Innenpolitik

Prozess gegen John Demjanjuk

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Von DIETMAR HENNING, 3. Dezember 2009 –

Am Montag wurde vor dem Landgericht München II die Hauptverhandlung gegen den mutmaßlichen SS-Gehilfen John Demjanjuk wegen Beihilfe zum Mord eröffnet. Die Staatsanwaltschaft wirft dem 89-Jährigen vor, von März bis September 1943 als Wachmann im Vernichtungslager Sobibor im besetzten Polen bei der Ermordung von mindestens 27.900 Juden mitgewirkt zu haben.

Heute, fast 65 Jahre nach dem Ende der Nazi-Diktatur, könnte dies der letzte größere Prozess gegen einen Holocaust-Täter sein. Doch das international aufmerksam verfolgte Verfahren könnte kläglich enden – weil die deutsche Politik und Justiz in der Vergangenheit kaum bis gar kein Interesse an der Verfolgung von NS-Verbrechern hatte.

John Demjanjuk, geboren 1920 in der Ukraine, arbeitete als Traktorist, als er 1940 von der Roten Armee eingezogen wurde. Zwei Jahre später geriet er in deutsche Kriegsgefangenschaft. Im Kriegsgefangenenlager bei Chelm wurde er so genannter Hilfswilliger. Im SS-Außenlager Trawniki wurde er ausgebildet und von der SS aufgenommen.

Demjanjuk war einer von rund 3.000 sowjetischen Kriegsgefangenen, die die Nationalsozialisten ab 1942 als Handlanger beim Massenmord an den Juden in Polen einsetzten. Die meisten waren Ukrainer, viele andere Balten, einige wenige Polen und so genannte "Volksdeutsche" aus der Sowjetunion. Die nach dem Ort des Zwangsarbeits- und SS-Ausbildungslagers genannten Trawniki wurden bei der Räumung jüdischer Gettos, bei der Erschießung von Menschen und als Wachmänner eingesetzt. Sie trieben auch die KZ-Opfer in die Gaskammern.

Nach einem kurzen Einsatz im Konzentrationslager Majdanek wurde Demjanjuk am 27. März 1943 in das Vernichtungslager Sobibor in Ost-Polen abkommandiert, wo er als einer von etwa 130 Hilfswilligen unter dem Kommando von 20 bis 30 SS-Angehörigen diente. Mitte September 1943 wurde Demjanjuk dann in das bayerische KZ Flossenbürg versetzt, um ab 1944 noch einige Zeit in der für die deutsche Wehrmacht kämpfenden "Russischen Befreiungsarmee" zu dienen.

Nach einem Aufenthalt in Lagern für "Displaced Person" emigrierte er schließlich 1952 aus Deutschland in die USA. Dort änderte er seinen Vornamen von Iwan auf John und erhielt 1958 die US-Staatsbürgerschaft. Mitte bis Ende der 1970er Jahre erhielten die US-Behörden erste Hinweise, dass Demjanjuk in Sobibor tätig gewesen war.

Aufgrund dieser Belege wurde Demjanjuk 1981 erstmals die amerikanische Staatsbürgerschaft aberkannt. Aufgrund von Zeugenaussagen, die ihn als den berüchtigten "Iwan den Schrecklichen", einen Wärter im Vernichtungslager Treblinka, identifizierten, wurde er 1986 nach Israel ausgeliefert. Ein Bezirksgericht verurteilte ihn am 25. April 1988 zum Tode.

Nach der Auflösung der Sowjetunion fanden dann aber Ermittler in dortigen Archiven Aussagen von 37 in der UdSSR verurteilten Treblinka-Wächtern. Aus diesen ging hervor, dass der Nachname von "Iwan dem Schrecklichen" im Lager Treblinka nicht Demjanjuk, sondern Martschenko gewesen sein soll.

Es stellte sich heraus, dass das dem Justizministerium der Vereinigten Staaten unterstellte "Office of Special Investigations" (OSI) dies bereits vor dem Ausbürgerungsverfahren gewusst hatte. Die entsprechenden Unterlagen hatte es aber zurückgehalten. Im Juli 1993 sprach der Oberste Gerichtshof Israels Demjanjuk frei, obwohl ihn das Gericht nachweislich für einen Sobibor-Aufseher hielt. Wegen dort begangener Verbrechen sei er aber nicht angeklagt und auch nicht ausgeliefert worden. Joram Scheftel, der John Demjanjuk während des Prozesses in Israel verteidigte, berichtete, Demjanjuk sei für die siebenjährige Haft mit 380.000 US-Dollar entschädigt worden. 1998 bekam er die Staatsbürgerschaft der USA zurück.

Nach einem erneuten Prozess in den USA entschied im Juni 2004 ein US-Gericht, Demjanjuk die Staatsbürgerschaft erneut abzuerkennen. Eine geplante Abschiebung in die Ukraine scheiterte. Im Mai dieses Jahres wurde er dann schließlich auf Antrag der deutschen Behörden nach Deutschland gebracht und befindet sich seitdem in Untersuchungshaft.

In Deutschland wirft ihm die Staatsanwaltschaft vor, als "fremdvölkischer" Wachmann in den sechs Monaten seiner Zeit in Sobibor Tausende von Juden aus insgesamt 15 Zügen aus den Niederlanden in die Todeskammern getrieben zu haben. Er habe "bereitwillig" an der Tötung der Juden teilgenommen und dabei den "Rassevernichtungswillen der NS-Ideologie in sich aufgenommen".

Der Demjanjuk-Prozess, die deutsche Justiz und die Verfolgung von NS-Verbrechen

Der Prozessbeginn am Montag sorgte weltweit für Aufsehen. Über 250 Journalisten aus der ganzen Welt drängten sich schon viele Stunden vor Verhandlungsbeginn um die für sie bereit gehaltenen 68 von 147 Plätzen. Außerdem kam eine Gruppe von rund 20 Nachkommen ermordeter Juden, vor allem aus den Niederlanden, die als Nebenkläger auftreten.

Vor Beginn des Verfahrens versuchte Demjanjuks Verteidiger Ulrich Busch, seinen Mandanten aufgrund seiner gesundheitlich schlechten Verfassung vor dem Prozess zu bewahren. Der Angeklagte leide unter einer Vorstufe der Altersleukämie, statistisch gesehen habe er noch eine Lebenserwartung von weniger als einem Jahr. Er habe Rückenprobleme, Nierensteine, Herzbeschwerden und Konzentrationsschwierigkeiten. Doch Demjanuk wurde von Ärzten als verhandlungsfähig eingestuft, die Verhandlungsdauer pro Tag dürfe aber nicht mehr als zweimal 90 Minuten betragen. Der Prozess ist bis Mai 2010 auf 35 Tage angesetzt. Dann ist Demjanjuk bereits 90 Jahre alt. Ein Mediziner empfahl, in einem Nebenraum des Gerichtsaales ein Bett aufzustellen, damit sich Demjanjuk in den Pausen erholen kann.

Inzwischen verfolgt Anwalt Busch eine andere Strategie zur Verteidigung. Während Demjanjuk scheinbar apathisch nur noch im Bett liegend dem Prozess beiwohnt und sich nicht zu den Vorwürfen äußern möchte, bezeichnete sein Anwalt ihn am ersten Tag als Opfer der Nationalsozialisten. Busch kritisierte scharf die Auslieferung seines Mandanten. Dieser sei "über den halben Erdball zwangsdeportiert worden". Unter Prozessbeobachtern und Nebenklägern sorgte er damit für Bestürzung.

Busch stellte Befangenheitsanträge gegen die Richter des Münchner Landgerichts und die Staatsanwälte. In dem Verfahren zeige sich ein "moralischer und juristischer Doppelstandard". Dem Rechtsanwalt kommt dabei die bisherige gerichtliche Praxis bei NS-Verbrechen zugute. Busch berief sich auf einen Prozess, in dem ranghohe Vorgesetzte Demjanjuks freigesprochen worden waren.

So wurde SS-Sturmbannführer Karl Streibl, der Ausbilder von Demjanjuk im Ausbildungslager Trawniki, 1976 vom Landgericht Hamburg frei gesprochen. Die Richter glaubten ihm, dass er nicht gewusst habe, wofür die von ihm ausgebildeten Männer eingesetzt würden. Von der Judenvernichtung wollte er erst später erfahren haben.

Auch viele deutsche SS-Schergen, die in Sobibor Dienst getan hatten, kamen straffrei davon. 1965 verhandelte das Landgericht Hagen gegen zwölf von ihnen und sprach fünf frei. Einer, Kurt Bolender, beging vor der Urteilsverkündung Selbstmord. Der freigesprochene SS-Mann Erich Lachmann hatte im Prozessverfahren erklärt: "Ich fühle mich am Tode der in Sobibor umgekommenen Juden nicht schuldig, weil ich sie nicht vergast habe."

Eine systematische Strafverfolgung von Naziverbrechern hat in der Bundesrepublik nie stattgefunden. Seit Kriegsende ermittelte die deutsche Justiz in über 100.000 Fällen, nur 6.500 Beschuldigte wurden verurteilt, meist zu geringen Strafen.

Auch im Fall der ausländischen Helfer der Nazis war die deutsche Politik nicht bemüht, die Verbrecher der Strafe zuzuführen. So teilte das "Office of Special Investigations" 1982 dem deutschen Bundesjustizministerium mit, dass mehr als hundert Männern und Frauen – wie später dann auch Demjanjuk – die US-Staatsbürgerschaft aberkannt worden sei. Der damalige Bundesjustizminister Jürgen Schmude (SPD) lehnte eine Anfrage des US-Justizministeriums ab, gegen die Verdächtigen gerichtlich vorzugehen und deren Auslieferung zu beantragen. Die Auslieferung sei nur bei Straftaten zulässig, "die im Hoheitsgebiet des ersuchenden Staates begangen worden sind", rechtfertigte sich Schmude. Wegen der Verjährungsfristen könnten ohnehin nur noch Mordtaten verfolgt werden.

So sahen auch im Fall Demjanjuks deutsche Behörden, wie die zuständige "Zentrale Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen", jahrzehntelang keine Notwendigkeit, den Hinweisen auf seine NS-Verbrechen nachzugehen. Spätestens 1993, nach der Aufhebung des Todesurteils in Israel, war bekannt, dass Demjanjuk Wachmann im Vernichtungslager in Sobibor gewesen war.

Doch noch 2003 urteilte eine Delegation der "Zentralstelle" nach einer zweiwöchigen Dienstreise nach Washington, wo sie Unterlagen sichtete, darunter auch Dokumente über den jetzigen Angeklagten: "Ein individueller Tatvorwurf ist aus den vorgelegten Unterlagen nicht ersichtlich."

Erst 2008, "rechtzeitig vor den Feiern zum 50-jährigen Jubiläum ihres Bestehens", wie Spiegel online bemerkt, "nahm die Zentrale Stelle ein Vorermittlungsverfahren auf – die Vorstufe zum jetzigen Prozess". Der Behördenleiter Kurt Schrimm wurde dafür zum Leitenden Oberstaatsanwalt befördert.

Demjanjuks Verteidiger Busch nutzt nun die jahrzehntelange Ablehnung deutscher Behörden, NS-Kriegverbrecher zur Rechenschaft zu ziehen. Vor dem Müncheneer Landgericht erklärte er, sein Mandant habe wie die freigesprochenen SS-Männer aus Sobibor auf Befehl – der Deutschen – handeln müssen. Sein Mandant sei in Sobibor als Kriegsgefangener eingesetzt gewesen.

Hinzu komme, dass Demjanjuk durch seine Haft in Israel mittlerweile länger in der Zelle gesessen habe, als die allermeisten verurteilten Nazi-Verbrecher. Da es nach dem Kenntnisstand der Staatsanwaltschaft keine Aussage gebe, nach der Demjanjuk Häftlinge eigenhändig ermordet habe, werde die zu erwartende Strafe nicht höher sein als die sieben Jahre, die er schon abgesessen habe.

Das Gericht stellte alle Anträge zurück und fährt seit Dienstag mit den Aussagen der Nebenkläger fort. Unter Tränen berichtete ein heute 70-jähriger Zeuge vom Schicksal seiner Familienangehörigen, die in Sobibor und Auschwitz vergast wurden. Als er einen Brief der Mutter vorlesen wollte, die diesen auf ihrem Todestransport nach Sobibor aus dem Zug werfen konnte, brach er weinend zusammen.

Wie eine weitere 70-jährige Nebenklägerin, die sich aufgrund ihres damals jungen Alters "an nichts erinnern kann", sind inzwischen nahezu alle Augenzeugen der Nazi-Verbrechen, wenn sie denn den Holocaust überlebt haben, gestorben. Das ist der Grund, weshalb es für die mutmaßlichen Verbrechen Demjanjuks keine lebenden Augenzeugen mehr gibt. Der ehemalige Sobibor-Insasse Thomas Blatt, 82 Jahre alt, sagte am Rande des Prozesses bitter: "Bald sterben die letzten Täter und Opfer, dann ist es nur noch Geschichte."

Spiegel online befürchtet, der Prozess drohe "enttäuschend zu enden". Erstens könnte Demjanjuk doch noch für verhandlungsunfähig erklärt werden. Enttäuschender sei aber: "Das Verfahren wird unbequeme Fragen aufwerfen, zum Beispiel: Warum erst jetzt? Und: Warum ausgerechnet Demjanjuk und nicht all die anderen?"

Auch der emeritierte Strafrechtslehrer Christiaan F. Rüter der Universität von Amsterdam bezeichnete den Prozess als einen Prozess gegen "den kleinsten der kleinen Fische". Der Herausgeber von Sammelbänden mit Urteilen zu NS-Verbrechen sagte: "Hohe Beamte, Offiziere, Kommandeure haben in Ruhe ihre Pension verzehrt, dieser Greis soll nun alles ausbaden."

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Doch selbst eine Verurteilung des Traktoristen aus der Ukraine als NS-Verbrecher kann die Kontinuität der maßgeblichen Eliten des Nationalsozialismus in der frühen Bundesrepublik und ihr staatlicher Schutz bis zum heutigen Tage nicht aus der Welt schaffen.


Quelle: WSWS

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