Weltpolitik

"Genozid gegen die Bewohner von Kobane"

Hinweis: Die Bilder sind aus den archivierten Hintergrund-Texten vor 2022 automatisch entfernt worden.

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Wenn die kurdische Stadt Kobane dem Islamischen Staat in die Hände fällt, droht ein Massaker. Die Rolle der Türkei erzürnt nun auch die kurdische Bewegung –  

Von THOMAS EIPELDAUER, 23. September 2014 –

“Kobane ist in Gefahr” – Diese erschütternde Nachricht lief in den vergangenen zwei Tagen über sämtliche Kanäle kurdischer Exilstrukturen in Europa. Kobane, das ist eine strategisch bedeutende Kleinstadt an der syrisch-türkischen Grenze, auf arabisch heißt sie Ain al-Arab. Bislang kontrollieren dort kurdische Milizen der Volksverteidigungseinheiten YPG das Gebiet. Die YPG steht der syrisch-kurdischen Partei PYD und der in der Türkei (und im Irak) aktiven kurdischen Arbeiterpartei PKK nahe. YPG und PYG haben seit Beginn des vom Westen und der Türkei maßgeblich beförderten Bürgerkriegs in Syrien versucht, im Norden des Landes, wo die Kurden die Bevölkerungsmehrheit stellen, Autonomiestrukturen aufzubauen.

Sie schufen eine Art Zufluchtsraum für verfolgte Ethnien und Glaubensgruppen, zuletzt kämpften sie den Fluchtkorridor für die von der Terrormiliz Islamischer Staat (IS) im Irak bedrohten Jesiden frei. So katastrophal die Situation in Syrien auch war, in Rojava, den Kurdengebieten im Norden, herrschte Aufbruchstimmung: Demokratische Institutionen wurden geschaffen, basale Formen von Selbstorganisierung und Rätestrukturen. Frauen übernahmen eine wichtige Rolle beim Aufbau dieser neuen Gesellschaftsform, die in Anlehnung an den von der Türkei inhaftierten PKK-Führer Abdullah Öcalan als “demokratischer Konföderalismus” bezeichnet wird.

Nun ist all das bedroht. Seit mehreren Tagen belagert der Islamische Staat Kobane, der Vormarsch konnte zwar inzwischen – so melden Nachrichtenagenturen aus der Region – gestoppt werden, die Bedrohung ist aber keineswegs abgewendet. Sollten die Dschihadisten es schaffen, den Widerstand zu brechen, droht ein Blutbad. Salih Muslim, Chef der PYD, spricht sogar von einem befürchteten “Genozid gegen die Bewohner von Kobane”. Indessen überschlagen sich Meldungen von Bombardements und Gefechten, der Wahrheitsgehalt ist zumeist schwer nachzuprüfen. Die Vereinigten Staaten zusammen mit arabischen Partnern sollen mit Luftschlägen gegen den Islamischen Staat begonnen haben. (1) Zugleich soll die syrische Luftwaffe Militante im Grenzgebiet zum Libanon angegriffen haben (2), Israel schoss einen syrischen Kampfjet ab (3), kurdische Kräfte kämpften in und um Kobane (4), sollte im Irak die “gegenwärtige Strategie scheitern”, kündigen US-Militärs sogar eine Rückkehr von US-Kampftruppen an. (5)

Dieses Chaos wird verstärkt durch das undurchsichtige Handeln einer der regional bedeutendsten Mächte. Die Türkei positioniert sich weiterhin nicht gegen den Islamischen Staat. Vielmehr verdichten sich die Hinweise, dass man aus Ankara weiterhin die Dschihadisten-Miliz in ihrem “finalen Kampf” gegen die kurdische Autonomieregion gewähren lässt, oder sie sogar fördert. Augenzeugenberichten zufolge sind sowohl Kämpfer für den Islamischen Staat über die türkisch-syrische Grenze eingeschleust worden (6), als auch Waffen- und Munitionslieferungen aus der Türkei an den IS gegangen, darunter “Mörsergranaten und schwere Geschütze”, wie das Nachrichtenportal Civaka Azad berichtet. (7)

Zugleich kommt es zu immer schwereren Auseinandersetzungen zwischen dem türkischen Militär und kurdischen Zivilisten an der Grenze zu Syrien. Offenbar werden zum einen Flüchtlinge aus Syrien angegriffen, die in die Türkei wollen, zum anderen aber auch Menschen, die sich aus der Türkei dem Kampf in Kobane anschließen möchten.

Diese Situation hat dazu geführt, dass sich hochrangige Vertreter der kurdischen Befreiungsbewegung zu Wort gemeldet haben. PKK-Gründer Abdullah Öcalan kritisierte den Umgang der Türkei mit dem IS und rief dazu auf, dass sich die Kurdinnen und Kurden in allen Landesteilen, also auch der Türkei, auf eine Massenmobilisierung einstellen sollten. Die Union der Gemeinschaften Kurdistans KCK erklärte, sie werte das Verhalten der Türkei als “feindselig”, und PKK-Kommandant Murat Karayilan sprach sogar von einem Ende des “Friedensprozesses” mit Ankara, da die türkische Regierung mit dem IS kollaboriere. Sollte die kurdische Bewegung ernst mit diesen Ankündigungen machen, steht eine Ausweitung der Kampfzone bevor, der Konflikt könnte auch in die Türkei selbst zurückkehren.

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Anmerkungen

(1) http://edition.cnn.com/2014/09/22/world/meast/u-s-airstrikes-isis-syria/
(2) http://www.business-standard.com/article/news-ians/syrian-air-strike-kills-10-rebels-near-lebanon-border-114092201333_1.html
(3) http://en.firatajans.com/news/news/ypg-232-gang-members-killed-in-kobane-in-one-week.htm
(4) http://en.firatajans.com/news/news/ypg-232-gang-members-killed-in-kobane-in-one-week.htm
(5) http://rudaw.net/english/middleeast/iraq/17092014
(6) en.firatajans.com/news/news/thousands-of-isis-members-crossed-border-with-turkish-support.htm
(7) http://civaka-azad.org/tuerkei-waffen-fuer-fluechtlinge-als-waffe/

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