Weltpolitik

Globalisierung und Migration

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Die Erben der Enterbten –

Von MATTHIAS RUDE, 22. Mai 2015 –

Eine Stadt aus Stein und Eisen. Eine erleuchtete Stadt, in der die Mülleimer von nie gesehenen, nicht einmal erträumten Resten überquellen – eine unerreichbare Stadt. So beschrieb Frantz Fanon in Die Verdammten dieser Erde (1961) die Sicht der Kolonisierten auf Europa. Über Afrika hingegen schrieb er: „Man wird dort irgendwo, irgendwie geboren. Man stirbt dort irgendwie, an irgendwas.“

„Der Anblick aneinander geketteter junger Schwarzer weckt in Afrika unweigerlich böse Erinnerungen; freilich sollten sie diesmal nicht mit Gewalt in den Westen verschleppt, sondern vielmehr an der Reise dorthin gehindert werden“, kommentierte die Neue Zürcher Zeitung (NZZ) im Jahr 2005 unter dem Titel „Die neuen Verdammten dieser Erde“ die Ereignisse vor den spanischen Exklaven Ceuta und Melilla in Marokko. In jenem Jahr brachte die Abschottung der EU eine neue Form der Migration hervor: Nachdem es unmöglich geworden war, heimlich über die Grenze zu gelangen, wagten Flüchtlinge den kollektiven offenen Grenzübertritt. Dabei wurde das Feuer auf sie eröffnet. Dass es beim verzweifelten Sturm auf die Zäune 16 Tote gab, habe die Öffentlichkeit weniger schockiert „als der unglaubliche Beschluss, die Migranten in die Wüste abzuführen und sie dort sterben zu lassen“, so die NZZ.(1)

Dass nichts dagegen unternommen wird, dass an den Außengrenzen Europas massenhaft Menschen sterben, geschieht aus politischem Kalkül. „Europas Politiker haben es so gewollt“, kommentierte Spiegel Online die neuerliche Flüchtlingskatastrophe mit über 300 Toten vor der Mittelmeerinsel Lampedusa im Februar dieses Jahres. Es handele sich um „eine erschreckende, menschenverachtende Logik“: Die EU nehme Tote hin, um Migranten auf dem Weg nach Europa abzuschrecken.(2) Diese Erfahrung hat auch ein 30-jähriger Schiffsoffizier aus Deutschland gemacht, der seit zwölf Jahren im Mittelmeer unterwegs ist, die ersten Jahre auf Frachtschiffen. Da er Probleme mit seinem Arbeitgeber fürchtet, will er anonym bleiben. Gegenüber Hintergrund berichtet er, dass es auf See kaum mehr möglich sei, Flüchtlinge legal aufzunehmen. „Verantwortlich ist der Kapitän des Schiffes, der mit Problemen mit den Behörden rechnen muss, wenn er Flüchtlinge aufnimmt, mit Kriminalisierung als ,Schlepper‘, mit Ermittlungen und langwierigen Untersuchungen. Er steht vor der Wahl, sie in einer Notsituation zu ,übersehen‘ oder sie irgendwie wieder loszuwerden, sprich, an Land zu schleusen oder über Bord zu werfen – bei Glück in Landnähe, oder aber mit Mordvorsatz. Sind die Flüchtlinge erst einmal an Bord, kosten sie Geld, und oft genug müssen die Flüchtlinge dann bezahlen oder alles abarbeiten.“

Neokolonialismus

Migration ist der „Normalfall in der Geschichte“(3): Arbeits- und Siedlungswanderungen, Flucht, Vertreibung und Deportation haben die Zusammensetzung von Bevölkerungen schon immer geprägt. Aber so wie etwa die politisch-territoriale Expansion Europas im Rahmen kolonialer Bestrebungen ihre Formen der Migration hervorbrachte, zeitigt die Globalisierung die ihren. Zunehmend konzentriert sich der Reichtum der Welt in den Händen einer kleiner werdenden Elite,(4) zum Jahresbeginn 2014 besaß ein Prozent der Weltbevölkerung fast die Hälfte des Weltvermögens, die 85 reichsten Menschen hatten so viel wie die ärmere Hälfte der Weltbevölkerung zusammen.(5) Gleichzeitig werden Millionen von Menschen geboren, die niemand je statistisch erfassen wird – sie leben und sterben „irgendwo, irgendwie“. Vor diesem Hintergrund müsse man die globale Migration sehen, wolle man ihre „Grammatik“ verstehen, so medico international. Für die Hilfs- und Menschenrechtsorganisation ist sie eine „Reaktion auf eine ausgrenzende Globalisierung, eine Fortsetzung jenes anti-kolonialen Widerstandes, den Fanon beschrieben und mitgestaltet hat: Eine Art ,Globalisierung von unten‘, die sich gegen den Ausschluss wendet, soziale Rechte geltend macht und deswegen längst zum Schauplatz militärisch hochgerüsteter Abwehrschlachten geworden ist, die das Bild von kolonialer Segregation wieder aufleben lassen.“(6) Dass der Vergleich nicht übertrieben ist, zeigt sich dadurch, dass die UNO angesichts der von transnationalen Konzernen betriebenen Aneignung landwirtschaftlicher Flächen in Entwicklungsländern warnt: „Ein Anstieg von Landgeschäften könnte eine Form von ,Neo-Kolonialismus‘ schaffen, mit armen Staaten, die für die reichen Nahrung produzieren, auf Kosten der eigenen hungernden Bevölkerung.“(7)

Nationale und internationale Unternehmen oder auch Regierungen versperren Menschen und ganzen Gemeinschaften immer öfter den Zugang zum Land, das sie bisher genutzt haben, und zerstören so ihre Lebensgrundlage.(8) Im Europa des 16. Jahrhunderts schuf eine ähnliche Enteignung nicht nur das Fundament, auf dem die kapitalistische Produktionsweise beruht – nämlich eine Masse von Besitzlosen, die nichts zu verkaufen haben außer ihrer Arbeitskraft –, sondern auch Migrationsbewegungen, etwa vom Land in die Städte. In Westafrika, wo heute aufgrund der Kreditauflagen und der vom IWF aufgezwungenen Strukturanpassungsprogramme von einer eigenständigen staatlichen Wirtschafts- und Sozialpolitik kaum mehr die Rede sein kann, führen die Privatisierungs- und Handelsdiktate der westlichen Geberländer trotz des vorhandenen natürlichen Reichtums an Ressourcen zu einer Verschlechterung der Lebensqualität bis hin zu jener Armut, die Menschen zur Emigration zwingt. Die ECOWAS-Staaten (Economic Community of West African States) etwa wurden dazu gedrängt, Exportrestriktionen und Subventionierungen des eigenen Agrarsektors aufzuheben und europäischen Unternehmen den Zugang zu ihren Märkten zu eröffnen. Diese werden nun mit Gütern aus dem selbst hoch subventionierten europäischen agrar-industriellen Komplex überschwemmt, wodurch Existenzen einheimischer Bauern zerstört werden.(9)

Einige der daraus resultierenden „Verdammten der Globalisierung“(10) kann man heute entlang des Mittelmeeres und an anderen Grenzen sehen. Durch die Freihandelsglobalisierung bilde sich, so medico, an der Peripherie eine Zwangsherrschaft heraus, deren Zweck „in der Verwaltung von Ausschussbevölkerungen und der Ausbeutung von Rohstoffen“ liege. Im Bau eines neuen eisernen Vorhangs zwischen denjenigen, die sich in den Zonen relativer Sicherheit befinden, und den Ausgegrenzten, die zu Landlosen und Vertriebenen gemacht worden sind, zeige sich die totalitäre Seite der Globalisierung; in den Ertrunkenen im Mittelmeer „die dunkle Konsequenz des europäischen Zusammenschlusses und eines Globalisierungsversprechens, das auf der radikalen Freiheit des Waren- und Güterverkehrs beruht“.(11)

Nur als Sklaven erwünscht

Seit den 1960er Jahren soll sich die Zahl der Migranten weltweit mehr als verdoppelt haben. Schätzungen gehen von 232 Millionen Menschen aus, die außerhalb ihres Geburtslandes leben – das sind über drei Prozent der Weltbevölkerung. 1990 gingen die Vereinten Nationen noch von 155 Millionen aus.(12) Nachziehende Familienangehörige von legalen Einwanderern oder Flüchtlingen gehören zur größten Gruppe innerhalb der Migrationsbewegungen, es folgen die Arbeitsmigranten, dann die Geflüchteten und schließlich irreguläre Zuwanderer, deren Zahl auf 10 bis 15 Prozent der weltweiten Migranten geschätzt wird. Die meisten Migranten halten sich in Europa (72 Millionen) und Asien (71 Millionen) auf. Das Land mit der höchsten Konzentration an Einwanderern sind die Vereinigten Arabischen Emirate (84 Prozent der Bevölkerung), was darauf zurückzuführen ist, dass seit Beginn der Ölförderung ein Zustrom von Arbeitsmigranten in die Golfstaaten eingesetzt hat.(13) Die Geldrücksendungen von Arbeitsmigranten haben sich übrigens zu einem Wirtschaftsfaktor von globalem Ausmaß entwickelt. Mindestens 350 Milliarden Euro haben Migranten aus aller Welt im Jahr 2014 in Entwicklungs- und Schwellenländer geschickt – das ist dreimal so viel wie die Summe der Entwicklungshilfe aller OECD-Länder.(14)

Die Masse der Zuwanderer verrichtet Tätigkeiten, die den Einheimischen zu schwer, zu schmutzig, zu gefährlich oder zu schlecht bezahlt sind. So hat die Arbeitsmigration Formen angenommen, bei denen der Übergang zum Menschenhandel fließend ist. „Arbeitsmigranten: Nur als Sklaven erwünscht“(15) titelt die taz, von einer „Geisterarmee aus Osteuropa“(16) spricht die Zeit. Die Rede ist von Arbeitern in der deutschen Fleischindustrie. Die Süddeutsche Zeitung schreibt: „Was sich in Schlachthöfen abspielt, ist für viele Kritiker mehr als Ausbeutung. Die Rede ist von Menschenhandel und organisierter Kriminalität.“(17)

Menschenhandel – auch zum Zweck der sexuellen Ausbeutung – ist „globaler Migrationstrend“.(18) Man geht davon aus, dass pro Jahr weltweit mindestens zwei Millionen Menschen auf den neuen Sklavenmärkten gehandelt werden.(19) Die Richtung der Handelsbewegungen gibt auch hier das Wohlstandsgefälle vor: In der Regel handelt es sich bei den Herkunftsländern um Entwicklungs- oder Schwellenländer. Viele Zwangsprostituierte in Westeuropa kommen aus dem ehemaligen Ostblock. Aufgrund der unsicheren Lebensbedingungen, die durch den politischen, wirtschaftlichen und sozialen Strukturwandel dort entstanden sind, erscheint eine Auswanderung in den Westen vielen attraktiv. Angesichts der Schwierigkeit, auf legalem Weg einzureisen, haben sich illegal operierende Organisationen entwickelt, die diese Dienstleistung in Aussicht stellen. Da besonders Frauen betroffen sind, ist mittlerweile – auch als Folge einer „Feminisierung der Armut“(20) – von einer „Feminisierung der Migration“(21) die Rede. An den Straßen Siziliens beispielsweise werden illegal eingewanderte Afrikanerinnen von ihren Schleppern gezwungen, sich zu prostituieren; „es hat sogar Kinder unter ihnen“, wird ein Einheimischer zitiert.(22)

Counting the Uncounted

Zwischen 2010 und 2013 haben beinahe 49 000 unbegleitete Kinder Asyl beantragt. Im letzten Jahr soll ein vierjähriges Mädchen alleine von Syrien in die Schweiz geflohen sein.(23) Auch im größten Migrationskorridor der Welt werden die Migranten jünger: Zwischen Oktober 2013 und Juni 2014 wurden an der mexikanischen Grenze zu den USA 57 000 Minderjährige festgenommen. Auf ihrer Reise in den Norden erleben sie oft, wovor sie eigentlich geflohen sind: Fast 60 Prozent der Migranten, die von „Ärzte ohne Grenzen“ in Mexiko behandelt werden, haben entlang ihrer Route Gewalt erlitten, etwa sechs von zehn Frauen werden auf der Strecke Opfer sexueller Gewalt.(24)

Fluchtrouten in die Europäische Union

Nach Angaben des Flüchtlingshilfswerks der Vereinten Nationen (UNHCR) befinden sich derzeit über 51 Millionen Menschen auf der Flucht. Den größten Teil – 33,3 Millionen – stellen Binnenvertriebene (Internally Displaced Persons) dar, die innerhalb des eigenen Landes fliehen. Weitere 16,7 Millionen von ihnen gelten dem UNHCR nach völkerrechtlicher Definition als Flüchtlinge. Sie suchen in Ländern Schutz, die überwiegend außerhalb Europas liegen: Neun von zehn Flüchtlingen können keine großen Wege zurücklegen und fliehen in angrenzende andere (Entwicklungs-)Länder.(25) EU-weit wurden im Jahr 2014 etwa 600 000 Asylanträge gestellt.(26) Die Zahl der Flüchtlinge, die unter das Mandat des UNHCR fallen, hat Mitte letzten Jahres 13 Millionen erreicht – das ist die höchste Zahl seit 1996.(27) Hinzu kommen fünf Millionen palästinensische Flüchtlinge, für die das Programm UNWRA zuständig ist.(28)

Ein Grund für diesen Anstieg ist der Krieg in Syrien, der zu einer der größten Migrationsbewegungen der vergangenen Jahrzehnte geführt hat. Die Hälfte der Bevölkerung des Landes wurde vertrieben, 7,6 Millionen Syrer sind Binnenvertriebene,(29) mehr als drei Millionen flohen ins Ausland. Libanon, Jordanien, Türkei, Irak und Ägypten sind diejenigen Länder, die die meisten dieser Flüchtlinge aufnehmen; UNHCR hat die westlichen Länder zwar dazu aufgerufen, Syrer aufzunehmen, die europäischen Regierungen haben aber nur wenige zehntausend Plätze zur Verfügung gestellt. So haben alle EU-Länder zusammen lediglich ein Prozent der syrischen Flüchtlinge aufgenommen.(30) Viele dieser Geflohenen versuchen deshalb die illegale Einreise in die EU. Die Abschottung der Landesgrenze zwischen Griechenland und der Türkei mit einer zehn Kilometer langen Mauer im Jahr 2012 – in Berichten gratuliert sich die europäische Grenzschutzagentur Frontex selbst, wie diese Maßnahmen dazu geführt haben, dass weniger Migranten auf diesem Weg einreisen können(31) – führte dazu, dass Tausende Migranten aus Afghanistan und Syrien, also Flüchtlinge aus den Kriegsgebieten des 21. Jahrhunderts, bei einer Bootsfahrt nach Europa erneut in Lebensgefahr gerieten.(32)

Massengrab Mittelmeer

Zahllose Migranten auf der ganzen Welt finden während ihrer Reise, ob an Land oder im Meer, den Tod. Die Internationale Organisation für Migration (IOM), die Vertretungen in über einhundert Ländern hat und die weltweit führende Organisation ist, die sich dem Thema in all seiner Vielfältigkeit widmet, rechnet mit mindestens 40 000 Todesfällen. Die Daten der IOM zeigen, dass die Zahlen ansteigen und 2014 bislang das mit Abstand tödlichste Jahr war.(33)

Hunderte sterben jedes Jahr auf den großen Fluchtkorridoren, etwa zwischen Asien und Australien. Zehntausende wollen dort jährlich über Indonesien flüchten – vor der Armut, als politisch Verfolgte, vor Kriegen und Konflikten. Die meisten stammten aus Afghanistan, Iran, Pakistan und Sri Lanka. Auch das Netzwerk der Schmuggler reicht von Pakistan, Afghanistan, Iran bis nach Ostindonesien und Papua-Neuguinea, von wo aus es nur noch wenige hundert Kilometer bis nach Australien sind; die Menschenhändler verlangen Tausende von Dollar für den Transport bis nach Australien, dessen Regierung auf Abschreckung setzt.(34) Oft endet die Flucht in einem Gefängnis in Indonesien, das die UN-Flüchtlingskonvention nicht ratifiziert hat – oder tödlich: Aus den Jahren 1996 bis 2014 sind 1 500 Todesfälle von Migranten in australischen Gewässern bekannt. Im IOM-Bericht Fatal Journeys. Tracking Lives Lost During Migration sind auch die anderen Statistiken für diesen Zeitraum aufgeführt: 6 000 Tote an der Grenze von Mexiko zu den USA, über 3 100 am Horn von Afrika, bis zu 2 000 im Golf von Bengalen, 1 800 in der Sahara. Die erschreckendste Zahl aber: Seit der Jahrtausendwende sind mindestens 22 400 Menschen an den Außengrenzen der EU ums Leben gekommen – zum Großteil Afrikaner.(35) Da viele Tote gar nicht entdeckt werden – die IOM geht davon aus, dass auf jeden bemerkten Tod mindestens zwei weitere kommen, von denen niemand Notiz nimmt –, ist die tatsächliche Zahl sicher noch höher. Europäische Journalisten – unter anderem von der NZZ und Le Monde diplomatique – kommen im Rahmen ihres Rechercheprojekts „The Migrants’ Files“ zu dem Ergebnis, dass in den letzten 15 Jahren über 27 000 Menschen auf ihrer Flucht auf den europäischen Kontinent gestorben sind oder als vermisst gelten.(36) Die offiziellen Stellen scheinen nicht besonders an diesen Zahlen interessiert zu sein. „Obwohl Unsummen von Geld ausgegeben werden, um Daten über Migration und Grenzkontrolle zu sammeln, sammeln und veröffentlichen nur sehr wenige Regierungen Daten über Todesfälle von Migranten“, so die IOM.(37) Die Opfer werden entpersonalisiert. Sie haben keine Geschichte, kein Gesicht, nicht einmal ein Geschlecht: Anhand der verfügbaren Information im Jahr 2014 musste die IOM feststellen, dass bei 96 Prozent der Todesfälle dazu keine Angabe gemacht worden war.(38)

Abschottung Europas

Die Genfer Flüchtlingskonvention und das Menschenrecht auf Asyl entstanden nach dem Zweiten Weltkrieg unter dem Eindruck der Verfolgung der europäischen Juden. Als Flüchtling gilt eine Person, die aufgrund von „Verfolgung wegen ihrer Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Überzeugung“ schutzbedürftig ist.(39) Kaum vierzig Jahre später wurde dieses Recht als Reaktion auf ausländerfeindliche Pogrome in Deutschland faktisch wieder abgeschafft: Mit dem „Asylkompromiss“ wurde 1993 das inzwischen für den gesamten Schengen-Raum maßgebende Konzept der „sicheren Drittstaaten“ eingeführt, was zur Folge hat, dass die mitteleuropäischen Länder vermehrt in die Grenzregionen abschieben, über welche die Flüchtlinge einreisen. Und dort herrschen, so Pro Asyl, „Praktiken, die mit einer humanen und menschenrechtlich geleiteten Flüchtlingspolitik nichts mehr zu tun haben“.(40)

Wer es nach Europa schafft, den erwarten oft die Internierung in Lager, Abschiebung, Diskriminierung oder Obdachlosigkeit. In Italien etwa werden Flüchtlinge sofort nach ihrer Anerkennung aus den Unterkünften geworfen; sie werden schlicht auf die Straße gesetzt. Niemand fühlt sich dann für die Anerkannten zuständig, niemand kümmert sich um eine Wohnung, die sie ohnehin nur dann bezahlen könnten, wenn sie eine Arbeit finden, denn Italien kennt keine Sozialhilfe für Flüchtlinge. „Ich bin aus Somalia vor den Kugeln weggelaufen, aber den Hunger habe ich erst in Libyen kennengelernt und am schlimmsten in Italien“, so ein Flüchtling, der im Jahr 2008 aus Somalia geflohen ist, nachdem sein Vater und sein Bruder vor seinen Augen von den al-Shabaab-Milizen erschossen worden waren, und der seit Frühjahr 2009 durch Europa irrt.(41)

Anstatt die Ursachen von Flucht – wozu auch die Freihandelsdiktate und die Kriege des Westens(42) sowie in zunehmendem Maße der von den Industriestaaten verursachte Klimawandel, der vor allem die Entwicklungsländer treffen wird,(43) gehören – zu beseitigen, schottet Europa sich militärisch ab. Das Frontex-Budget ist einer der am schnellsten wachsenden Haushaltsposten der EU. Betrug es im Jahr 2006 noch 17,5 Millionen Euro, waren es 2014 bereits fast 98 Millionen; für 2015 sind 114 Millionen eingeplant.(44) Im Jahr 2008 hatte die Ankündigung des damaligen EU-Kommissars für „Justiz, Freiheit und Sicherheit“, Franco Frattini, eine futuristische Grenzüberwachung mit Satelliten, Drohnen und voll

Anstatt die Ursachen von Flucht zu beseitigen, schottet Europa sich militärisch ab: Beamte der spanischen Guardia Civil beim Grenzschutz

elektronischen Sicherheitsschleusen einzuführen, die taz folgendermaßen kommentiert: „Sie machen den Grenzübergang für Flüchtlinge unüberwindlich. Für Geschäftsleute mit gesichertem Einkommen und biometrischem Pass dagegen wird der Grenzübertritt leicht.“(45) Parallel zur Hochrüstung der Grenzen wird Migrationsabwehr durch Abkommen mit angrenzenden Staaten auszulagern versucht. In Marokko misshandeln Grenzschützer Flüchtlinge, in der Ukraine werden sie in Gefängnisse gesperrt – mit Unterstützung aus Brüssel.(46) Die EU verstößt an den Ostgrenzen gegen internationales Recht,(47) an der griechisch-türkischen Grenze finden systematische Menschenrechtsverletzungen statt.(48) Alles ohne Konsequenzen. So gibt es über ein Jahr nach dem Tod von 15 Flüchtlingen in Ceuta keine Folgen für die Polizisten, die im Februar 2014 auf im Meer schwimmende Migranten geschossen haben.(49)

„Die Füße des Kolonialherrn sind niemals sichtbar, außer vielleicht am Meer, aber man kommt niemals nah genug an sie heran.“ Angesichts der Bilder aus Ceuta, die durch die Presse gingen und auf denen Beamte neben den Köpfen der an den Strand gespülten Leichen stehen, klingen die Worte von Frantz Fanon wie eine Prophezeiung. Dringlicher denn je erscheint sein Diktum: „Verlassen wir dieses Europa, das nicht aufhört, vom Menschen zu reden, und ihn dabei niedermetzelt, wo es ihn trifft, an allen Ecken seiner eigenen Straßen, an allen Ecken der Welt.“

# Dieser Text erschien zuerst in der Printausgabe von Hintergrund (2/2015). Zu bestellen hier.


 

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Anmerkungen

(1)Boubacar Boris Diop: Die neuen Verdammten dieser Erde. Ceuta und Melilla – aus afrikanischer Sicht. NZZ, 21.10.2005 (http://www.nzz.ch/aktuell/startseite/articleD8YVZ-1.178383).
(2) Maximilian Popp: Flüchtlingskatastrophe im Mittelmeer: Europas tödliches Versagen, Spiegel Online, 11.2.2015 (http://www.spiegel.de/panorama/gesellschaft/tote-fluechtlinge-im-mittelmeer-kommentar-zur-eu-grenzpolitik-a-1017936.html).
(3) Jochen Oltmer: Migration als historischer Normalfall. Bedingungen, Formen und Folgen globaler Wanderungsbewegungen seit dem späten 19. Jahrhundert, in: Mathias Beer (Hg.): Migration und Mythen. Geschichte und Gegenwart – Lokal und global, Ulm 2014, S. 127-146, S. 127.
(4)“One of the most socially contentious issues of recent years, and one we have reported on in previous editions of The Wealth Report, has been the growth of plutonomy, or the increasing concentration of wealth within a smaller segment of the world’s population.” – Knight Frank Research: The Wealth Report 2014, London (http://www.thewealthreport.net/resources/thewealthreport2014.pdf), S. 15.
(5) 85 Milliardäre besitzen so viel wie die ärmsten 3,5 Milliarden, Oxfam Deutschland, 21.1.2014 (http://www.oxfam.de/news/140121-85-milliardaere-besitzen-so-viel-aermere-haelfte-weltbevoelkerung-zusammen).
(6)Thomas Gebauer: Die Krise, die Solidarität, ihr „subjektiver Faktor“ – Zur Globalität des nordafrikanischen Syndroms. Vortrag im Rahmen des Symposiums „Solidarität in der Krise. Annnäherungen. – Der Erinnerung Frantz Fanons“ der stiftung medico international, Frankfurt, 29. Mai 2009 (http://www.medico.de/media/thomas-gebauer-die-globalitaet-des-nordafrikanisch.pdf), S. 8.
(7) “Rise in land deals could create a form of ‘neo-colonialism’, with poor states producing food for the rich at the expense of their own hungry people.” – P. Koohafkan, M. Salman and C. Casarotto: Investments in land and water. SOLAW Background Thematic Report – TR17, FAO (http://www.fao.org/fileadmin/templates/solaw/files/thematic_reports/TR_17_web.pdf), S. 10.
(8) GLOBAL 2000, Sustainable Europe Research Institute (SERI): Kein Land in Sicht. Wie viel Land benötigt Europa weltweit zur Deckung seines hohen Konsums, Februar 2013 (http://www.reduse.org/sites/reduse/files/Kein%20Land%20In%20Sicht_DE.pdf), S. 3f.
(9) Martin Glasenapp, Anne Jung, Judith Kopp: Fluchtursache Reichtum. Bodenschätze, Armut und die Bewegungen der Migration im westlichen Afrika, medico international, Frankfurt 2011, S. 6f. (http://www.medico.de/media/fluchtursache-reichtum-migration-und-rohstoffhande.pdf).
(10) medico Rundschreiben 04/2007: Die Verdammten der Globalisierung (http://www.medico.de/material/rundschreiben/2007/04/die-verdammten-der-globalisierung/).
(11) Martin Glasenapp: Die Grammatik der Migration. Ressourcenraub und wachsende Mobilität im westlichen Afrika (http://www.medico.de/themen/menschenrechte/migration/dokumente/die-grammatik-der-migration/4061/).
(12) United Nations, Department of Economic and Social Affairs: International Migration Report 2013 (http://esa.un.org/unmigration/documents/worldmigration/2013/Full_Document_final.pdf), S. 1.
(13)Zahl der Migranten so hoch wie nie, Süddeutsche Zeitung, 12.9.2013 (http://www.sueddeutsche.de/politik/bericht-der-vereinten-nationen-zahl-der-migranten-so-hoch-wie-nie-1.1768954).
(14) Anja Reiter: Private Überweisungen: In fünf Minuten um die Welt, Spiegel Online, 31.1.2015 (http://www.spiegel.de/wirtschaft/private-ueberweisungen-migranten-ueberweisen-im-jahr-milliarden-a-1012221.html).
(15) Jean-Philipp Baeck: Arbeitsmigranten: Nur als Sklaven erwünscht, taz, 26.7.2013 (http://www.taz.de/!120692/).
(16) Anne Kunze: Die Schlachtordnung, Die Zeit 51/2014, 17.12.2014 (http://www.zeit.de/2014/51/schlachthof-niedersachsen-fleischwirtschaft-ausbeutung-arbeiter).
(17) Hans Leyendecker: Skandalöse Verhältnisse in der Fleischindustrie: Lohnsklaven in Deutschland, Süddeutsche Zeitung, 23.6.2013 (http://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/skandaloese-verhaeltnisse-in-der-fleischindustrie-lohnsklaven-in-deutschland-1.1703776).
(18) Simona Zavratnik: Migration von Frauen, Verwundbarkeit und Sexhandel: die Opferperspektive, in: Jürgen Nautz, Birgit Sauer (Hg.): Frauenhandel. Diskurse und Praktiken, Göttingen 2008, S. 149-162, S. 149.
(19) Kevin Bales: Understanding Global Slavery. A Reader, Berkeley 2005, S. 145f.
(20) Angelika Kartusch: Menschenhandel. Eine menschenrechtliche Herausforderung für die OSZE, in: Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg (Hg.): OSZE-Jahrbuch, Baden Baden 2002, S. 289-303, S. 291.
(21) “Femisation of Migration” – Tanja El-Cherkeh, Elena Stirbu, Sebastian Lazaroiu: EU-Enlargement, Migration and Trafficking in Women. The Case of South Eastern Europe, Hamburg 2004 (http://www.konfliktbearbeitung.net/downloads/file400.pdf), S. 79).
(22) Vanessa Simili: Afrikanische Prostituierte in Sizilien: Anschaffen zwischen Kakteen und Müll, NZZ, 18.2.2015 (http://www.nzz.ch/international/afrika/anschaffen-zwischen-kakteen-und-muell-1.18485364).
(23)Rinaldo Tibolla: Wenn sogar Vierjährige alleine in die Schweiz fliehen, Aargauer Zeitung, 30.1.2015 (http://www.aargauerzeitung.ch/schweiz/wenn-sogar-vierjaehrige-alleine-in-die-schweiz-fliehen-128782907).
(24) Agus Morales: Quer durch Mexiko, Ärzte ohne Grenzen/MSF (http://exodus.msf.org/de/mexico.html).
(25) UNO-Flüchtlingshilfe: Flüchtlinge weltweit: Zahlen & Fakten (http://www.uno-fluechtlingshilfe.de/fluechtlinge/zahlen-fakten.html).
(26) Marcus Engler: Deutlich mehr Asylbewerber in Deutschland und Europa, Migration & Bevölkerung: Das Online-Portal zur Migrationsgesellschaft, 29.1.2015 (http://www.migration-info.de/artikel/2015-01-29/deutlich-mehr-asylbewerber-deutschland-und-europa).
(27) UNHCR: Mid-Year Trends 2014 (http://unhcr.org/54aa91d89.html), S. 3.
(28)http://www.unrwa.org/
(29)http://syria.unocha.org/, 19.2.2015.
(30) UNHCR: Resettlement and Other Forms of Admission for Syrian Refugees, 17.2.2015 (http://www.unhcr.org/cgi-bin/texis/vtx/home/opendocPDFViewer.html?docid=52b2febafc5&query=resettlement%20syria).
(31) Z.B.: Frontex: FRAN Quarterly. Quarter 2: April–June 2013 (http://frontex.europa.eu/assets/Publications/Risk_Analysis/FRAN_Q2_2013.pdf), S. 14.
(32) Agus Morales: Exodus aus Syrien, Ärzte ohne Grenzen/MSF (http://exodus.msf.org/de/syria.html).
(33) Internationale Organisation für Migration Deutschland: Internationaler Tag der Migranten 2014: Migrantenleben retten (http://germany.iom.int/de/international-migrants-day-2014-0).
(34) Andy Budiman, Hendra Pasuhuk: Indonesien: Drehkreuz des Flüchtlingsstroms, Deutsche Welle, 16.8.2013 (http://www.dw.de/drehkreuz-des-fl%C3%BCchtlingsstroms/a-17022915).
(35) Tara Brian, Frank Laczko: Fatal Journeys. Tracking Lives Lost during Migration, International Organization for Migration (IOM), Genf 2014 (http://publications.iom.int/bookstore/free/FatalJourneys_CountingtheUncounted.pdf), S. 24f.
(36)https://www.detective.io/detective/the-migrants-files/, 19.2.2015.
(37) “Although vast sums of money are spent collecting migration and border control data, very few governments collect and publish data on migrant deaths” (Tara Brian, Frank Laczko: Fatal Journeys. Tracking Lives Lost during Migration (Anm. 35), S. 11).
(38) Ebd., S. 28.
(39) UNHCR: Handbuch über Verfahren und Kriterien zur Feststellung der Flüchtlingseigenschaft gemäß dem Abkommen von 1951 und dem Protokoll von 1967 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge, Genf, September 1979; Neuauflage: UNHCR Österreich, Dezember 2003 (http://www.unhcr.de/fileadmin/user_upload/dokumente/03_profil_begriffe/fluechtlinge/Handbuch.pdf), S. 11
(40) Pro Asyl: Verantwortung lässt sich nicht abschieben. Das Europaprojekt von Pro Asyl (http://www.proasyl.de/fileadmin/proasyl/fm_redakteure/Broschueren_pdf/Verantwortung_Broschuere.pdf), S. 5.
(41) Pro Asyl: Flucht ohne Ankunft. Die Misere von international Schutzberechtigten in der EU, November 2014 (http://www.proasyl.de/fileadmin/fm-dam/q_PUBLIKATIONEN/2014/Broschuere-Flucht_ohne_Ankunft-PROASYL-Nov-2014.pdf), S. 11.
(42) Das Portal german-foreign-policy.com brachte es kürzlich auf den Punkt: „Die Abschottung Deutschlands und der EU gegen Flüchtlinge geht mit der systematischen Produktion von Fluchtursachen durch den Westen einher – mit dem Anzetteln und Befeuern von Kriegen.“ – german-foreign-policy.com: Kein Ende in Sicht, 17.2.2015 (http://www.german-foreign-policy.com/de/fulltext/59056).
(43) Die ökologische Krise wird sich zu einem in steigendem Maße wichtigen Fluchtgrund entwickeln. Seit Jahren spricht man davon, dass die Auswirkungen des in erster Linie von den Industriestaaten verursachten Klimawandels vor allem die Entwicklungsländer treffen und diese Veränderungen massenhaft neue Migranten hervorbringen werden. 2014 wurde nach mehr als zwanzig Jahren zum ersten Mal der Asylantrag von Umweltflüchtlingen nicht abgelehnt; andere hoffen nun, dass es sich um einen Präzedenzfall handelt und die bisherige Rechtsbarriere bricht (Klimaflüchtlingen Asyl gewährt, umweltmigration.org, 2.2.2015 (http://www.umweltmigration.org/2015/02/02/klimafl%C3%BCchtlingen-asyl-gew%C3%A4hrt/).
(44) Frontex: Budget 2015, 7.1.2015 (http://frontex.europa.eu/assets/About_Frontex/Governance_documents/Budget/Budget_2015.pdf).
(45)Daniela Weingärtner: Schöne neue Grenze. Die EU plant eine futuristische Grenzüberwachung: Mit Satelliten, Drohnen und einem lückenlosen biometrischen Passwesen, in: taz, 14.2.2008(http://www.taz.de/!12897/).
(46) Maximilian Popp: Brutale EU-Flüchtlingspolitik: Europa schreckt ab, Spiegel Online, 17.2.2015 (http://www.spiegel.de/panorama/gesellschaft/fluechtlinge-eu-lagert-migrationspolitik-an-nachbarlaender-aus-a-1018858.html).
(47) Bericht von Report Mainz: Illegale „Pushbacks“ an EU-Ostgrenzen?, tagesschau.de, 13.2.2015 (http://www.tagesschau.de/ausland/report-mainz-eu-fluechtlinge-101.html).
(48) Pro Asyl: Pushed Back. Systematische Menschenrechtsverletzungen an den griechisch-türkischen See- und Landgrenzen (http://www.proasyl.de/fileadmin/fm-dam/q_PUBLIKATIONEN/2014/Broschuer_Pushed_Back_dt_08_2014.pdf).
(49) Reiner Wandler: Exklave Ceuta: 15 tote Flüchtlinge und keine Konsequenzen, Der Standard, 9.2.2015 (http://derstandard.at/2000011425645/Exklave-Ceuta-15-tote-Fluechtlinge-und-keine-Konsequenzen).

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