtigen Bereichen (u. a. Außenpolitik) die Wirklichkeit weitgehend durch einseitige Auswahl der Ereignisse zugunsten eigener Vorstellungen sowie derer befreundeter Staaten und zuungunsten gegnerischer Kräfte dargestellt. Zudem soll die Schürung von Ängsten zur Akzeptanz der Aufrüstung und eines möglichen Krieges beitragen, was in eine kollektive Kriegspsychose führen kann, so wie dies schon vor den beiden letzten Weltkriegen der Fall war.
Nach den zwei Angriffen Deutschlands auf Russland stellt sich die Frage, wer sich eigentlich mehr ängstigen müsste, die Deutschen vor den Russen oder die Russen vor den Deutschen. Doch die zur Verzerrung der Wirklichkeit führende Indoktrination erfolgt seit Jahrzehnten durch Selektion und Projektion, was jedoch in der etablierten Medienwissenschaft kaum angesprochen wird. Die meisten Repräsentanten dieses wichtigen Forschungsbereichs ignorieren, dass das Geld die Macht aller Mächte ist. 2
Unbehagen und Widerstand
Der Sozialpsychologe Leon Festinger geht in seiner „Theorie der kognitiven Dissonanz“ davon aus, dass das menschliche Gleichgewicht gedanklich und emotional irritierbar ist. Meistens ist die Dissonanz umso stärker, je geringer die Anzahl der Menschen ist, die mit der eigenen Meinung (noch) übereinstimmen. 3
Resilienz (lat. resilire, abprallen), das heißt die Widerstandsfähigkeit einer Persönlichkeit einer widrigen Belastungssituation gegenüber, könnte dazu motivieren, die Dissonanz wieder zu reduzieren. In diesem Fall handelt es sich um kognitive Reintegration. 4 Allerdings wird zugleich deutlich, dass individuelle Resilienz auch zur Erholung und Erhaltung des Systems beitragen kann, mithin eine ideologische Funktion erfüllt.
Voraussetzung der Resilienz ist, dass die Einflüsse wahr- und ernst genommen werden, welche zu den fragwürdigen Zuständen geführt haben, und sich die Mediennutzer verletzt fühlen. Sie suchen nach Erklärungen, warum die Massenmedien so einseitig berichten.
Verhalten gegen Propaganda
Die meisten Medienbenutzer wehren sich nicht gegen die Desinformation; sie wehren diese Wahrnehmung ab. In einer plutokratischen Gesellschaft denken sie vor allem an das eigene Einkommen und an das eigene Fortkommen und nicht noch an das Wohl anderer Menschen oder gar an das Wohl der Menschheit.
Dies gilt gerade auch für viele Wissenschaftler, die manchmal sogar als Propagandisten der Kriegshetze auftreten. Sie benötigen weiterhin Gelder für neue Forschungsvorhaben von staatlicher Seite wie der Deutschen Forschungsgesellschaft oder von Konzernen, um ihre Karriere fortsetzen zu können.
Der abwehrende Umgang mit den unangenehmen Umständen, die bis zur mehr oder weniger bewussten Selbstzensur reicht, erinnert an das Verschweigen und Vergessen nach dem Zweiten Weltkrieg. Hierauf hat unter anderem der Resilienz-Theoretiker Gunnar Folke Schuppert wie folgt hingewiesen: „Eine naheliegende Strategie bestand darin, über das in den letzten zwölf Jahren Erlebte den ‚Mantel des Vergessens‘ auszubreiten und sich einer kollektiven Amnesie hinzugeben.“ 5
Es gibt Menschen, die mit sogenannten Verschwörungstheorien auf die Desinformation reagieren. Natürlich gibt es Verschwörungstheorien, die so simpel, tautologisch oder auch grotesk sind, dass sie nicht einmal falsifizierbar sind. Zu vermuteten Verschwörungen existieren allerdings auch überprüfbare Theorien. Von sämtlichen Theorien zu Verschwörungen von vornherein zu behaupten, sie seien unsinnig, ist indes tatsächlich Unsinn. Wer den Begriff Verschwörungstheorie im Diskurs unterschiedslos benutzt, verrät lediglich in populistischer Manier, dass er ihn als Kampfbegriff gegen jene verwendet, welche die Regierung kritisieren. Zur Resilienz beitragen kann, mit anderen Personen über die Desinformation zu reden. Allerdings scheinen seit der weitgehenden Gleichschaltung der Leitmedien im Zusammenhang mit der Corona-Krise im Rahmen von Familien-, Freundes- oder Bekanntenkreisen seltener als früher politische Fragen thematisiert zu werden.
Eine weitere Möglichkeit des individuellen Widerstandes besteht darin, Leserbriefe zu schreiben. Allerdings ist anzunehmen, dass die mehr neoliberale als liberale Mainstream-Presse auch die Basisbeiträge der öffentlichen Kommunikation nach eigenem Gutdünken auswählt. Doch wenn dies der Fall ist, kann auch die Redaktion direkt angeschrieben werden.
Selbstverständlich können auch alternative Medien konsultiert werden. Deren Darstellungen politischer Sachverhalte sind mit jenen der sogenannten Qualitätspresse komparabel: Gemeinsamkeiten und Unterschiede sind feststellbar. Dasselbe gilt für Vergleiche von Produkten deutscher Printmedien mit jenen von Printmedien formal neutraler Ländern (wie die Schweiz) oder auch mit Produkten in gegnerischen Staaten (z. B. mit Darstellungen in russischen Zeitungen).
Die Ergebnisse solcher Vergleiche sind ebenso erstaunlich wie aufschlussreich (zum Beispiel wenn Aussagen des Präsidenten der Russischen Föderation in deutschen Zeitungen dekontextualisiert präsentiert werden und man deren wahre Bedeutung in ihrem Zusammenhang in russischen Medien erkennt). Doch wenn solche Beobachtungen den zuständigen Redaktionen mitgeteilt werden, erfolgt keine Antwort oder eine ideologische, die von jeder Wissenschaftlichkeit absieht.
Das „Russell-Tribunal“ zum Vietnam-Krieg
Als in den 60er Jahren des letzten Jahrhunderts die Aggression der USA gegen Vietnam immer mehr anwuchs, wurde darüber in der westlichen Presse einseitig berichtet (die USA führten keinen „Angriffskrieg“, sondern einen „Befreiungskrieg“ und erfüllten eine „Friedensmission“). Aufgrund der Intervention westlicher Mächte unternahm die UNO nichts gegen den Imperialismus. Da die Propaganda in den Massenmedien unerträglich wurde, beschlossen einige Intellektuelle, dafür zu sorgen, dass die Öffentlichkeit endlich mehr über die Realität in Indochina erfuhr.
Am 13. November 1966 trat der Philosoph Bertrand Russell in London vor die Presse, um die Einberufung eines Tribunals zum Vietnamkrieg zu begründen. Renommierte Juristen, Wissenschaftler, Schriftsteller und Bürgerrechtler sollten anhand von Beweisen aus Publikationen, Zeugenaussagen und anderen Quellen zu einer sachgerechten Darstellung des Vorgehens der US-Armee in Vietnam gelangen. In seiner Eröffnungsrede zur ersten Versammlung des internationalen Tribunals gegen Kriegsverbrechen gab Russell folgender Hoffnung Ausdruck: „Ich hoffe, dass dieses Tribunal Männer wählen wird, die die Wahrheit achten und deren Leben davon Zeugnis ablegt.“ 6
Mitglieder des Tribunals waren unter anderen die Schriftsteller Jean-Paul Sartre und Simone de Beauvoir, James Baldwin und Peter Weiss, der Jurist Lelio Basso, die Historiker Isaac Deutscher und Vladimir Didijer (Vorsitzender) sowie der Politikwissenschaftler Wolfgang Abendroth.
Jean-Paul Sartre wies in seiner Rede anlässlich der Zusammenkunft des Tribunals am 15. November 1966 in London auf die Nürnberger Prozesse nach dem Zweiten Weltkrieg hin, in denen die Siegermächte Repräsentanten Nazi-Deutschlands wegen Kriegsverbrechen angeklagt hatten. Nach diesen Prozessen, die zu diversen Verurteilungen führte, wendeten die Siegermächte die diesbezüglichen Gesetze in keiner Weise mehr auf sich selbst an. „Das Urteil von Nürnberg hat die Existenz einer Institution notwendig gemacht, die Kriegsverbrechen untersucht und sie, sollten sie stattgefunden haben, auch verurteilt; weder die Regierungen noch die Völker sind heute imstande, eine derartige Institution zu schaffen.“ 7
Am 10. Mai 1967 wurden in Stockholm erstmals Beschlüsse des Tribunals bekanntgegeben: Einstimmig wurde konstatiert, dass die USA in Vietnam im Sinne des Völkerrechts Aggressionshandlungen begangen und rein zivile Ziele (Kliniken, Schulen, Wohnstätten, Staudämme usw.) bombardiert haben. Einstimmig bejaht wurde auch die Frage, ob die Regierungen von Südkorea, Australien und Neuseeland Komplizen der USA bei dem im Widerspruch zum Völkerrecht stehenden Angriffskrieg waren. 8
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MARK GALLIKER, Prof. em. Dr., Eidg. anerkannter Psychotherapeut pca.acp/FSP, lehrte an den Universitäten Bern, Zürich und Heidelberg. Forschungsgebiete: Geschichte der Psychologie, Medienpsychologie, Evaluation von Psychotherapien. Letzte Veröffentlichung: Vom Warentausch zur Tauschbeziehung. Grundlagen sozialer Interaktion. Gießen: Psychosozial-Verlag, 2025.
1 Vgl. u. a. https://norberthaering.de/macht-kontrolle/resilienz/
2 Vgl. u. a. https://de.wikipedia.org/wiki/Medienwissenschaft
3 Siehe Leon Festinger, Theorie der kognitiven Dissonanz, Huber, Bern 2012
4 Vgl. ebd., S. 22f.
5 Vgl. Gunnar Folke Schuppert, »Vielfalt und Funktion von Resilienzstrategien.
Ein Beitrag zur psychologischen Dimension von Vulnerabilitätserfahrungen. In:
G. F. Schuppert/M. Repohl (Hrsg.), Resilienz. Beiträge zu einem Schlüsselbegriff postmoderner Gesellschaften, Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden 2023, S. 61
6 Siehe Bertrand Russell/Jean-Paul Sartre, Das Vietnam-Tribunal oder Amerika vor Gericht, Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 1968/1971, S. 10
7 Siehe ebd., S. 16
8 Vgl. ebd., S. 164
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