Der erfolgreichste Terrorist des 20. Jahrhunderts
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Von URI AVNERY, 17. Juli 2012 –
Zwei ehemalige Premierminister sorgten in den vergangenen Tagen in Israel für Schlagzeilen – Yitzhak Shamir und Ehud Olmert. Sie verkörpern zwei der vielen Gesichter des Landes.
Sie werfen auch eine allgemeine Frage auf: Was ist vorzuziehen – ein ehrlicher Fanatiker oder ein korrupter Pragmatiker?
Yitzhak Shamir verstarb vor zwei Wochen mit 97 Jahren und wurde in Jerusalem beerdigt. Er vegetierte seit Jahren in einem Zustand der Demenz. Die meisten Israelis wussten nicht, dass er überhaupt noch lebt.
Als ich ihn im Fernsehen als „den erfolgreichsten Terroristen des 20. Jahrhunderts“ beschrieb, zeigte sich der anwesende Korrespondent überrascht. Aber es war eine zutreffende Beschreibung.
Shamir war kein großer Denker. In seiner Jugend schloss er sich in Polen der rechten zionistischen Jugendorganisation von Vladimir Jabotinsky an. Und seitdem ist er von seiner Weltsicht nicht einen Zentimeter abgerückt. In dieser Hinsicht war er absolut unbeweglich. Er wollte einen jüdischen Staat, der sich über das gesamte historische Gebiet (Palästinas) erstreckt. Punkt. Kein Geschwätz über Araber und dergleichen.
Wir traten beide zur selben Zeit der Untergrundorganisation Irgun bei. (1) Ich war zu jung, um direkt an den terroristischen Aktionen teilzunehmen. Er, acht Jahre lang mein Anführer, führte sie aus. Zu jener Zeit tötete die Irgun dutzende arabische Männer, Frauen und Kinder bei Angriffen auf arabische Märkte, in Vergeltung für arabische Angriffe auf jüdische Zivilisten. Wir trotzten der von der zionistischen Führung befohlenen „Selbstbeschränkung“ („self-restrainment“).
Im Sommer 1940 spaltete sich die Irgun. Einer ihrer Kommandeure, Avraham Stern, gründete die den Briten unter dem Namen „Stern-Bande“ bekannte Organisation. (Schließlich wurde sie LEHI benannt, eine Abkürzung für „Kämpfer für die Freiheit Israels“).
Stern war eine logisch denkende Person. Das Ziel war es, einen jüdischen Staat in ganz Palästina zu gründen. Der Feind war das britische Imperium. Der Feind meines Feindes ist mein Freund. Daher müssten wir mit den Nazis kooperieren. Er schickte verschiedene Abgesandte los, die die Deutschen kontaktieren sollten. Einige wurden von den Briten abgefangen, andere wurden von den Nazis ignoriert.
Ich konnte diese grausame Logik nicht akzeptieren und schloss mich nicht an, obwohl die Versuchung da war. Shamir gab ihr allerdings nach.
Er wurde gefasst und eingesperrt (anders als Stern, der gefasst und an Ort und Stelle erschossen wurde). Innerhalb kurzer Zeit waren praktisch alle Mitglieder der Organisation getötet oder inhaftiert. Die Gruppe hörte auf, zu existieren – bis Shamir und ein Kamerad, Eliahu Giladi, ausbrachen. Die zwei taten sich zusammen und erfüllten LEHI wieder mit neuem Leben. Aber eines Tages erschoss Shamir Giladi.
Giladi wurde nicht des Verrats bezichtigt, sondern, im Gegenteil, des exzessiven Eifers. Er schmiedete Pläne für revolutionäre Aktionen, wie beispielsweise die Ermordung von (Israels erstem Premierminister) David Ben-Gurion und der gesamten zionistischen Führungsriege. Shamir entschied, dass die abenteuerliche Natur Giladis die Organisation gefährdet und er daher aus dem Weg geräumt werden muss. Später nannte Shamir seine Tochter Gilada.
Viele Jahre später fragte ich in, welche historische Persönlichkeit er am meisten bewundern würde. Er antwortete ohne zu Zögern: Lenin. Mir war klar, dass er Lenin bewunderte, weil dieser rücksichtslos nach der Maxime „der Zweck heiligt die Mittel“ handelte.
Shamir war einer der drei Führer der LEHI. Er war verantwortlich für Operationen und Organisation, und baute minutiös eine absichtlich klein gehaltene Gruppe ausgewählter Individuen auf, die unglaublich gewagte Aktionen durchführte. Er selbst plante jede einzelne Operation bis ins kleinste Detail. Die berühmteste war das Attentat in Kairo auf Lord Moyne, dem ranghöchsten britischen Funktionsträger im Nahen Osten.
Als die Briten Tel Aviv abriegelten und von Haus zu Haus gingen, wurde Shamir wieder verhaftet. Er war zwar gut verkleidet, konnte aber nicht sein offensichtlichstes Kennzeichen verbergen: Er war sehr klein, fast schon ein Zwerg, mit einem großen Kopf. Die Soldaten waren angewiesen, alle Männer unterhalb einer gewissen Größe zu verhaften. Dieses mal wurde er in ein Gefangenenlager nach Afrika gebracht, aus dem er pflichtgemäß ausbrach. Er erreichte das damals französische Dschibuti und wurde mit einem französischen Kriegsschiff nach Paris gebracht, wo er bis zur Gründung Israels blieb. LEHI wuchs nie auf mehr als einige hundert Mitglieder an. Dennoch spielte die Organisation eine wichtige Rolle dabei, die Briten aus dem Land zu treiben.
In Israel verschwand Shamir von der Bildfläche. Er arbeitete jahrelang für den Mossad. Es gab Gerüchte, seine Spezialität sei das Verschicken von Briefbomben. Als er wieder auftauchte, trat er der Partei seines einstigen Konkurrenten, Menachem Begin, bei. Er wurde zum Vorsitzenden des israelischen Parlaments, der Knesset, ernannt. Einmal entschied ich mich, eine kleine Demonstration in der Knesset abzuhalten. Unter meiner Jacke trug ich ein T-Shirt mit der Aufschrift „Frieden ist besser als ein Groß-Israel“. Während der Plenarsitzung zog ich meine Jacke aus. Nach einigen Minuten des Schocks bat mich ein Amtsdiener höflich, den Vorsitzenden in seinem Büro aufzusuchen.
Shamir empfing mich mit einem großen Lächeln und sagte: „Uri, wo wären wir wenn alle Abgeordneten so etwas machen würden? Jetzt, wo Du deinen Standpunkt klar gemacht hast, könntest du bitte deine Jacke wieder anziehen?“ Was ich natürlich tat. Als Begin Frieden mit Ägypten schloss, und selbst ich für ihn stimmte, enthielt sich Shamir seiner Stimme. Als Begin nach dem ersten Libanon-Krieg mit den Worten „ich kann nicht weiter machen“ zurücktrat, übernahm Shamir seinen Posten. Als Premierminister war seine herausragendste Leistung die, nichts zu tun, außer – still und unauffällig – Siedlungen zu errichten.
Unter dem Druck der Amerikaner nahm er an der Madrider Friedenskonferenz teil, entschlossen, sich nicht einen Zentimeter zu bewegen. Wie er später bemerkte, war er bereit mit den Arabern bis in alle Ewigkeit zu verhandeln. Er träumte nicht von einem Friedensschluss, der die Ziehung klarer (Staats-)Grenzen zur Folge gehabt und somit den Weg für ein Groß-Israel versperrt hätte. Seine Ideologie lässt sich in seinem berühmtesten Ausspruch zusammenfassen, der auf das alte Sprichwort anspielte, die Araber wollten die Juden ins Meer treiben: „Die Araber sind dieselben Araber und das Meer ist dasselbe Meer.“ Eine weitere berühmte Aussage: „Es ist zulässig, für das Vaterland zu lügen.“
Bemerkenswerterweise übte sich dieser Mann, der sich (wie ich) der Irgun angeschlossen hatte, um gegen die „Selbstbeschränkung“ zu protestieren, beispielhaft in Selbstbeschränkung, als Saddam Hussein während des Golfkriegs Raketen auf Israel regnen ließ. Shamir war einverstanden damit, die Amerikaner den Job erledigen zu lassen. Seine andere große Leistung war die, Juden davon abzuhalten, die USA zu erreichen. Als die sowjetische Führung den Juden erlaubte zu emigrieren, wollten fast alle von ihnen geradewegs in die USA auswandern. Shamit überzeugte das Weiße Haus davon, die Toren zu verschließen, und somit wurden mehr als eine Million russischer Juden genötigt, nach Israel zu gehen (wo sie jetzt die Reihen der extremen Rechten auffüllen).
Für eine kurze Zeit war er der Mentor des jungen (und gegenwärtigen Premierministers) Binyamin Netanyahu, doch dann begann er ihn zu verabscheuen. Nachdem Netanyahu ein kleines taktisches Zugeständnis an die Araber machte, nannte er ihn einen „Engel der Zerstörung“. Vermutlich war er auch von Netanyahus Neigung zum Luxus abgestoßen. Wenn er nicht gerade mit dem Lügen für das Vaterland beschäftigt war, war Shamir ein stocksteifer Mann, der in äußerster Bescheidenheit lebte. Niemals gab es den leisesten Hinweis auf Korruption. Was uns direkt zu Ehud Olmert führt. Es war einmal ein Bildungsminister, Zalman Aran, der für seinen trockenen Humor bekannt war. Ein Parteifunktionär kam einmal zu ihm und fragte : „Ziama, du kannst mir gratulieren. Ich wurde freigesprochen!“. „Seltsam,“ antwortete Aran, „ich wurde noch nie freigesprochen!“
Olmert wurde schon viele male freigesprochen. Während seiner gesamten Karriere tanzte er von einem Freispruch zum nächsten. Diese Woche geschah es wieder. Nach einem langen Verfahren, in dem er wegen fünf verschiedener Korruptionsvergehen angeklagt war, wurde er in vier Fällen freigesprochen. Einer betraf seine Angewohnheit, sich von verschiedenen wohltätigen Organisationen für Vorträge in den USA einladen zu lassen, und sie alle jeweils für ein und dasselbe Erste-Klasse-Ticket bezahlen zu lassen (und den Überschuss für private Ausflüge seiner Familie zu benutzen). Weiterer Anklagepunkt: Gegenüber dem staatlichen Rechnungsprüfer veranschlagte er den Wert seiner Schreibstift-Sammlung auf nur ein Zehntel ihres tatsächlichen Preises. Der Gerichtshof entschied auf Freispruch aufgrund mangelnder Beweise in allen Fällen – bis auf einen: Als Industrieminister bevorzugte er Kunden eines engen Freundes, die ihre Erkenntlichkeit zeigten, indem sie große Summen Bargeld in seinem Tresor deponierten. Olmert feierte seinen partiellen Freispruch als großen Sieg.
Die Medien – dieselben Medien, die zu Beginn seine Anklage zelebrierten – nehmen jetzt an seiner Siegesfeier teil. Er wartet noch immer auf den Ausgang eines noch größeren Verfahrens. Die Anklage dieses Mal: Die Annahme von Bestechungsgeldern für ein großes, millionenschweres architektonisches Monstrum im Zentrum Jerusalems zu seiner Zeit als Bürgermeister der Stadt. Jeder erwartet wie üblich einen Freispruch. Eine der Anschuldigungen der Medien gegenüber dem Generalstaatsanwalt war unter anderem die, dass er als lediglich ziviler Bediensteter einen amtierenden Premierminister mittels erfundener Anklagen zu Fall brachte.
Schlimmer noch, hätte er dies ausgerechnet dann getan, als Olmert dabei war, mit den Palästinensern Frieden zu schließen. In den Jahren seiner Zeit als Premierminister, in der er zwei schmutzige Kriege lostrat (den zweiten Libanon-Krieg und Operation „Cast Lead“), hatte er genügend Zeit, um Frieden zu schließen. Er verfasste tatsächlich einen Friedensplan – aber nur am Vorabend seines erwarteten politischen Niedergangs. Mit Friedensstiftern wie diesen, wer braucht da noch Kriegstreiber? Olmert deutete bereits an, er wolle nach seinem nächsten Freispruch in die Politik zurückkehren.
Shamir, der tote ehrliche Fanatiker, hat viele Anhänger. Olmert, der lebende korrupte Pragmatiker, hat dagegen nur sehr wenige. Netanyahu, ihr gegenwärtiger Nachfolger, verfügt über die Mängel von allen beiden und die Tugenden von keinen von beiden.
Übersetzung: Hintergrund
Uri Avnery ist ein israelischer Schriftsteller und Begründer der Friedensbewegung Gush Shalom. Als Jugendlicher war er Mitglied der Irgun. Er gehörte von 1965-74 und 1979-81 der Knesset an.
Anmerkungen
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(1) Aus Wikipedia: „Die Irgun war eine von 1931 bis 1948 bestehende terroristische zionistische Untergrundorganisation in Palästina vor der israelischen Staatsgründung, die der Weltunion der Zionistischen Revisionisten von Wladimir Jabotinsky nahe stand, welcher auch Oberkommandierender von 1937 bis 1940 war. Die Gruppe führte Anschläge gegen die britische Mandatsmacht und gegen die Araber durch.“
Im Original erschienen der Artikel am 14. Juli 2012 bei Information Clearing House unter dem Titel Two Faces – The Most Successful Terrorist Of The 20th Century.