„China und Deutschland teilen gemeinsame Interessen“
Es ist mittlerweile eine Binsenweisheit, dass die Welt sich von einer unipolaren Weltordnung, in der die USA die einzige Supermacht waren, hin zu einer multipolaren Weltordnung entwickelt. Aber wie bewertet China diese Entwicklung? Moritz Enders traf sich in Berlin mit Cui Hongjian, Professor für Internationale Beziehungen an der Peking Foreign University, und seinem Team (Dr. Yao Ling, Direktorin der Europastudien, Chinesische Akademie für internationalen Handel und wirtschaftliche Zusammenarbeit; Dr. Jin Ling, stellvertretende Direktorin der Europastudien, China Institute of International Studies; Dr. Zhang Monan, stellvertretende Direktorin der Europa- und Amerikastudien, China Center for International Economic Exchanges) zu einem Gespräch.
HINTERGRUND: Wie haben sich die wirtschaftlichen Beziehungen zwischen China und Deutschland in den letzten Jahren entwickelt?
Dr. Yao: Im Allgemeinen sind die wirtschaftlichen Beziehungen zwischen China und Deutschland stabil. Deutschland ist Chinas größter Handelspartner in der EU, und China ist seit 2016 acht Jahren in Folge Deutschlands größter Handelspartner. Allerdings ist der Wert des bilateralen Handels seit 2022 zwei Jahre in Folge gesunken, wobei die Importe Chinas aus Deutschland weniger abgenommen haben als die Exporte Chinas nach Deutschland. Was Investitionen betrifft, so wachsen die direkten Investitionen zwischen China und Deutschland in beide Richtungen weiter, mit einem jährlichen Wachstum der direkten Investitionen von über 4 Milliarden US-Dollar auf beiden Seiten.
Insbesondere haben deutsche Maschinenbau-, Chemie- und Automobilunternehmen in letzter Zeit ihre Investitionen in China erhöht. Im April dieses Jahres besuchte der deutsche Bundeskanzler Scholz China, und beide Seiten unterzeichneten eine Reihe von Kooperationsdokumenten, darunter solche zu automatisiertem und vernetztem Fahren und zur Kreislaufwirtschaft.
China öffnet sich weiter. Beschränkungen für ausländische Investitionen im verarbeitenden Gewerbe werden vollständig aufgehoben, und die Öffnung von Finanz-, Telekommunikations- und medizinischen Dienstleistungen wird aktiv vorangetrieben. Ich glaube, dass dies weiteren Ländern weltweit, einschließlich Deutschland, neue Chancen bieten wird.
HINTERGRUND: Gibt es auch Herausforderungen zu bewältigen?
Dr. Yao: Meiner Meinung nach wird das derzeitige globale Wirtschaftswachstum durch eine Verlangsamung und zunehmenden Protektionismus auf europäischer Ebene, sowie Arbeitskräftemangel und hohe Energiekosten, weiterhin die Entwicklung der deutschen Wirtschaft einschränken. Hinsichtlich der Zukunft der bilateralen Beziehungen zwischen China und Deutschland stehen wir zweifellos vor einem sehr anderen Szenario als in der Vergangenheit.
Wir haben den Eindruck, dass sich die deutsche Politik im Wandel befindet, und ich denke, sowohl China als auch Deutschland müssen nun einen gemeinsamen Nenner finden, um mit den Unsicherheiten dieses Wandels umzugehen. China verändert sich ebenfalls, zweifellos in seinen Politiken, im Umweltschutz und in der Umweltpolitik.
Zusätzlich stellen die Ukraine-Krise, die Deutschland und China unterschiedlich wahrnehmen, sowie einige bilaterale Handels- und Investitionsunterschiede erhebliche Herausforderungen dar. Ich denke, es ist keine einfache Zeit für China und Deutschland. Wir bemühen uns, eine stabile und nachhaltige Zusammenarbeit aufrechtzuerhalten, die zweifellos im Interesse beider Seiten liegt. Es gibt Unsicherheiten, aber ich glaube, das Wichtigste ist, dass wir genügend Vertrauen haben müssen, um mit jeder Art von Unsicherheit umzugehen. Wir sollten uns als Partner verstehen und Geduld miteinander zeigen.
HINTERGRUND: Beeinflusst die Ukraine-Krise also die Beziehungen zwischen China und Deutschland? In welcher Weise?
Prof. Cui: Ich betone noch einmal, dass wir sicherlich ein unterschiedliches Verständnis dieser Krise in Bezug auf die Ukraine-Frage haben. Aber dies sollte kein Hindernis für beide Seiten sein, gemeinsame Lösungen zu suchen. Ich denke, jede zukünftige friedliche Verhandlungslösung sollte ein Ziel sein, das wir gemeinsam erreichen können. Wir haben genug Erfahrung, um alles zu bewältigen, da wir auch schon während der Amtszeit von Kanzlerin Merkel mit Reibungen umgegangen sind.
Jedoch hat sich die EU-Politik in den letzten Jahren erheblich verändert. Von einer pragmatischen Zusammenarbeit mit China konzentriert sie sich jetzt auf Risikominderung oder andere politische Ziele. Dennoch brauchen wir einander weiterhin, um mehr Geschäfte auf der Grundlage gleichberechtigter Beziehungen zu tätigen, selbst wenn wir in einigen Bereichen zunehmend konkurrieren. Aber die Grundsätze einer sinnvollen Zusammenarbeit sollten sich nicht ändern.
HINTERGRUND: Wie haben sich die diplomatischen Beziehungen zwischen Deutschland und China in den letzten Jahren entwickelt?
Dr. Jin: Meiner Meinung nach sind die Beziehungen zwischen China und Deutschland im Allgemeinen reibungslos und stabil, insbesondere seit 1980, als China seine Politik der Öffnung und Reform begann. Deutschland wurde von Anfang an als sehr wichtiger Handels- und Wirtschaftspartner angesehen. Ich denke, die Beziehungen zwischen China und Deutschland erreichten ein sehr hohes Niveau, insbesondere während der Amtszeit von Kanzlerin Merkel. Zum Beispiel nahmen China und Deutschland in dieser Zeit die Partnerschaft zwischen den Regierungen und den hochrangigen Austausch zwischen den Regierungen wieder auf.
Tatsächlich hat der Austausch zwischen den Regierungen eine sehr wichtige Rolle bei der Unterstützung der Entwicklung der Beziehungen gespielt und weitere Richtlinien vorgegeben. Der bemerkenswerteste Faktor in den Beziehungen zwischen China und Deutschland ist natürlich die wirtschaftliche Zusammenarbeit. Gegenseitiges Vertrauen auf politischer Ebene und umfassende, stabile Beziehungen waren ein Schlüsselmerkmal der Beziehungen zwischen China und Deutschland in den letzten Jahrzehnten. Dieses Jahr markiert das 10-jährige Jubiläum der umfassenden strategischen Partnerschaft. Das bedeutet, dass China und Deutschland einen Dialog und eine Zusammenarbeit in fast allen Bereichen aufgebaut haben.
Gegenseitiges Vertrauen, die richtige Wahrnehmung des anderen und die Definition der Rolle des anderen in der internationalen Welt werden eine sehr wichtige Grundlage für eine gesunde Beziehung zwischen China und Deutschland sein.
HINTERGRUND: Deutschland ist Teil des westlichen Blocks, der von den Vereinigten Staaten dominiert wird. Glauben Sie, dass Deutschland etwas Eigenes tun könnte, um die Beziehungen zu China zu verbessern oder aufrechtzuerhalten? Oder würde es in einen größeren Konflikt zwischen den beiden Großmächten, den USA und China, hineingezogen werden?
Prof. Cui: Wir verstehen die sogenannten transatlantischen Beziehungen, in die Deutschland eingebunden ist. Aber wir sehen auch, dass Deutschland in der Vergangenheit seine eigene Politik entwickelt hat, die, sagen wir mal, seinen eigenen Werten und Interessen entspricht. Wenn man sich die zugrundeliegenden treibenden Kräfte zwischen China und Deutschland ansieht, so basieren sie weitgehend auf den Interessen sowohl Chinas als auch Deutschlands. Deshalb haben China und Deutschland eine sehr gut integrierte wirtschaftliche Zusammenarbeit entwickelt. Und wenn man sich die deutsche Außenpolitik ansieht, scheint das europäische Integrationsprojekt wichtiger zu sein als die Verbindungen zu den USA. Wir können leicht erkennen, dass die EU und die USA unterschiedliche Machtsysteme, unterschiedliche Machtstrukturen und auch eine unterschiedliche Geschichte haben, einschließlich militärischer Konflikte. Die Weltanschauung, die Außenpolitik und das internationale Verhalten der EU unterscheiden sich erheblich von denen der USA. Wenn man sich den Irak-Krieg ansieht, ihre Positionen zum Klimawandel, ihre Positionen zum Nuklearabkommen mit dem Iran. Deshalb denke ich, dass die Außenpolitik der EU, die deutsche Außenpolitik, weitgehend ihren eigenen Prinzipien folgt. Deshalb legt China großen Wert auf bilaterale Beziehungen zwischen China und Deutschland sowie auf die Beziehungen zwischen China und Europa. Deshalb sagen wir, dass solange China und Europa zusammenarbeiten, es keinen neuen Kalten Krieg und keine Entkopplung der Weltwirtschaft geben wird.
Ich möchte zu diesem Thema noch einige Punkte hinzufügen. Ich verstehe, dass jedes Land, einschließlich China und Deutschland, eigene Ausgangspunkte für außenpolitische Entscheidungen hat. Aber ich möchte sagen, dass es auf die Umgebung ankommt, in der wir uns befinden, insbesondere im Kontext der internationalen Ordnung. In den letzten zehn Jahren, wie wir sehen können, haben pro-transatlantische Beziehungen eine wichtige Rolle in der deutschen Außenpolitik gespielt. Aber es war auch weniger der Fall, besonders während der Trump-Administration.
Wir erinnern uns noch daran, dass es viele Spannungen zwischen der Regierung von Kanzlerin Merkel und der Trump-Administration zu dieser Zeit gab. Und wenn ich jetzt sage, dass es eine neue Veränderung in der amerikanischen Politik gibt, denke ich nicht, dass die deutsche Regierung etwas Ähnliches wie 2016 noch einmal erleben möchte. Dann würde die Frage nach einer stärkeren strategischen Autonomie für Deutschland aufkommen.
Dabei verstehe ich, dass die sogenannte strategische Autonomie in Deutschland nicht so populär ist wie in Frankreich oder einigen anderen europäischen Ländern. Aber ich denke, es könnte ein neuer Ausgangspunkt für die deutsche Regierung und deutsche Politiker sein, darüber nachzudenken, was die wahren Interessen Deutschlands, der deutschen Wirtschaft, der deutschen Politik und der deutschen Interessen im Ausland sind. In dieser Hinsicht denke ich, dass es eine neue Herausforderung für die deutsche Außenpolitik sein könnte, wirklich zuverlässige Partner in der Welt zu finden.
HINTERGRUND: Nicht nur Deutschland, sondern die ganze Welt scheint vor großen Herausforderungen zu stehen.
Dr. Zhang: Es geht darum, wie wir die internationale Ordnung nach dem Kalten Krieg definieren können. Es wird gesagt, dass es nur eine Supermacht gibt. Diese Supermacht sind natürlich die Vereinigten Staaten. Und doch sehen wir, dass eine Vielzahl von Entwicklungen zunehmend die Weltordnung erschüttern. Es gibt aufstrebende Märkte wie China, Indien oder einige andere. Ich denke, es wird immer klarer, dass die internationale Ordnung, die nach dem Kalten Krieg existierte, zunehmend durch eine multipolare Weltordnung ersetzt wird.
HINTERGRUND: Glauben Sie, dass der Krieg in der Ukraine einen Wendepunkt in diesem Übergang zu einer multipolaren Weltordnung darstellt? Oder ist er eher ein Symptom?
Prof. Cui: Ich sehe die Ukraine-Krise nur als Symptom des Übergangs, nicht als Wendepunkt. Ich habe die Debatten in Europa und den USA beobachtet. Wenn sie über die Entwicklung hin zu multipolaren Systemen sprechen, liegt das daran, dass viele Länder des globalen Südens, einschließlich China – China ist definitiv ein Mitglied des globalen Südens – nicht die Position Europas und der USA zur Ukraine-Krise teilen. Ich denke, dies hat die westlichen Länder aufgeweckt, da sie sehen, dass die Welt tatsächlich in die Richtung einer multipolaren Weltordnung geht. Aber meiner Beobachtung nach liegt dies nicht an der Ukraine-Krise, sondern an den internen Kräften, die das Weltsystem intern und extern antreiben.
HINTERGRUND: Seit wann läuft dieser Übergangsprozess?
Dr. Jin: Wir sprechen von einem Trend, der in den 1990er Jahren begann, aber mit der Finanzkrise 2008, einer globalen Finanzkrise, beschleunigt wurde. Plötzlich erschienen Mächte wie China im globalen System. Das ist eine Seite der Entwicklung. Eine andere Seite der Entwicklung ist die Veränderung in den USA. Wir sehen, dass ihre Fähigkeit, der Welt Güter zu liefern, abnimmt. Wir sehen, dass sie nicht mehr in der Lage sind, das System oder die Ordnung aufrechtzuerhalten, die nach dem Zweiten Weltkrieg aufgebaut wurden. Es gibt einen Rückzug aus multilateralen Systemen, besonders unter der Trump-Administration war dies der Fall. Aber die grundlegenden Faktoren, die dazu führen, dass die USA an Einfluss als ehemalige hegemoniale Macht verlieren, liegen in internen Veränderungen. Wenn man sich die polarisierten politischen Systeme ansieht, wenn man sich die zunehmend konservativen, nach innen gerichteten Politiken ansieht, wird ein langfristiger Trend deutlich.
HINTERGRUND: Welche Rolle spielt das Projekt „Neue Seidenstraße“ in all dem? Hat es auch geopolitische Bedeutung?
Dr. Zhang: Die Neue Seidenstraße, wie Sie die BRI (Belt and Road Initiative) nennen, entwickelt sich seit 10 Jahren. Dieses Jahr hat gezeigt, dass die BRI eine globale Kooperationsinitiative ist. Einerseits hat sie zur Globalisierung und zum Wohlstand beigetragen. Prognosen zufolge könnte die Globalisierung und das globale Wirtschaftswachstum bis 2025 etwa 1,6 Billionen US-Dollar bringen, was 1,3 % des globalen BIP entspricht. Dies bedeutet, dass die BRI-Initiative zur Entwicklung zahlreicher Länder beiträgt, indem sie deren Investitionslücken verringert und Infrastrukturen aufbaut. Die BRI wird wahrscheinlich auch die digitale und grüne Transformation fördern. Und die BRI gewährt grüne Kredite für bestimmte Technologien und Fortschritte im Kampf gegen den Klimawandel.
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Aber natürlich, um auf Ihre Frage zurückzukommen, spielt die BRI auch eine geopolitische Rolle. Lassen Sie mich dies am Beispiel des Nahen Ostens verdeutlichen. Wie wir wissen, war der Nahe Osten früher eine Quelle der Spannung, insbesondere im Machtspiel, zuerst zwischen einigen europäischen Ländern und dann zwischen der Sowjetunion, den USA und einigen anderen. Öl und Gas haben immer eine entscheidende Rolle gespielt.
Und wir wissen, dass China immer noch viel Öl und Gas aus dem Nahen Osten importiert, was auch für die BRI von großer Bedeutung ist. Es ist daher nicht überraschend, dass China an stabilen Bedingungen in dieser Region interessiert ist. Aus diesem Grund hat China kürzlich versucht, eine aktivere Rolle in der globalen Sicherheits-Governance zu spielen, seine eigene globale Sicherheitsinitiative veröffentlicht und versucht, sein Sicherheitskonzept in die Praxis umzusetzen. Wir glauben, dass wir umfassende und gemeinsame Sicherheit auf kooperative Weise erreichen und einen nachhaltigen Prozess aufrechterhalten sollten. Die Rolle des Vermittlers zwischen Saudi-Arabien und Iran kann meiner Meinung nach als ein erfolgreiches Beispiel für das chinesische Sicherheitskonzept angesehen werden.