Innenpolitik

„Gegen die Festung Europa“

Hinweis: Die Bilder sind aus den archivierten Hintergrund-Texten vor 2022 automatisch entfernt worden.

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In Berlin sind 5000 Schülerinnen und Schüler für die Rechte von Flüchtlingen auf die Straße gegangen –

Von THOMAS EIPELDAUER, 13. Februar 2014 –

Initiativen von Schülern und Studenten sowie linke Gruppen hatten für den heutigen Donnerstag zu einem Schulstreik in Solidarität mit den Anliegen von Flüchtlingen, die seit Monaten in mehreren deutschen Städten für ihre Rechte kämpfen, aufgerufen. Trotz provokant auftretender Polizei weitgehend ohne Zwischenfälle zogen rund 5000 Menschen um 10 Uhr vormittags vom Roten Rathaus zum Oranienplatz in Berlin-Kreuzberg. Dort stehen die Protestzelte der Refugees, die auf ihren Widerstand gegen Lagerunterbringung, Einschränkung ihrer Bewegungsfreiheit, Kriminalisierung und Rassismus aufmerksam machen wollen. Die Solidaritätsaktion der Schüler kommt zu einem Zeitpunkt, zu dem die menschenverachtende Behandlung, der sich Geflüchtete auf ihrem Weg nach Europa gegenüber sehen, endlich – zumindest in Ansätzen – öffentlich wahrgenommen wird. Zehntausende waren in den vergangenen Monaten bereits in Hamburg zur Unterstützung von Flüchtlingen der sogenannten Lampedusa-Gruppe auf die Straße gegangen.

Alleine in den vergangenen drei Wochen kam es an den EU-Außengrenzen zwei Mal zu schweren Übergriffen gegen Refugees seitens jener Behörden, die damit befasst sind, die Festung Europa abzuschotten. In Griechenland starben bei einer Push-Back-Operation zwölf Menschen. Die Überlebenden berichten, ihr Boot sei gekentert, als die Küstenwache es mit hoher Geschwindigkeit an die türkische Küste zurückschleppen wollte. (1) Wenige Tage später, am 6. Februar, versuchten Flüchtlinge schwimmend die spanische Enklave Ceuta bei Marokko zu erreichen. Es kam zu Zusammenstößen mit Sicherheitsbehörden, mehrere Menschen wurden verletzt, wie viele starben, ist weiterhin unklar. (2)

Das sind keine Einzelfälle. Jedes Jahr sterben Hunderte beim Versuch, in die Europäische Union einzureisen. Die EU versucht, sich mit militärischen und polizeilichen Mitteln sowie durch Kooperationen mit nordafrikanischen Ländern von dieser Form der Migration abzuschotten.

Flankiert von einer rassistischen Debatte gegen die „Sozialschmarotzer“, die Habenichtse, die in „unsere“ Sozialsysteme drängen, argumentiert man von Brüssel bis Berlin, dass „das Boot voll sei“ und man ohnehin schon genug Menschen aufnehme. Abgesehen davon, dass das nicht durch Zahlen gedeckt ist (3), ist die Aufregung über das „Flüchtlingsproblem“ heuchlerisch, zieht man die triviale Wahrheit in Betracht, dass niemand aus Lust und Laune seine Heimat verlässt, um anderswo bei null anzufangen. Ob „Wirtschaftsflüchtlinge“ oder politisch Verfolgte – die Gründe, die Menschen zur Flucht treiben, haben ihren Ursprung oft genug in jenen Metropolen des Kapitalismus, in die die Vertriebenen dann fliehen.

Flucht und Vertreibung sind im 21. Jahrhundert ein globales Massenphänomen. Das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen UNHCR spricht in seinem jährlichen Report von 45,2 Millionen mittels Zwang Vertriebener („forcibly displaced“) für das Jahr 2012. Ein großer Teil davon sind Binnenflüchtlinge (IDP, „internally displaced persons“). Achtzig Prozent der Flüchtlinge befinden sich dabei in Entwicklungsländern, die 49 am wenigsten entwickelten Länder beherbergen 2,4 Millionen Flüchtlinge. „Das Jahr 2012 war gekennzeichnet durch eine Flüchtlingskrise, die ein in den vergangenen Jahrzehnten ungekanntes Niveau erreicht“, bilanziert der UNHCR.

Warum fliehen Menschen? Kriege rangieren bei den Fluchtgründen weit oben, Armut, Hunger und Perspektivlosigkeit sind ein Faktor. Immer häufiger auch sind massive Umweltzerstörungen schuld an der Flucht großer Menschenmassen. Politische Verfolgung, religiöse oder ethnische Diskriminierung spielen eine Rolle. In manchen dieser Fälle springt die Urheberschaft der ökonomisch starken westlichen Nationen geradezu ins Auge. Wenn unter den Ländern, aus denen am häufigsten Menschen fliehen, Afghanistan, der Irak und Syrien gelistet sind, muss man den Zusammenhang zu den angeblich humanitär motivierten Militärinterventionen imperialistischer Staaten nicht lange suchen.

Aber auch jenseits von Kriegsgebieten sind es die reichen Nationen, die für die Fluchtursachen verantwortlich zeichnen. Der Westen „unterstützt Diktatoren, manchmal setzt er sie sogar selbst ein. Die Strukturanpassungsprogramme von IWF und Weltbank diktieren den verschuldeten Ländern lange Zeit ihre Politik. Westliche Konzerne dominieren die Wirtschaft unserer Länder, der Westen bestimmt die Preise für die Agrargüter, die Afrika exportiert. Deshalb gibt es bis heute keine ökonomische und nur bedingt politische Unabhängigkeit. Darunter leiden die Bemühungen um Fortschritte und Entwicklung“, führt Mike Adebayo vom The VOICE Refugee Forum aus. (8)

Im Rahmen einer Weltordnung, in der die asymmetrische Entwicklung von Staaten nicht ein zu überwindendes Übel, sondern eine Chance für die Kapitalakkumulation darstellt, ist das Problem erzwungener Migration nicht zu lösen – im Gegenteil, es eskaliert immer weiter. Der Reichtum einiger Weniger in den Metropolen ist unter anderem erkauft durch die Armut Vieler in der Peripherie. So trivial das klingt: Solange sich das nicht ändert, gibt es keine „Lösung“ für das Problem massenhafter Fluchtbewegungen.

„Für Waffen haben sie Geld, für Kriege, für Frontex – nur bei den Refugees, da wird’s dann auf einmal knapp“, sagt Sarina, eine Schülerin aus Neukölln, als die Demonstration auf dem Oranienplatz angekommen ist. Der Einwand ist berechtigt. Länder wie Deutschland, die an internationalen Militäreinsätzen teilnehmen und durch Waffenexporte Konflikte verschärfen, schaffen die Ursachen der Fluchtbewegungen selbst mit, vor denen sie sich dann wieder absichern wollen.

Die „Lösung“ des Migrationsproblems, die den Eliten der sogenannten Ersten Welt vorschwebt, ist die denkbar unmenschlichste: Zur Sicherung des Zentrums vor den Habenichtsen der Peripherie wird eine ganze allein auf Abschottung abzielende Flüchtlingsindustrie bedient. Ihre staatlichen und privaten Akteure machen Milliarden, ihr Geschäft ist kein anderes als die Menschenjagd. 85 Millionen Euro beträgt etwa allein das Budget der Grenzschutzagentur Frontex für das Jahr 2012.

Am liebsten ist es den Eliten der kapitalistischen Zentren aber, wenn die Habenichtse gleich da abgefangen werden, wo man selbst nicht für sie Sorge tragen muss. Deshalb schließt man beispielsweise Abkommen mit nordafrikanischen Ländern, denen man Unsummen im Austausch dafür zusagt, dass sie jene, die zur Flucht nach Europa ansetzen, gleich vor Ort abfangen und – ohne Rücksicht auf irgendwelche humanitären Schrullen – in überfüllte Lager pferchen.

Der Fall Libyen zeigt viele dieser Aspekte deutlich auf: Mit Muammar al-Gaddafi gab es einen Vertrag, der Milliarden Euro für Grenzschutzmaßnahmen in Libyen versprach. Als man sich dann zum Regime Change entschloss und den ehemaligen Revolutionsführer von seinen Gegnern töten ließ, blieben nicht nur noch mehr Fluchtgründe, die durch die Bürgerkriegssituation geschaffen wurden, sondern auch ein Machtvakuum. Im von der NATO geschaffenen Failed State gab es keinen mehr, der die Flüchtlingsabwehr organisieren konnte – wenngleich das Grenzschutzabkommen auch mit den neuen Herrschern Libyens formal weiterhin in Kraft bleibt.

Dann kam Lampedusa im Oktober 2013. Ein Boot mit Flüchtlingen sank, Hunderte Menschen starben, und die Medien „entdeckten“ ein Phänomen, das eigentlich seit Langem bekannt ist: An den EU-Außengrenzen sterben jährlich Tausende Menschen an der Ignoranz und Gier des Westens. Nun musste gehandelt werden.

Und wie die EU zu handeln gedachte: mehr Frontex, mehr „Flüchtlingsabwehr“, mehr und noch bessere Abschottung. „Wir brauchen entschlossene Maßnahmen, um diese Schiffswracks am Auslaufen zu hindern“, stellte der italienische Ministerpräsident Enrico Letta fest. Weil aber nun Libyen ein „Nicht-Staat“ sei, müsse man die Sache selbst in die Hand nehmen. Das soll mit der „humanitären“ Operation „Sicheres Meer“ geschehen, die die weitere Militarisierung des Grenzschutzes im Mittelmeer vorsieht. Küstenwache, Grenzpolizei, Kriegsschiffe, Hubschrauber, Flugzeuge und Drohnen – so sieht die europäische „Lösung“ der Flüchtlingsfrage aus.

 


 

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Anmerkungen

(1) http://www.taz.de/!131532/
(2) http://derstandard.at/1389859517994/Massensturm-auf-spanische-Exklave-Mindestens-fuenf-Afrikaner-tot
(3) http://www.spiegel.de/politik/ausland/marokko-fluechtlinge-stuermen-spanische-exklave-ceuta-mehrere-tote-a-951859.html
(4) „Fluchtgrund Imperialismus“, Hintergrund 4/2013; Bestellungen hier.

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