Der westdeutsche 9. Mai 1955
Vor 70 Jahren trat die Bundesrepublik Deutschland der NATO bei. Es war nicht zuletzt eine bewusste Provokation des Westens und der BRD selbst zum 10. Jahrestag des Sieges der UdSSR im Großen Vaterländischen Krieg

In einem offiziellen Akt während der 16. Tagung des Nordatlantikrats (NAC) wird die BRD, vertreten durch Bundeskanzler Konrad Adenauer, am 9. Mai 1955 in die NATO aufgenommen. Die Zeremonie findet im Palais de Chaillot im Herzen der französischen Hauptstadt statt, wo sich mit dem NAC die politische Führung des Nordatlantikblocks befindet. Das wird begleitet vom Aufziehen der bundesdeutschen Staatsflagge und von der Intonation des Deutschlandliedes vor dem NATO-Hauptquartier Europa (SHAPE), also dem Sitz der militärischen Führung, in Rocquencourt bei Marly-le-Roi, einem Villenvorort zehn Kilometer westlich von. 1
Zur zutreffenden weltpolitischen Einordnung der Tragweite des westdeutschen 9. Mai 1955 ist es zwingend erforderlich, die damit zusammenhängenden Ziele der USA und der anderen NATO-Mächte sowie der (west-)deutschen Eliten aufzuhellen und die Wege beziehungsweise Schritte zur Erreichung dieser Ziele darzustellen.
Schon bald nach der militärischen Niederringung des deutschen Faschismus zerbrach das Erbe der Anti-Hitler-Koalition. Die Westmächte unter Führung der USA einerseits und die UdSSR sowie die von ihr befreiten Staaten Ost-und Südosteuropas andererseits wurden erbitterte Gegner. Schon am 20. August 1945 hatte der britische Außenminister Ernest Bevin, unmissverständlich an die Adresse der verbündeten Sowjetunion gerichtet, erklärt, sein Land werde sich widersetzen, wenn ein „Totalitarismus“ durch einen anderen abgelöst werde. Tatsächlich eröffnet wurde der Kalte Krieg durch die Reden des früheren britischen Premiers Winston Churchill in Fulton/Missouri am 5. März 1946 (in Anwesenheit von US-Präsident Truman) 2 und in Zürich am 19. September 1946 sowie durch die Verkündung der Truman-Doktrin 3 am 12. März 1947. Letztere war ein militantes Kampfprogramm gegen den Gegner im Osten, dass ich zunächst im Konzept der „Eindämmung“ (Containment), später des „Zurückrollens“ (Rollback) der gesellschaftlichen Alternative im Osten niederschlug. Die Unterzeichnung des Nordatlantikpakts am 4. April 1949 institutionalisierte dann den Kalten Krieg durch eine von den USA geführte politisch-militärische Allianz, womit die Spaltung Europas vollendet wurde.
Eine, wenn nicht gar die zentrale Rolle in der militärisch unterlegten machtpolitischen Auseinandersetzung mit der Sowjetunion und deren Verbündeten kam dem deutschen Potenzial zu, auf das die von den USA dominierten Westmächte in Gestalt ihrer Westzonen beziehungsweise der am 23. Mai 1949 gegründeten BRD Zugriff hatten. Und so wurden bereits kurze Zeit nach Kriegsende unter der Ägide besonders der angelsächsischen Besatzungsmächte zielgerichtete Maßnahmen zur Remilitarisierung im Westen Deutschlands eingeleitet. 4
Nun das Entscheidende: In ihrem militanten antisowjetisch-antisozialistischen Kurs trafen sich die Westmächte in jeder Weise mit den langfristigen strategischen Interessen der jetzt in Westdeutschland konzentrierten wirtschaftlichen und politischen Eliten, die sich mehrheitlich mit dem Hitlerfaschismus verbündet und 1945 bedingungslos hatten mitkapitulieren müssen. Sie waren nicht bereit, sich perspektivisch mit einer nachrangigen Rolle in der Weltarena abzufinden. Bundeskanzler Adenauer gab so am 1. Juni 1951 in einem seiner internen „Teegespräche“ unumwunden das Ziel zu, „wieder eine Großmacht“ zu werden. 5
Für dieses Ziel wurde jeglicher Gedanke an eine Neutralität Deutschlands – etwa nach dem Vorbild der Weimarer Republik beziehungsweise dann Österreichs durch den Staatsvertrag vom 15. Mai 1955 – kategorisch zurückgewiesen (was sich vor allem in der Ablehnung der sogenannten Stalinnote vom 10. März 1952 niederschlug 6). Die Bonner Regierung war dafür bereit, die Wiederherstellung der staatlichen Einheit Deutschlands für unabsehbare Zeit aufzugeben. Sie setzte auf eine Politik der wirtschaftlichen und militärischen Stärke, um auf dieser Basis am Ende die Großmachtposition eines antisowjetisch-antisozialistischen Gesamtdeutschlands (jahrzehntelang mit der Vorstellung in den Grenzen von 1937) durchzusetzen. 7
Man war tatsächlich der festen Überzeugung: Die Kriegsniederlage wettzumachen, die volle staatliche Souveränität wiederzugewinnen 8, „wieder eine Großmacht“ zu werden 9 und „die Befreiung von 18 Millionen Deutschen“ (der Bundesminister für Atomfragen Franz Josef Strauß am 27. Februar 1956) in der DDR sowie der „versklavten Völker Osteuropas“ 10 zu erreichen, führte nach Ansicht ihrer maßgebenden Kreise einzig und allein über eine Politik der Stärke 11 und damit über die West- und Blockbindung sowie über die „Wiederbewaffnung“. Schon Mitte der 50er Jahre wähnte sich Adenauer übrigens am Ziel. Vor dem Bundesvorstand der CDU zeigte er sich am 11. Oktober 1954 angesichts der bevorstehenden Aufnahme in die NATO äußerst befriedigt: „Wir haben dann auch den Status wiedererrungen, den eine Großmacht haben muss. Wir können dann mit Fug und Recht sagen, dass wir wieder eine Großmacht geworden sind. Wenn Sie an die neun Jahre seit dem Zusammenbruch im Jahre 1945 zurückdenken, dann ist dieser Weg doch sehr schnell zurückgelegt worden, und wir haben das Ziel, das wir uns gesetzt haben, sehr bald erreicht.“ 12
Vorher lagen die wesentlichen Schritte der Remilitarisierung: diverse Studien, unter anderem vom Generalleutnant a. D. der Wehrmacht Hans Speidel, die Aufstellung paramilitärischer Formationen wie der Dienstgruppen der Westalliierten be- ziehungsweise des Bundesgrenzschutzes (BGS) als Kaderreservoire für das künftige reguläre Militär, die „Himmeroder Denkschrift“ vom Oktober 1950, in der vor allem die Konzeption der kommenden westdeutschen Streitkräfte als gleichberechtigter Teil einer integrierten westeuropäischen bzw. NATO-Streitmacht umrissen wurde 13, und die Aufstellung des Amtes Blank als Organisationszentrum für diese Streitkräfte und Vorläufer des Bundesverteidigungsministeriums, ebenfalls im Oktober 1950. 14
Den vollständigen Text lesen Sie in der aktuellen Ausgabe 5/6 2025 unseres Magazins, das im Bahnhofsbuchhandel, im gut sortierten Zeitungschriftenhandel und in ausgewählten Lebensmittelgeschäften erhältlich ist. Sie können das Heft auch auf dieser Website (Abo oder Einzelheft) bestellen.
Dr. LOTHAR SCHRÖTER (Jg. 1952) studierte Geschichte und Russische Sprache sowie Militärgeschichte und arbeitete bis 1990 am Militärgeschichtlichen Institut in Potsdam und war Major der NVA. Er war danach in der beruflichen Aus- und Weiterbildung tätig. Zahlreiche Publikationen, darunter „Militärgeschichte der BRD“ (1989), „Die NATO im Kalten Krieg“ (2009), „USA – Supermacht oder Koloss auf tönernen Füßen?“ (2009), „Künftige Supermacht in Asien? Militärpolitik und Streitkräfte der Volksrepublik China“ (2011) und „Der Ukrainekrieg – Die Wurzeln, die Akteure und die Rolle der NATO“ (2024)
1 Siehe Video »Beitritt zur NATO«, in: https://www.hdg.de/lemo/bestand/medien/ video-beitritt-zur-nato.html
2 Die Rede gipfelte in der Formel: „Von Stettin an der Ostsee bis nach Triest an der Adria hat sich ein Eiserner Vorhang quer über den Kontinent gelegt.“ (Winston Churchill, „Ein eiserner Vorhang hat sich quer über den Kontinent gelegt“ [5.3.1946], In: Bernd Greiner/Kurt Steinhaus, Auf dem Weg zum 3. Weltkrieg?, Köln 1980, S. 87.). Churchill nutzte seinen Auftritt in Fulton, um den Westen dazu zu mahnen, eine militärische Überlegenheit anzustreben: „Nach allem, was ich von unseren russischen Freunden und Verbündeten während des Krieges gesehen habe, bin ich überzeugt, dass es nichts gibt, was sie so sehr bewundern wie Stärke, und nichts, wovor sie geringeren Respekt haben als vor militärischer Schwäche. Aus diesem Grund ist die alte Lehre vom Gleichgewicht der Mächte nicht stichhaltig. Soweit wir irgendwie können, dürfen wir es uns nicht leisten, Politik mit geringeren Spielräumen zu betreiben und damit Versuchungen zu einer Machtprobe Tür und Tor zu öffnen.“ (Ebenda, S. 87 f.) 3 Siehe Die „Truman-Doktrin“ (12.3.1947), in: ebenda, S. 99–102
4 Siehe Militärgeschichte der BRD – Abriss. 1949 bis zur Gegenwart, Berlin 1989, S. 12–35
5 Hans Jürgen Küsters (Bearb.), Adenauer. Teegespräche 1950–1954, Berlin (West) 1984, S. 93
6 Siehe Lothar Schröter, Die NATO im Kalten Krieg. Die Geschichte des Nordatlantikpaktes bis zur Auflösung des Warschauer Vertrages, Bd. I, Berlin 2009, S. 192f.
7 In einer Bundestagsdebatte am 25. März 1958 erinnerte der namhafte SPD- Abgeordnete Carlo Schmid den CDU-Vertreter Kurt Georg Kiesinger an den im Europarat gefallenen Satz „Lieber das halbe Deutschland ganz als das ganze Deutschland halb!“ (Deutscher Bundestag – 3. Wahlperiode – 21. Sitzung, Stenographischer Bericht, Bonn, Dienstag, den 25. März 1958, S. 1137), was Kiesinger dann auch bestätigte (siehe ebenda, S. 1141.). Schmid hatte den Satz allerdings schon in der Bundestagsdebatte am 9. Juli 1952 wiedergegeben. Er sei von einem nordischen Abgeordneten gekommen (Deutscher Bundestag – 1. Wahlperiode – 221. Sitzung, Stenographischer Bericht, Bonn, Mittwoch, den 9. Juli 1952, S. 9815f.). Später wird er auch Bundeskanzler Konrad Adenauer zugeschrieben, wovon Franz Josef Strauß indirekt mit der Aussage Zeugnis ablegt: „Lieber in einem Teil Deutschlands frei als in einem Gesamtdeutschland wiederum einem totalitären System unterworfen zu sein – hierin stimmte ich mit Adenauer völlig überein.“ (Franz Josef Strauß, Erinnerungen, Berlin 1989, S. 146)
8 Siehe Konrad Adenauer, Erinnerungen, Bd. I, Stuttgart 1965, S. 345. „Auch für Bundeskanzler Adenauer war der deutsche Verteidigungsbeitrag kein Ziel an sich, sondern mehr ein Mittel zum Zweck der damit zu erreichenden Souveränität und Gleichberechtigung der Bundesrepublik.“ (Hans Speidel, Aus unserer Zeit. Erinnerungen, 3. Auflage, Berlin [West]/Frankfurt a.M./Wien 1977, S. 338)
9 „Wenn Adenauer ein Ziel seit 1945 beharrlich verfolgte, dann war es die Wiederherstellung Deutschlands als ‚Subjekt der Politik‘, als anerkannter Machtfaktor in der internationalen Gesellschaft. Für Adenauer hieß dies, was er offen aussprach, wirtschaftliche Macht, aber auch, was zunächst noch verdeckt blieb, militärische Macht. Diese Macht aber war nur im Verbund mit den westlichen Siegermächten wiederzuerringen.“ (Gottfried Niedhart, „Schweigen als Pflicht. Warum Konrad Adenauer die Stalin-Note vom 10. März 1952 nicht ausloten ließ“, in: Die Zeit, Hamburg, Nr. 11, 6. März 1992, S. 49)
10 Zit. nach: Ernst Deuerlein/Hansjürgen Schierbaum (Bearb.), Dokumente zur Deutschlandpolitik, III. Reihe, Bd. 2, 1. Halbbd., Frankfurt a.M./Berlin (West) 1963, S. 131. So äußerte sich Strauß auch noch später. Zu Zeiten der am 1. Oktober 1969 gebildeten Koalition von SPD und FDP bezeichnete er es als Aufgabe aller Deutschen, den Kommunismus „hinter die legitimen Grenzen der Sowjetunion“ zurückzudrängen. (Siehe Stefan Finger, Franz Josef Strauß. Ein politisches Leben, München 2005, S. 326). Zur „Befreiung“ Osteuropas hatte schon 1950 US-General Alfred M. Gruenther (wenige Jahre später Oberster Befehlshaber der NATO-Streitkräfte Europa [SACEUR]) seine Zweifel geäußert, „dass die Länder hinter dem Eisernen Vorhang ohne einen Krieg befreit werden“ könnten. (Siehe Hamburger Freie Presse, Hamburg, 31. Dezember 1950. Zit. nach: Karl Hubert Reichel, Wie macht man Kriege? Wie macht man Frieden, 2. Aufl., Dortmund 1973, S. 193)
11 Kanzler Konrad Adenauer äußerte am 6. September 1951 entsprechend: »Erst muss der Westen einschließlich der USA so stark sein, dass die Russen Angst haben. Dann erst kann man mit den Russen verhandeln. Darüber werden wohl aber noch wahrscheinlich zwei Jahre vergehen.« (Zit. nach: Hans Jürgen Küsters [Bearb.], a. a. O., S. 138) Den genaueren Zeitpunkt benannte er am 2. April 1952: »Nach meinem Empfinden werden sich die Russen in der unsichersten Lage befinden 1954. Dann wird vielleicht aber auch der Zeitpunkt gekommen sein, wo man mit den Russen ernsthaft sprechen kann.« (Zit. nach: ebenda, S. 276.). Von Franz Josef Strauß ist der bekannte Satz überliefert: „Auf die Dauer kann es kein Deutschland geben, das wirtschaftlich ein Riese und politisch ein Zwerg ist.“ (Zit. nach: Manfred Behrend, Franz Josef Strauß. Eine politische Biographie, Köln 1995, S. 74) 1981 wiederholte er dies mit den Worten: „Man kann auf die Dauer kein politischer und militärischer Zwerg sein, wenn man ein wirtschaftlicher Riese bleiben will.“ (Zit. nach: ebenda, S. 227)
12 Zit. nach: Hans-Peter Schwarz, Adenauer. Der Staatsmann: 1952–1967, Stuttgart 1991, S. 159
13 Siehe Wörterbuch zur deutschen Militärgeschichte, Bd. I, Berlin 1985, S. 296f.
14 Siehe ebenda, S. 20f.