EU-Politik

Auf dem Weg in die Diktatur: Ungarn schafft die Pressefreiheit ab

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Von REDAKTION, 22. Dezember 2010 –

Trotz heftiger Kritik maßgeblicher Bürgerrechts- und Presseorganisationen im In- und Ausland hat Ungarn durch das  EU-weit restriktivste Mediengesetz die Pressefreiheit de facto abgeschafft.

Ausgerechnet mit Beginn der halbjährigen ungarischen EU-Ratspräsidentschaft im Januar treten Regelungen in Kraft, die die kritische Öffentlichkeit ausschalten sollen. Die im April ans Ruder gekommene rechte Partei FIDESZ unter Ministerpräsident Viktor Orban will damit offensichtlich die eigene Macht dauerhaft untermauern.

Die FIDESZ brachte das Gesetz im ungarischen Parlament mit 256 Stimmen dafür und 87 dagegen durch. „Die Nachrichtenagentur MTI hatte gemeldet, der mit Zweidrittelmehrheit im Parlament herrschende FIDESZ habe alle seine Abgeordneten verpflichtet, an der Abstimmung über das Mediengesetz am Montagabend teilzunehmen, und kontrolliert, ob auch alle ihre Stimme abgeben.“ (1) Seit ihrem Amtsantritt im Frühjahr hat die Regierungspartei Schlüsselposten in öffentlichen Einrichtungen mit eigenen Leuten besetzt. Das gilt neben der Medienaufsicht auch für die Finanzmarktregulierung und den Rechnungshof. (2)

Die in diesem Sommer geschaffene Medienbehörde NMHH kontrolliert bereits die öffentlich-rechtlichen TV- und Radiosender, sowie die Nachrichtenagentur MTI. Durch das jetzt beschlossene Mediengesetz wurden außerdem alle privaten Medien unter Kuratel der von der Regierungspartei FIDESZ kontrollierten Behörde gestellt – Funk, Fernsehen, Printmedien, Internetportale.

Eine weitere Methode, „die dazu dient, nichtstaatliche Sender in Schach zu halten, findet sich in Gestalt der Regelungen zur Vergabe von Frequenzen. Allein im kommenden Januar laufen die Sendegenehmigungen von gut 100 Rundfunksendern ab. Eine Ausschreibung für die Neuvergabe von Frequenzen gibt es zur Zeit nicht, die Genehmigungen werden stattdessen regelmäßig für einen oder wenige Monate verlängert. Wenn ein Sender sich nicht artig benimmt, bekommt er seine Frequenz beim nächsten Mal eben nicht mehr.“ (3)

Vorsitzende der  Behörde ist die von Orban persönlich ernannte Annamaria Szalai.  Sie gilt als treue Gefolgsfrau der Regierungspartei. Die Pressefreiheit, sagte die NMHH-Präsidentin Szalai, sei „kein Selbstweck“, sondern müsse „den Interessen der Gemeinschaft, der Integrierung der Gesellschaft dienen“. Der beigeordnete Medienrat besteht ausschließlich aus FIDESZ-Delegierten. In der ehemaligen Medienaufsichtsbehörde ORTT, die durch das NMHH ersetzt wurde, waren die Gremien paritätisch besetzt. Durch hohe Geldstrafen, die die NMHH eigenmächtig verhängen kann, können vor allem finanzschwächere Medien wirtschaftlich ruiniert werden.

Unklar ist bislang, welche Verstöße geahndet werden. Bei den Journalisten besteht Unsicherheit in der Frage, ob sich Medien eine Kritik an der Regierung unter den gegebenen Bedingungen überhaupt noch leisten können. Die Quasi-Zensurbehörde darf selbst Verordnungen erlassen. Der  Schutz für Informanten von Journalisten wurde de facto abgeschafft, da die Behörde Redaktionsräume nach Akten durchsuchen darf.

Zentralisierung

Während die privaten Medien durch die Aussicht auf harte Strafen an die Kandare genommen werden können, unterwirft die seit Mai amtierende Regierung Orban den öffentlich-rechtlichen Rundfunk einer radikalen Zentralisierung. Vom Ungarischen Fernsehen (MTV), dem Auslandssender Duna TV und dem Ungarischen Radio (MR) bleiben praktisch nur mehr die Namen übrig. Die gesamte Programmgestaltung wandert – zusammen mit Immobilien, Produktionsstätten, Archiven und Mitarbeitern – zum neuen Programm-Fonds MTVA.

Sämtliche Nachrichten- und Magazinprogramme dieser Rundfunkanstalten werden wiederum von der Nachrichtenagentur MTI produziert, die in Ungarn gleichfalls einen öffentlich-rechtlichen Status hat. Die Spitzenpositionen bei diesen Medienanstalten sind inzwischen fast ausschließlich mit partei-loyalen Funktionären und Journalisten besetzt worden, die von Sendern aus dem Medienimperium der Regierungspartei geholt wurden.

Auch eine neue Regierung hätte es schwer, all dies rückgängig zu machen, denn dazu bräuchte sie im Parlament eine Zweidrittelmehrheit, so wie sie derzeit FIDESZ besitzt. Zudem dauert das Mandat der Präsidentin der mächtigen Medienaufsichtsbehörde neun Jahre – das ist länger als zwei Legislaturperioden.

Schwacher Widerstand

Bisher sind größere Proteste in Ungarn ausgeblieben. Nur etwa 1.500 Studenten demonstrierten am Montagabend gegen den Pressemaulkorb. Außerdem klebten sich während der Abstimmung im Parlament Oppositionsabgeordnete demonstrativ den Mund zu. Mehrere Zeitungen, die sozialdemokratische Tageszeitung Nepszava, die literarische Wochenzeitung Elet es irodalom und das liberale Wochenmagazin Magyar Narancs waren zuvor aus Protest mit weißem Titelblatt erschienen. Die Zeitungen begründeten ihren Schritt mit einer kurzen Erklärung, nach der es in Ungarn bei Inkrafttreten des Gesetzes „am 1. Januar 2011 keine Pressefreiheit mehr“ gebe.

Den nur geringen Widerstand im Land führen manche Beobachter darauf zurück, dass die Ungarn derzeit vor allem mit Sorgen materieller Art zu kämpfen hätten. Die Behörde wird über die Printmedien empfindliche Geldstrafen in Höhe von bis zu umgerechnet 90.000 Euro verhängen können. Zwar können Betroffene vor Gericht klagen, jedoch hängt es vom Wohlwollen des Richters ab, ob die Geldbuße sofort, oder eventuell erst nach Prozessende bezahlt werden muss.

Kritik aus dem Ausland

Die Medienbeauftragte der OSZE (Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa), Dunja Mijatovic, sprach von einer Gesetzeslage „wie sonst nur unter autoritären Regimen“. Besorgt äußerte sich die OSZE-Beauftragte am Mittwoch in Wien auch über die „ungewöhnlich weitreichende Macht der Medienbehörde und des Medienrats, die ausschließlich mit Mitgliedern der Regierungspartei besetzt sind“. Eine derartige Machtkonzentration regulierender Behörden sei beispiellos in europäischen Demokratien und verletze die Medienfreiheit, urteilte Mijatovic.

Auch der Europäische Zeitungsverlegerverband und das Internationale Presse-Institut IPI äußerten ihre Besorgnis darüber, dass in Ungarn die Pressefreiheit auf dem Spiel stehen könnte. Die Menschenrechtsorganisation Freedom House äußerte ähnliche Einwände.

Die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) hat die ungarische Regierung vor einer Verletzung rechtsstaatlicher Prinzipien im Umgang mit den Medien gewarnt. Die Bundesregierung beobachte die Änderung der Mediengesetzgebung in Ungarn mit „großer Aufmerksamkeit“, sagte Vize-Regierungssprecher Christoph Steegmans am Mittwoch in Berlin. „Als künftige EU-Präsidentschaft trägt Ungarn natürlich eine besondere Verantwortung für das Bild der gesamten Europäischen Union in der Welt“, fügte er hinzu. Auch deshalb sei es selbstverständlich, dass Ungarn den Werten der EU verpflichtet bleibe.

Auf die Frage, ob Merkel mit dem ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orban über das Thema telefoniert habe, gab Steegmans keine Antwort. Er sagte aber, die Stellungnahme der Bundesregierung lasse nichts an Deutlichkeit zu wünschen übrig.

Die EU-Kommission untersucht nun, ob die Verschärfung des Medienrechts in Ungarn mit EU-Grundsätzen vereinbar ist. „Die EU-Kommission prüft, ob Ungarn mit seinem neuen Mediengesetz gegen EU-Recht verstößt“, sagte ein Sprecher der Behörde am Mittwoch in Brüssel.

Luxemburg fordert EU-Stellungnahme

Luxemburgs Außenminister Jean Asselborn hat die EU-Kommission aufgefordert, eindeutig Stellung gegen das neue Mediengesetz Ungarns zu beziehen. „Für die EU ist das etwas, was ans Eingemachte geht. Es geht um ein fundamentales Interesse der EU, nämlich die Verteidigung der Menschenrechte“, sagte Asselborn am Mittwoch in einem Gespräch mit der Nachrichtenagentur dpa.

„Ich ermutige mit aller Kraft die Kommission, Stellung zu beziehen“, sagte Asselborn zu Äußerungen eines Kommissionssprechers, die Behörde prüfe, ob das ungarische Mediengesetz gegen EU-Recht verstoße. „Wenn eine Regierung sich anmaßt festzulegen, wie das allgemeine Interesse aussehen soll und dann auch noch eine Kontrollinstanz schafft, die Verstöße sanktionieren soll, dann sind wir in einem anderen Regime“, sagte Asselborn. Die EU stelle gerade die Pressefreiheit gegenüber Drittstaaten immer als den „ersten Pfeiler der Grundrechte“ heraus. Er wage nicht, sich vorzustellen, wie beispielsweise Russland künftig bei solchen Argumentationen der EU reagiere: „Die werden uns doch leicht schachmatt setzen.“

Asselborn sagte, es sei nachrangig, ob Ungarn gegen die Europäische Konvention zum Schutz der Menschenrechte oder gegen die im Lissabon-Vertrag festgeschriebenen Grundwerte der EU verstoße: „Mir ist egal, was juristisch geprüft wird. Wir haben ein Problem. Und wenn Europa noch irgendwie verstanden werden soll, dann muss doch klar sein, dass dann, wenn ein Mitgliedsland gegen die Menschenrechte verstößt, jemand sagt ‚Das geht nicht’“. Er fügte hinzu: „Wir mischen uns ein, weil ein Land wirklich im Begriff ist, ein fundamentales Menschenrecht einzuschränken.“


(1)  http://www.neues-deutschland.de/artikel/187051.ungarn-in-der-zeitenwende.html

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(2)  http://www.jungewelt.de/2010/12-22/062.php

(3) http://www.neues-deutschland.de/artikel/187051.ungarn-in-der-zeitenwende.html

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