Weltpolitik

Die Dämonisierung des Fly-in: In Palästina willkommen, in Israel nicht

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Von LES LEVIDOW, 22. Juni 2011 –

Die Initiative „Welcome to Palestine” hat das Ziel, Israel wegen seiner Weigerung, ausländischen Besuchern die Einreise nach Palästina zu erlauben, herauszufordern. Ausländische Besucher dürfen Palästina nicht besuchen, es sei denn, sie geben sich als Touristen oder christliche Pilger aus. Selbst Gefängnisinsassen dürfen Besucher empfangen, den Insassen des israelischen Gefängnisses namens „West Bank“ dagegen wird es verwehrt, ihnen wohlgesonnenen Besuch zu bekommen.  

Um gegen diese Einreisebeschränkung anzugehen, planten mehrere Hundert von uns, sich am 8. Juli 2011 auf dem Flughafen Ben Gurion zu einer Aktionswoche zu treffen. (1) Wir wollten offen erklären, dass wir Bethlehem besuchen wollten und im dortigen Al-Rowwad Kulturzentrum zu Gast sein würden. Diese Initiative wurde unter dem Begriff „Fly-in” bekannt. Einige Massenmedia nannten es die “Flytille”, in Analogie zur Gaza-Flottille, die zur gleichen Zeit seitens Griechenland blockiert wurde. Allerdings war unsere Aktion schon seit Monaten geplant gewesen.    

Hooligans abblocken?

Kurz vor dem 8. Juli denunzierte uns der israelische Premierminister Benjamin Netanyahu als „Provokateure, die stören und auf kriminelle Weise schaden“ wollten. (2)   „Unser Geheimdienst informierte uns, dass einige dieser Leute es auf Konfrontation anlegen“, sagte er.(3)  Er inspizierte persönlich die Hafteinrichtungen, wo wir festgehalten werden sollten. Der Minister für Innere Sicherheit Yitzhak Aharomowitz warnte, „Wir werden diese Hooligans von der Einreise abhalten.“ (4)  

Vorbeugende Maßnahmen gegen uns wurden ergriffen. Israel schickte den Fluggesellschaften Flugverbotslisten mit den Namen jener von uns, die am Tage zuvor eine E-Mail erhalten hatten, in welchen ihnen untersagt wurde, ihre gebuchten Flugreisen z.B. von Paris, Brüssel und Genf aus aufzunehmen. Am 8. Juli wurde an diesen Flughäfen dagegen protestiert. Diese Proteste wurden gefilmt und das Material bei YouTube unter dem Titel „Israeli checkpoint“  („Israelischer Grenzkontrollpunkt“) veröffentlicht. (5)  

Luton-Airport, 12. Juli 2011: Begrüßung der britischen Rückkehrer aus dem israelischen Givon-Gefängnis.  Die Frauen hatten auf ihre t-shirts geschrieben “Gefangene der israelischen Demokratie”. Foto: Alan Wheatley

Angesichts dieser Vorgänge erwarteten auch wir Probleme, als wir am Freitagmorgen, dem 8. Juli 2011, am Flughafen Luton bei London eintrafen. Glücklicherweise konnten wir ganz normal zu unserem Easyjet-Flug einchecken (bis auf eine Person, die vom israelischen Radio interviewt worden war). Als wir jedoch zum Passagierbereich in der oberen Etage weitergingen, wurden einige von uns von einem britischen Beamten angehalten – wahrscheinlich vom MI5, dem britische Inlandsgeheimdienst. Er ließ sich unsere Boardingpässe zeigen, offenbar um zu sehen, ob wir nach Tel Aviv fliegen wollten. Dann fragte er, wo genau wir von dort aus hinwollten und ob wir an einer Demonstration teilnehmen wollten. Als eine Frau das verneinte, wurde sie der Lüge beschuldigt. Die britische Regierung funktioniert also den Flughafen Luton zu einem israelischen Grenzkontrollpunkt um und macht damit die Paranoia und Lügen der israelischen Regierung zur Grundlage des Handelns britischer Staatsbeamter.

Wir landeten am Flughafen Ben Gurion, wo wir bei der Passkontrolle wahrheitsgemäß antworteten, dass wir nach Bethlehem unterwegs waren. Daraufhin wurden wir alle vierzehn festgenommen, aber zu keinem Zeitpunkt von israelischen Behörden verhört.(6)  Zuvor aus anderen Ländern eingetroffene Teilnehmer hatten ähnliche Erfahrungen gemacht. Nur wenige von ihnen wurden tatsächlich verhört. Wir gaben freimütig unser Reiseziel an, um das Einreiseverbot in Frage zu stellen. Die Grenzpolizei dagegen äußerten sich den Massenmedien gegenüber, sie hätten „die meisten der Aktivisten identifiziert und den Nachmittag über verhört“, so als hätten wir es ihnen schwer gemacht, von ihnen ausfindig gemacht zu werden. (7)

Während wir darauf warteten, vom Flughafen ins Gefängnis gebracht zu werden, mussten wir uns zu mehr als 60 Personen in einem Büro der Grenzpolizei aufhalten. Die Beamten schienen nicht mit uns gerechnet zu haben, einige wirkten peinlich berührt, weil sie uns festhalten mussten. Nach einigen Stunden stürmten 21 Soldaten und Polizisten das Büro, ergriffen einige der Aktivisten und zerrten sie die Treppe hinunter in einen Polizeibus, wo ihnen Handschellen angelegt wurden.    

Der Rest von uns wurde gefilmt, vielleicht in der Hoffnung auf aggressive Reaktionen darauf. Aber wir drängten uns nur schützend aneinander. Wir haben wohl kein besonders überzeugendes Hooliganbild abgegeben. Mehr als die Hälfte von uns waren Frauen, und gut ein Drittel von uns war älter als 50 Jahre. Wir leisteten keinen Widerstand, während wir nach unten zu den Polizeifahrzeugen gingen, die uns in Gefängnis Givon brachten. Dort war ein Seitentrakt für uns vorgesehen, Frauen und Männer getrennt. (8)   

Bis zum Schluss wurde uns keine offizielle Erklärung dafür gegeben, warum wir festgenommen worden waren.  Obwohl wir 30km vom Flughafen entfernt inhaftiert wurden, waren wir offiziell nicht in Israel eingereist, befanden uns also noch im „Transitbereich“, wie wir aus zweiter Hand vom britischen Botschafter erfuhren. Obwohl Israel formelle Regeln für illegal Einreisende hat, befanden wir uns in „einer anderen Dimension“, wie sich der Gefängnischef von Givon ausdrückte.  

Dämonisierung von Europäern arabischer Herkunft

Nach unserer Inhaftierung versuchten die israelischen Behörden ihre ursprüngliche Geschichte von einer Bedrohung durch die gewaltbereiten Fly-In-Teilnehmer aufrecht zu erhalten.

Am Tag nach der Inhaftierung kamen einige Grenzpolizisten zu uns, und wandten sich zunächst an mich mit einem Angebot: „Sie dürfen nach Bethlehem reisen, aus humanitären Gründen, wenn Sie ein Dokument unterzeichnen, dass Sie sich an keinem Ort aufhalten werden, wo es zu Konflikten mit der Armee kommt.“ Ich entgegnete: „Aber das könnte doch jederzeit und an jedem Ort passieren?“ Sie erklärten, dass sich die Beschränkung auf Orte wie Bi’lin, Silwan, Jayous usw. bezog – also auf Unruheherde an der Grenzmauer, der sogenannten Apartheid Wall. Sie erklärten auch, dass dieses Angebot nur für jene von uns galt, die älter als 55 Jahre waren.

Wir diskutierten das unter uns älteren Männern und waren bereit, diese Reisebeschränkungen zu akzeptieren – wenn das Angebot auf alle anderen Teilnehmer erweitert würde, ungeachtet ihres Alters. Die jüngeren Männer unterstützten das. Als wir den Grenzpolizisten unseren Gegenvorschlag machten, erhielten wir keine verbale Antwort.

Warum die Altersbegrenzung nach unten bei dem Vorschlag der Israelis? Das Alter war nur eine Ausrede. Tatsächlich ging es um die jüngeren Franzosen und Belgier, die zwischen 30 und 50 Jahre alt und meist nordafrikanisch-arabischer Herkunft waren. Nur einer der Nordafrikaner war älter. Die Grenzpolizei versuchte also, die älteren Männer für eine politische Absicht anzunutzen. Wenn wir ihr Angebot angenommen hätten, wären die ethnischen Araber isoliert und stigmatisiert worden. Generell kann man sagen, dass Israel Jugend weitgehend mit Gefährlichkeit identifiziert. Das zeigt sich z.B. daran, dass es männlichen Arabern 2009 nur erlaubt war, während des Ramadan und den Wochen danach in der Al-Aqsa-Moschee zu beten, wenn sie jünger als 15 oder älter als 50 waren.  

Das israelische Angebot wurde mehrmals wiederholt. Während unseres viertägigen Aufenthalts dort im Gefängnis wurde es auch an Einzelne von uns herangetragen, und dann noch einmal, als wir acht Briten und US-Amerikaner am Dienstag, dem 12. Juli, zum Flughafen Ben Gurion zurück gebracht wurden. Eine Stunde vor unserem Flug nach London, erneuerte die Grenzpolizei ihr Angebot. Einer sagte sogar: „Wir können Sie noch heute Abend nach Jerusalem bringen“. Vielleicht war das scherzhaft gemeint.

Bei meiner letzten Gelegenheit, die Begründung der Grenzpolizei zu hinterfragen, entspann sich folgendes Gespräch:
Frage: Warum gilt dieses Angebot nur für die Älteren?
Antwort: Zuerst haben wir das Angebot nur Ihnen gemacht.
Frage: Warum ausgerechnet mir?
Antwort: Weil wir wissen, dass Sie okay sind, dass Sie nicht gewalttätig werden würden.
Frage: Und warum haben Sie nicht zugestimmt, Ihr Angebot auf alle von uns auszuweiten?
Antwort: Weil unser Geheimdienst über die anderen über Informationen verfügt.  
Frage: Was für Informationen denn?
Antwort: Verbindungen zum Terrorismus.
Die ursprünglich postulierte Bedrohung wurde also erhöht. Erst waren wir Provokateure und Hooligans, nun sogar Terroristen. Wenn die Israelis tatsächlich solche Informationen bekommen hatten, warum hatten sie dann nicht die Fluganbieter vor den „Terroristen“ an Bord gewarnt? (9)  

Heimliches Zusammenwirken mit der Okkupation

Gewaltfreiheit war ein Grundprinzip des „Willkommen in Palästina“-Fly-Ins. (10) Internationale Solidaritätsaktivisten begeben sich oft als Friedenswächter unter Palästinenser, die ihre Häuser und ihre Olivenernte gegen den Druck der illegalen Siedler schützen wollen. Manchmal hilft die Anwesenheit von Ausländern, terroristische Aktivitäten von Seiten der IDF (Israel Defense Forces ) und der Siedler abzuwenden. Wie also kommen israelische Behörden darauf, die Teilnehmer des Fly-Ins als Hooligans oder gar Terroristen zu bezeichnen? Genau wie seine Vorgänger, die europäischen Kolonialisten, projiziert der zionistische Staat seinen eigenen Terrorismus auf die Kolonisierten, um seine eigenen Verbrechen als Selbsverteidigung gegen den „arabischen Terrorismus“ darzustellen. (11)     

Leider findet diese Strategie ideologische Resonanz  in den EU-Gesetzen, die Solidarität mit Terrorismus verbinden. Laut EU-Gesetz beinhaltet „Terrorismus” vage formuliert auch Vergehen, die zum Ziel haben, „eine Regierung auf ungebührliche Weise von einer Handlung abzuhalten“, die sie irgendwo in der Welt zu begehen gedenkt.(12)  Auf dieser Basis deklarierte die EU eine ganze Reihe von Organisationen als „Terroristen“, z.B. die Hamas, und rechtfertigt sogar die Bestrafung eines jeden, der Verbindungen zu solchen „Terroristen“ hat, um auf diese Weise europäische Solidarität mit Widerstandsbewegungen im Ausland zu verhindern. Insbesondere können Bankkonten in Europa verweigert oder eingefroren werden. In Großbritannien ist das dem Viva Palestina-Konvoi widerfahren und auch verschiedenen muslimischen Wohltätigkeitsorganisationen, die in Palästina Hilfe leisten.

Im Gegensatz dazu wird die genannte vage Terrorismus-Definition seitens der EU weder in Wort noch Tat angewandt, wenn es sich um Verbündete der EU handelt. Wenn z.B. Präsident Sarkozy im September 2011 eine Konferenz über Terrorismusopfer sponsert. Die Organisatoren konzentrieren sich dabei auf Angriffe auf Israel, verschweigen aber israelische Angriffe auf Palästinenser. (13)  

Insofern ermutigt das politisch-juristische System der EU Israel dabei, sich als unschuldiges Opfer und die eigenen Kriegsverbrechen als Selbstverteidigung darzustellen. Etwas subtiler war das der Fall, als Israel im Gefängnis Givon versuchte, Europäer arabischer Herkunft von uns anderen europäischen Delegierten zu trennen, aber dieses Vorgehen passte nur allzu gut zur Anti-Terror-Politik der EU. Das europäische Fly-In wurde zum Angriffsziel des rassistischen Apartheid-Systems in Israel und seiner Dämonisierung von Widerstand.

Wir können wohl davon ausgehen, dass das versteckte Zusammenwirken von EU und Israel noch vertieft werden wird, um die israelische Okkupation von Palästina gegen die internationale Solidaritätsbewegung zu verteidigen. Wie kann man dieser Vertiefung am besten begegnen?



Der Autor:

Les Levidow wendet sich seit den 1980er Jahren gegen die israelische Okkupation Palästinas, indem er an verschiedenen, von Großbritannien aus durchgeführten Kampagnen teilgenommen hat. Dazu gehörte u.a.: die Petition zur Rücknahme des irsraelischen Ruckkehrgesetzes (Ende der 1980er), die Palestine Solidarity Campaign, Jews Against Zionism (JAZ),(14) Jews for Boycotting Israel Goods (J-BIG), und das British Committee for the Universities of Palestine (BRICUP).  Er nahm auch an der Campaign Against Criminalising Communities (CAMPACC), www.campacc.org.uk, teil, welche sich gegen die “Anti-Terror”-Politk in der EU und Großbritannien wendet. Les Levidow wurde in New York geboren und ist sowohl britischer als auch US-Bürger. 

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Anmerkungen

(1)   www.palestinejn.org
(2)  http://www.jpost.com/DiplomacyAndPolitics/Article.aspx?id=227768
(3) http://mondoweiss.net/2011/07/netanyahu-effort-to-travel-to-the-occupied-territories-through-ben-gurion-airport-is-an-effort-to-undermine-israel’s-right-to-exist
(4)  http://mondoweiss.net/2011/07/netanyahu-effort-to-travel-to-the-occupied-territories-through-ben-gurion-airport-is-an-effort-to-undermine-israel’s-right-to-exist
(5)  http://www.youtube.com/watch?v=t4IFBVMWLLk, http://www.youtube.com/watch?v=lhny5X977Bo, http://www.youtube.com/watch?v=kExgVOQo8Dc
(6) Ein weiterer britischer Teilnehmer durfte durch die Passkontrolle, erhielt aber dann per Telefon die Information über unsere Festnahme, versuchte zu protestieren und wurde dann ebenfalls verhaftet, um gemeinsam mit uns anderen eingesperrt zu werden.  
(7) http://www.haaretz.com/news/diplomacy-defense/65-pro-palestinian-fly-in-activists-transferred-to-detention-facilities-1.372215
(8) Weitere Erfahrungsberichte der Easyjet-Reisenden aus London gibt es unter www.scottishpsc.org.uk, und insbesondere aus Sicht der Frauen hier: http://agtottenham.blogspot.com/2011/07/released-from-israeli-jail.html
(9) Eine weitere Methode der Dämonisierung wurde von einer zionistischen Webseite angewandt. Dort behauptete man, die älteren Mitglieder der Delegation hätten “mit dem Faschismus geflirtet”, z.B. indem sie die Hamas oder die Hisbollah über die Palestine Solidarity Campaign unterstützten.
http://cifwatch.com/2011/07/10/guardian-airbrushes-extremist-links-of-british-flytilla-participants/
(10)  Mazin Qumsiyeh, Popular Resistance in Palestine, Pluto, 2010.
(11) Zionist Origins of the War on Terror, http://www.palint.org/article.php?articleid=25
(12)  http://www.statewatch.org/terrorlists/listsbground.html
(13) Alain Gresh, Un ‘congrès imposture’ sur le terrorisme, Le Monde diplomatique, 17 juillet 2011, http://blog.mondediplo.net/2011-07-16-Un-congres-imposture-sur-le-terrorisme
(14)  Speech on behalf of JAZ on Al Quds Day 2008, http://www.youtube.com/watch?v=Gqh-72Ilruk

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