Innenpolitik

Ende des kleinen Ausnahmezustands?

Hinweis: Die Bilder sind aus den archivierten Hintergrund-Texten vor 2022 automatisch entfernt worden.

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Mit der Auflösung des großen Gefahrengebiets in Hamburg sind die größten Gefahren keineswegs gebannt –

Von SUSANN WITT-STAHL, Dangerzone Hamburg, 15. Januar 2014 – 

Nach wochenlanger äußerst angespannter Lage in der Hansestadt gibt es zumindest eine Atempause. „Im Rahmen der täglichen intensiven Lagebewertung der Polizei ist der Fortbestand der Gefahrengebiete nicht mehr erforderlich und daher deren Aufhebung auch juristisch geboten“, hieß es am Montag von Seiten der Polizei, nachdem das zunächst rund zehn Kilometer große Areal am vergangenen Donnerstag bereits auf kleinere Zonen rund um drei Polizeikommissariate reduziert worden war. Der Belagerungszustand in den Stadtteilen St. Pauli, Schanzenviertel und Altona ist damit vorerst beendet, und es herrscht wieder so etwas wie zivilgesellschaftliche Normalität auf Hamburgs Straßen.

Die Gefahrengebiete hätten schwere Straftaten verhindert, versucht der mit absoluter Mehrheit regierende SPD-Senat die umstrittene Maßnahme im Nachhinein zu rechtfertigen und den Bürgern weiszumachen, alles sei zu ihrer eigenen Sicherheit geschehen.

Die Polizei gab an, seit Beginn der polizeilichen Sonderrechte am 4. Januar in 990 Fällen Personen kontrolliert zu haben. Dabei seien 195 Aufenthaltsverbote und 14 Platzverweise ausgesprochen worden. Zudem gab es 66 Ingewahrsam- und 5 Festnahmen.

Im Alltag der Polizeikontrollen gab es immer wieder Szenen, die auch bei „Otto Normalbürger“ nur noch Kopfschütteln hervorgerufen hat. Sie würden „wie Linke aussehen“, soll ein Beamter einer Gruppe von fünf Jugendlichen als Erklärung für ihre Überprüfung genannt haben – Kapuzenjacke oder schwarze Kleidung genügten, um im Visier der Polizei zu landen. Für drei aus der Gruppe endete die Überquerung einer Kreuzung im Schanzenviertel mit einem Aufenthaltsverbot.

Ermächtigung der Polizei

„In den vergangenen Wochen wurden wiederholt Polizeibeamte und polizeiliche Einrichtungen angegriffen. Dabei sind Polizeibeamte zum Teil erheblich verletzt worden“, hieß es in der Begründung für die Ausrufung des großen Gefahrengebietes. Gemeint waren die schweren Straßenschlachten bei der Demonstration für den Erhalt der Roten Flora am 21. Dezember, in denen laut Polizeiführung 169 Beamte verletzt worden sein sollen, vor allem aber angebliche Angriffe auf Polizeireviere und  -streifen. Man wolle „durch diese Maßnahme sehr deutlich machen, dass die Polizei Hamburg alle rechtlichen Möglichkeiten ausschöpfen wird, um Leib und Leben ihrer Beamten zu schützen“, ließ die Staatsgewalt die Bevölkerung wissen – eine unmissverständliche Warnung, dass der in diesen Tagen einmal wieder von den Hardlinern in der Politik und den Polizeigewerkschaften ins Spiel gebrachte Schusswaffengebrauch durchaus eine Option ist.

In Gefahrengebieten darf die Polizei jeden Bürger verdachtsunabhängig überprüfen.
Die Rechtsgrundlage bildet das 2005 vom damaligen CDU-Senat auf Empfehlung des damaligen Innensenators Udo Nagel (parteilos) verabschiedete Hamburgische Gesetz zur Erhöhung der Sicherheit und Ordnung, das die Polizeigesetze des Bundeslandes erheblich verschärfte. Seine neuen Vorschriften ermächtigten die Polizei, nach eigenem Ermessen für unbestimmte Zeit und in unbestimmter Größe Gefahrengebiete ausweisen. „Die Polizei darf im öffentlichen Raum in einem bestimmten Gebiet Personen kurzfristig anhalten, befragen, ihre Identität feststellen und mitgeführte Sachen in Augenschein nehmen, soweit auf Grund von konkreten Lageerkenntnissen anzunehmen ist, dass in diesem Gebiet Straftaten von erheblicher Bedeutung begangen werden und die Maßnahme zur Verhütung der Straftaten erforderlich ist“ , ist im Paragraph 4, Absatz 2 der derzeit geltenden Fassung Gesetz über die Datenverarbeitung der Polizei zu lesen.i Besonders heikel: Die Befugnisse der Polizei gehen so weit, dass sie in diesen Gebieten auch verdachtsunabhängig Platzverweise aussprechen und sogar Ingewahrsamnahmen durchführen kann.

In den Jahren seit Einführung des Gesetzes zur Erhöhung der Sicherheit und Ordnung setzte die Hamburger Polizei das ihr zur Verfügung gestellte Machtinstrument wie erwartet häufig ein: Insgesamt wurden 40 Gefahrengebiete eingerichtet, die meisten von ihnen auf spezifische Orte, wie die Umgebung von Fußballstadien, und auf kurze Zeiträume (einige Stunden) begrenzt. Aber in der Hansestadt gibt es auch Dauergefahrengebiete an sozialen Brennpunkten in St. Pauli und St. Georg mit hoher Drogenkriminalität oder überdurchschnittlichem Krawallpotential.   

Keine „chilenischen Verhältnisse“

Hamburgs Bürgermeister Olaf Scholz verteidigt seine Gefahrengebiete vehement. Sie hätten sich bewährt und würden sich weiter bewähren, zeigt sich Scholz uneinsichtig gegenüber der heftigen Kritik, die sein Vorgehen von allen Seiten erntet. „Ich hoffe, dass die Vernunft siegt und die Gewalttäter innehalten“, ergänzte Innensenator Michael Neumann. Außerdem sei nicht das Gefahrengebiet das Problem, sondern die Gewalt, betonte er noch vergangenes Wochenende. „Bereits bei den ersten Kontrollen wurden zahlreiche gefährliche Gegenstände sichergestellt – schon das bestätigt die Richtigkeit dieser Maßnahme“, steht der Innenexperte der SPD-Fraktion, Arno Münster, seinen Parteigenossen bei.

Neumann hatte in den vergangenen Wochen seinem Ruf als Hardliner alle Ehre gemacht und gebetsmühlenartig immer wieder dieselben Law-and-Order-Parolen gegen „linke Gewalttäter“ ausgegeben. „Diese Menschen haben es doch gar nicht verdient, dass man ihnen politische Motive unterstellt“, findet er. Er sprach alarmistisch von einer „Eskalation der Gewalt, von der wir nicht wissen, ob wir schon die letzte Stufe erreicht haben“ und forderte mit dramatischen Appellen an die Bevölkerung Solidarität für seine Beamte ein: „Ein Angriff auf die Polizei ist ein Angriff auf uns alle.“ Kritik wiegelte Neumann routinemäßig mit Polemiken ab. So sagte er auf der Innenausschusssitzung am Montag vergangener Woche, bei den von ihm abgesegneten harten Kurs „handelt es sich weder um einen Staatsstreich noch um chilenische Verhältnisse“.

Ein Griff ins Klo

Gegen die am 4. Januar erfolgte unbefristete Einrichtung des bislang größten Gefahrengebiets gab es immer wieder heftige Proteste. In der Nacht zum Samstag hatte es gewalttätige Auseinandersetzungen zwischen Demonstranten und der Polizei rund um die Reeperbahn gegeben.

Nicht wenig zu schaffen machte den Ordnungshütern auch der Spott und Hohn, der ihnen an jeder Straßenecke entgegen schlug – Ergebnis einer breit angelegten Spaßguerilla-Offensive von Aktivisten der linken Szene und der Bewohner der Gefahrengebiete, die ihr Symbol in einer von Ordnungshütern beschlagnahmten Klobürste fanden. So mussten sich die fortan die im Gefahrengebiet tätigen Beamten immer wieder den Sprechchor „Klo-, Klo-, Klobürsteneinsatz!“ anhören. Die vielen selbstproduzierten Video-Filmchen von spontan inszenierten Bürsten-Balletten in der „Dangerzone“ auf Youtube und Fotogalerien und Berichte auf Facebook mit mehr oder weniger absurden Erlebnissen im Rahmen der Polizeikontrollen, die sich politisch als Griff ins Klo erwiesen, legen ein beredtes Zeugnis der Kreativität des zivilen Ungehorsams ab.ii „Man kann darüber lächeln, aber ich finde das nicht witzig, weil es hier auch um Leib und Leben nicht nur der Beamten, auch von Unbeteiligten geht“, bewies Polizeisprecher Mirko Streiber in einem Interview mit dem NDR genau die Humorlosigkeit, die man den Ordnungshütern zugetraut hatte.

Das abrupte Ende der Gefahrengebiete wird aus der parlamentarischen und außerparlamentarischen Opposition in Hamburg als großer politischer Erfolg und  herbe Niederlage des SPD-Senats gewertet. „Eine späte Einsicht ist besser als gar keine. Es war dringend notwendig, dass der SPD-Senat auf den öffentlichen Druck und die kreativen Proteste endlich reagiert und die Gefahrengebiete aufhebt“, sagte Jens Kerstan, Vorsitzender der Grünen-Fraktion in der Hamburgischen Bürgerschaft. Auch die innenpolitische Sprecherin der Linkspartei-Fraktion, Christiane Schneider, hält die Aufhebung der Gefahrengebiete für eine Kapitulation vor dem heftigen Widerstand und der Ablehnung durch die große Mehrheit der Anwohner: „Das war aufgrund des nicht nachlassenden Protestes und der massiven bundesweiten Kritik ein unvermeidbarer Schritt. Jeder Tag war einer zu viel“, sagte Schneider. Aber für die Linkspartei ist das „Thema Gefahrengebiete noch lange nicht vom Tisch. Nach wie vor bestehen weitere Gefahrengebiete in St. Georg und St. Pauli, nach wie vor bestehen die völlig unklaren gesetzlichen Grundlagen, die die Polizei zur Ausrufung dieses ‚kleinen Ausnahmezustands‘ ermächtigen.“

„Packt die Knüppel ein!“

Dass in der Hansestadt die Welt alles andere als in Ordnung ist, das machten auch die 1.000 und 1.500 Hamburger deutlich, die am Montagnachmittag, eine Stunde nach dem Einlenken des Senats, gegen die Gefahrengebiete, aber auch für ein Bleiberecht der Lampedusa-Flüchtlinge und den Erhalt der Esso-Häuser an der Reeperbahn unter dem dem Motto „Don’t let the system get you down“ marschierten. Studierende der Universität Hamburg hatten zu der Aktion aufgerufen.

Am Treffpunkt wurde zwar das plötzliche und überraschende Ende der Maßnahme begrüßt und auch gefeiert. Vor allem aber betonten die Initiatoren, dass das wichtigste Ziel noch nicht erreicht sei. „Die Möglichkeit, solche Gefahrengebiete wieder einzurichten, besteht jederzeit. Sie muss ersatzlos aus den Gesetzen gestrichen werden“, so Moritz Krauß, einer ihrer Sprecher: „Es geht nicht, dass man 100.000 Menschen und drei Stadtteile einfach kriminalisiert.“ Zudem forderten die Demonstranten eine Kennzeichnungspflicht für Polizeibeamten – ein Dauerbrennerthema in der Hansestadt und keine Aussicht, dass der Senat seine starre Haltung ändern könnte.

Der Protest verlief absolut friedlich. Die Polizei hielt sich zurück und wollte offenbar dieses Mal eine Eskalation unbedingt vermeiden. Die Demonstranten beschränkten sich auf verbale Unmutsäußerungen und fragten: „Hat denn der SPD-Senat nicht mehr alle sozialen und demokratischen Tassen im Schrank?“ Eine Mitorganisatorin erklärte: „Wir stehen für ein offenes und solidarisches Hamburg und fordern die sogenannte SPD und die Polizei auf: Packt die Knüppel ein!“

Stimmungsmache

Vor der berühmten Davidwache an der Reeperbahn waren laute „Lügner, Lügner“-Rufe zu vernehmen. Damit reagierten die Demonstranten auf die Behauptung der Polizei, am 28. Dezember hätten Angehörige der linksautonomen Szene die Davidwache angegriffen und anschließend drei Beamte attackiert. Dabei soll einer aus kurzer Entfernung von einem Stein im Gesicht getroffen worden sein und lebensgefährliche Verletzungen davongetragen haben. Die Mordkommission wurde eingeschaltet und ermittelte auf versuchten Totschlag. Das „gehört mehr zur Stimmungsmache denn fachlich angemessener Arbeitsweise. Dann hätte die Mordkommission mit angehängten Ermittlungsgruppen bei zig Opfern von Polizeigewalt tätig werden müssen“, kommentierte Thomas Wüppesahl, Vorsitzender der Bundesarbeitsgemeinschaft Kritischer Polizistinnen und Polizisten.

Mit diesem Vorfall, der in der Stadt große Empörung auslöste und die etablierten Medien und rechte Wutbürger veranlasste, nach einem „härteren Durchgreifen“ zu verlangen, hatte  die Polizei immerhin vorwiegend die Einrichtung des großen Gefahrengebiets zu legitimieren versucht. Vergangene Woche präsentierte dann aber Andreas Beuth, ein linker Anwalt, der das autonome Kulturzentrum Rote Flora vertritt, Indizien, die stark darauf hindeuteten, dass der Angriff auf die Wache gar nicht stattgefunden hatte, sondern dass es in einer zweihundert Meter entfernten Seitenstraße zu einer Konfrontation zwischen einer Polizeistreife und bisher unbekannten Personen gekommen war. Dabei hatte ein Beamter ein Nasenbein- und Kieferbruch erlitten und zwei weitere wurden leicht verletzt. Der genaue Hergang ist bislang nicht aufgeklärt.

Beuth äußerte den dringenden Verdacht, dass der Angriff auf die Davidwache eine Erfindung der Polizei gewesen ist, um eine härtere Gangart gegen die linke Szene und auch einige andere Forderungen durchzusetzen: „Es ist Kalkül der Polizeiführung und der Gewerkschaften, den Angriff auf die Wache zu nutzen. Sie versprechen sich davon mehr Stellen und eine bessere Bezahlung sowie Ausrüstung“, sagte Beuth der Hamburger Morgenpost. Zudem habe er die  „Debatte um Schusswaffen“ ins Rollen gebracht und den Ruf nach dem Einsatz von Tasern verstärkt.

Gefahrengebiete als Testfelder?

Die Kritischen Polizistinnen und Polizisten halten die Ausrufung großer Teile der Stadt zur Gefahrenzone grundsätzlich für „Schritte weg von zivilisatorischen Errungenschaften hin zu polizeistaatlichen Elementen“. Politische Führung finde in Hamburg nicht statt. Innensenator Michael Neumann stehe in der Traditionslinie der „Politik der Stärke“ seiner christdemokratischen Vorgänger. Zu dieser Linie gehören aber auch der ehemalige „Richter Gnadenlos“ Ronald Schill, dessen – 2007 bereits wieder aufgelöste – rechtspopulistischer „Partei Rechtsstaatlicher Offensive“ 2001 jeder fünfte Hamburger seine Stimme gegeben hatte. Und nicht zu vergessen: Der heutige Bürgermeister Hamburgs, Olaf Scholz, der wenige Monate vorher die 2006 vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte als Folter geächteten Brechmitteleinsätze gegen mutmaßliche Drogendealer angeordnet und den Tod des Afrikaners Achidi John politisch mit zu verantworten hat.

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Die durch Novellierungen der Polizeigesetze diverser Bundesländer – unter denen das Hamburger als das schärfste gilt – in den 1990er-Jahren ermöglichte Einrichtung von Gefahrengebieten sei juristisch mehr als fragwürdig, weil allein die Polizei über ihre Einrichtung und Dauer entscheide und dabei von niemandem kontrolliert werde, sagte Christiane Schneider, deren Partei seit einiger Zeit Klagmöglichkeiten prüft. „Es gibt de facto keine Kontrolle der Polizei, denn es gibt weder einen Parlaments- noch einen Richtervorbehalt.“ Polizei und Senat würden „elementare Grundrechte der Bürgerinnen und Bürger außer Kraft setzen“.

Die Gefahr für die freiheitlich-demokratische Grundordnung, die von den Gefahrengebieten ausgeht, sei zweifellos hoch, meinen Rechtsexperten: Diese Maßnahme reihe sich „in den allgemeinen Trend der Raumorientierung von sozialer Kontrolle ein, wie er nicht nur für deutsche Städte, sondern international beschrieben wird“, sagt Jan Wehrheim, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Kriminologische Sozialforschung der Universität Hamburg und verweist damit auf den Ausbau des Kontroll- und Überwachungsstaates, den die totalitäre Ökonomie des Neoliberalismus zeitigt. Wehrheims Analysen werfen Fragen auf: Verbergen sich hinter Identitätsfeststellungen Versuche, illegalisierte Migration zu bekämpfen? Wann und wo folgt die Einrichtung von Gefahrengebieten ökonomischen Interessen?, sind die zwei zentralen, die Wehrheim stellt. Zu ergänzen wäre noch eine Frage, die seit Begin der weltweiten Wirtschaftskrise 2008 besonders dringlich ist: Gelten Gefahrengebiete als Testfelder für den Ernstfall – der Bekämpfung von Generalstreiks und Aufständen im Falle weiterer Radikalisierung der Austeritätspolitik oder gar der Ersetzung des bürgerlichen Rechtsstaates durch einen autoritären Staat?

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