Weltpolitik

Will Berlin „Rache für 1945“?

Moskau zieht einen epochalen Schlussstrich: Nach 300 Jahren des Versuchs, Teil der europäischen Zivilisation zu werden, erklärt Russland das „Westliche Projekt“ für endgültig beendet. Die neue Formel lautet: „Der Westen ist separat – Russland ist separat“. Um die Ursachen und Konsequenzen dieses strategischen und zivilisatorischen Wandels zu ergründen, traf Éva Péli Ende Oktober in Moskau den renommierten russischen Geopolitiker Dmitri Trenin – eine Schlüsselstimme der heutigen strategischen Elite. Als Forschungsprofessor an der Nationalen Forschungsuniversität „Hochschule für Wirtschaft“ und leitender Wissenschaftler am Primakow-Institut (IMEMO) liefert Trenin eine schonungslose Analyse: Er entlarvt die Russland-Feindlichkeit der europäischen Eliten als politisches Einigungsinstrument, beleuchtet revanchistische Untertöne in der deutschen Außenpolitik und skizziert für die Zukunft Europas nur einen „Kalten Gegensatz“ – gekennzeichnet durch Mauern und die Gefahr einer neuen Kuba-Krise durch Raketenstationierung. Erfahren Sie im Gespräch, warum Russland weder der Hegemonie des Westens noch der Chinas folgen kann und welche langfristigen Folgen dieser Abschied vom Westen für die globale Ordnung hat.

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Dmitri Trenin; Foto: Tilo Gräser
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Hintergrund Ihre zentrale Aussage lautet, dass Russland das „vom Zaren Peter I. eröffnete westliche Projekt beendet“. Was bedeutet dieser strategische und zivilisatorische Wandel für die russische Identität und ihre langfristige Außenpolitik? Ist dies eine endgültige Abkehr vom Westen?

Dmitri Trenin Es ist keine Abkehr vom Westen, sondern eine Abkehr vom Versuch, der Westen zu werden. Dieser Versuch, der sich über drei Jahrhunderte in verschiedenen Varianten erstreckte, ist abgeschlossen: Der Westen ist separat, Russland ist separat.

Der Sinn des ursprünglichen Konzepts von Peter I. war es, dass Russland eine große europäische Macht wird – was bis zur Zeit Katharinas II. gelang. Dann, unter Lenin, basierend auf Marxismus-Leninismus, gab es den Versuch, Russland in ein weltweites kommunistisches System zu integrieren, möglicherweise mit dem Zentrum in Europa, da Lenin davon ausging, dass Deutschland die führende sozialistische Nation werden und Russland „nachziehen“ würde. Und schließlich versuchte Russland unter Michail Gorbatschow, Boris Jelzin und dem frühen Wladimir Putin, sich in das moderne westliche System zu integrieren, institutionell Mitglied von NATO und EU zu werden – die Idee eines „Großen Europas von Lissabon bis Wladiwostok“ zu verwirklichen. Europa war in dieser Zeit Modell, Mentor sowie der Hauptmarkt für Rohstoffexporte und den Erhalt moderner Technologien.

Diese Periode ist meiner Meinung nach aus zwei Gründen vorbei:

1. Die Hauptursache liegt darin, dass Russland in den letzten 30 Jahren maximaler Annäherung und dem Streben, „wie sie“ zu werden, verstanden hat, dass es der Westen nicht werden kann. Der Grund liegt in der Hierarchie des westlichen Systems, in dem es immer einen hegemonialen Staat gibt. Integration beginnt nicht mit Wirtschaftsreformen, sondern mit der Unterordnung unter diesen Hegemon. Russland kann jedoch organisch keine hegemoniale Macht anerkennen – weder die Elite noch das Volk insgesamt.

2. Die zweite Ursache liegt in der Erkenntnis des Westens, insbesondere Europas: Russland hat nicht nur Interessen außerhalb Europas, sondern ist auch zu groß, um leicht integriert werden zu können. Die Integration Deutschlands erforderte zwei Kriege, und ein Russland, das keinen Krieg verloren hatte, wäre ein zu großer Stimmenblock im Europäischen Parlament geworden.

Der Auslöser für die endgültige Trennung war der Ukraine-Krieg. Russland war überrascht, wie hart, ungerecht und hysterisch Europa auf die russischen Handlungen reagierte, und es ahnte das Ausmaß des Hasses seitens der europäischen Eliten und Medien nicht – was hier als Russophobie bezeichnet wird. In Russland hingegen gibt es keinen Hass gegen die Ukrainer als Volk. Dies war eine unangenehme, aber wichtige Erkenntnis, und für Russland schließt sich der westliche Kurs auf natürliche Weise: Es kann nicht, und es wird dort nicht gewollt.

Aus demselben Grund kann Russland auch keinem anderen Bündnis beitreten. Obwohl China eine andere außenpolitische Vorgehensweise hat, wäre die Akzeptanz der chinesischen Hegemonie, sollte diese real werden, für Russland ebenso schwierig wie die Akzeptanz der europäischen oder US-Hegemonie. Der östliche Weg ist somit „geschlossen“.

Was bleibt? Russland bleibt als eine große Macht. Es ist nicht die größte der Welt, aber groß genug, um als eigenständiges Subjekt aufzutreten. Es besitzt eigene zivilisatorische Unterschiede – sowohl zu Europa als auch erst recht zu Asien. Diese Unterschiede erlauben es, von Russland als eigener Zivilisation zu sprechen. Wir haben sehr viel von den Interaktionen mit dem Westen gelernt, und das Scheitern auf der europäischen Achse hat uns viel über uns selbst gelehrt. Ich denke, wir beginnen nun, unsere Einsamkeit als separater Teil der Menschheit zu erkennen, aber gleichzeitig unsere untrennbare Verbindung zum Rest der Menschheit. Heute ist diese Verbindung zu Europa geringer und zum Süden und Osten größer. Wir haben Asien und die nicht-westliche Welt lange ignoriert, und nun haben wir die Zeit, uns mit Asien, Afrika und Lateinamerika zu beschäftigen und so unseren Rückstand auszugleichen.

Dmitri Trenin; Foto:Tilo Gräser
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Hintergrund Sie erwähnten, dass der Westen „feindseliger gegenüber Russland eingestellt ist als je zuvor“. Was sind Ihrer Meinung nach die fundamentalen, tief verwurzelten Ursachen dieser historischen Feindseligkeit, die unabhängig von den aktuellen geopolitischen Konflikten bestehen bleiben?

Trenin Diese Feindseligkeit nimmt zu verschiedenen Zeitpunkten unterschiedliche Formen an und hat spezifische Ursachen.

Für die Europäische Union ist Russland heute extrem wichtig als Vereinigungsfaktor der Länder. Die EU wurde ursprünglich als Projekt konzipiert, das Kriege zwischen europäischen Ländern ausschließt. Dann wurde sie mehr auf Wirtschaft und soziale Fragen ausgerichtet. Danach folgte das Projekt eines geeinten und freien Europas mit der Eingliederung der mittelosteuropäischen Länder, aber dieser Impuls ist bereits beendet. In den 2010er Jahren erlebte die EU eine Reihe von Krisen: Schuldenkrise, Brexit, Migration. Dann kam noch Trump hinzu.

Heute existiert die Bedrohung durch Russland, wie sie in Europa wahrgenommen wird, faktisch nicht, aber es ist politisch notwendig, diese Bedrohung zu propagieren. Russland wird als Barbar vor den Toren Europas dargestellt, der gleichzeitig als sehr schwach, sehr abscheulich und schlecht gilt, aber aus irgendeinem Grund stark genug ist. Hier gibt es eine logische Inkonsistenz, aber das ist unwichtig. Die Vorstellung, Russland sei bereit, Europa anzugreifen, zu erobern und zu unterwerfen, wird jedoch als Tatsache verkauft.

Da Russland aus Sicht der europäischen Führungsetage die Bedrohung ist, treten alle anderen Probleme in den Hintergrund. Die Eliten, die offensichtlich mit den aktuellen Herausforderungen nicht fertig werden, erhalten so einen vereinigenden Anker. Nehmen wir Frankreich: Was vereint das französische Volk? Nicht die Politik von Macron. Das Feindbild Russland vereint tatsächlich die Mehrheit der Franzosen, unabhängig davon, ob sie „für“ oder „gegen“ Macron sind. Ich denke, etwas Ähnliches existiert in den meisten anderen Ländern.

Außerdem ermöglicht diese Situation bestimmten Kreisen, „etwas zu verdienen“ – wie Rheinmetall und andere, die mit dem militärisch-industriellen Komplex verbunden sind. Für Europa könnte die Militarisierung als Impuls gesehen werden, der die Rezession beendet und das Wachstum ankurbelt, so wie es in Russland vor ein paar Jahren geschah, als die Erhöhung der Militärausgaben der Gesamtwirtschaft einen Impuls gab.

Einzelne europäische Staaten haben ihre ganz eigenen Rechnungen offen. Eine große Enttäuschung war für mich persönlich Finnland. Ich hätte nicht erwartet, dass deren Ressentiments so tief sitzen. Ich dachte, wir hätten fast 70 Jahre lang sehr gute, ja, sogar herzliche Beziehungen gepflegt. Offenbar trugen sie die ganze Zeit – wie wir in Russland sagen – einen „Stein im Gewand“ [steht für „hegten einen tiefen Groll“ – Anm. der Red.]).

Ich vermute, dass es in Deutschland Kreise gibt, für die der heutige Konflikt mit Russland in gewisser Weise eine Vergeltung für das Jahr 1945 darstellt. So erscheint es mir zumindest. Die Politik Großbritanniens wiederum basierte seit dem 19. Jahrhundert weitgehend auf dem Kampf gegen Russland – dem „Großen Spiel“. Die Wurzeln der britischen Russophobie sind sehr tief.

Ähnliches findet man praktisch überall. Kleinere Staaten haben ihre eigenen Forderungen: die Balten ihre, die Polen zweifellos historische, und so weiter. Diese Länder haben aber auch untereinander Konflikte. Es ist jedoch ratsamer, diesen Nationalismus in eine ungefährliche Richtung zu lenken.

Nehmen wir Polen: Der Hass auf Deutschland ist dort im Grunde wohl nicht geringer als der auf Russland. Doch Hass auf Deutschland verursacht Unannehmlichkeiten und bricht gelegentlich aus. Der Hass auf Russland hingegen ist unproblematisch. Das Gleiche gilt für etliche andere Länder. Die Finnen haben mich in dieser Hinsicht sehr enttäuscht, während mich Ungarn positiv überrascht hat. Trotz der Ereignisse von 1849 und 1956 sehe ich in Ungarn nicht jene tief verwurzelte Russophobie, die ich erwarten würde. Das ist die einzige positive Ausnahme.

Dmitri Trenin; Foto: Tilo Gräser
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Hintergrund Deutschland galt lange Zeit als Brücke zwischen Russland und dem Westen. Wie beurteilen Sie die aktuelle Berliner Politik gegenüber Russland? Wird Berlin in Moskau einfach als „Fortsetzung“ der US-Politik wahrgenommen, oder sehen Sie Potenzial für eigenständige politische Manöver Berlins?

Trenin Deutschland hat ein gewisses Potenzial für eigenständige Aktionen. Bei uns herrschte lange Zeit eine zu vereinfachte und verzerrte Vorstellung, dass die deutsche Regierung lediglich ein gefügiger Vasall Washingtons sei und Berlin das tue, was Washington sagt. Heute, so scheint es mir, insbesondere unter dem derzeitigen Kanzler, unternimmt Deutschland Anstrengungen, seine deutsche Identität zu stärken. Allerdings geschieht dies aus Sicht vieler in Moskau auf dem Weg der Russophobie und Militarisierung. Das ist also das genaue Gegenteil dessen, was wir uns wünschen würden.

Was deutsche Politiker heute sagen, und zwar von beiden führenden Parteien, ist nicht zwangsläufig eine Übersetzung aus dem Englischen. Es ist eine eigenständige und im Allgemeinen feindselige Linie gegenüber Russland.

Hier liegt aus meiner Sicht der Gedanke einer gewissen Rache zugrunde. Natürlich wird sich niemand eingestehen, dass es Rache für 1945 ist, aber das Streben nach Vergeltung ist eine natürliche Sache für Menschen. Die Deutschen erlitten 1945 eine historische Niederlage, und sehr lange Zeit wurden sie wegen der Hitler-Vergangenheit unter Druck gesetzt. Sie haben das aufgearbeitet, aber es ist nicht genug. Sie müssen demonstrieren, dass „wir jetzt wirklich auf der Seite der Guten, auf der richtigen Seite der Geschichte stehen“. Der Konflikt mit Russland bietet genau diese Möglichkeit.

Dabei unterscheiden die Deutschen, wie auch die Japaner, zwischen den Siegern von 1945: Amerika ist der „gute“ Sieger. Ich kann mich irren, aber unterbewusst stehen in der deutschen und der japanischen Kultur die USA über ihren Gesellschaften. Eine Niederlage gegen einen Höhergestellten ist kein Problem. Russland steht jedoch darunter. Und eine Niederlage gegen jemanden, der zivilisatorisch niedriger steht, ist ein Problem.

All diese Phobien, Rassismus, Fremdenfeindlichkeit sind eigentlich nie verschwunden. Sie sitzen nur irgendwo und kommen manchmal an die Oberfläche. Dieser Moment – ein bisschen rassistisch, aber stark revanchistisch, diese menschliche Rache – ist für diese Generation von Politikern meiner Meinung nach durchaus erklärbar.

Hintergrund Wie müsste eine lebensfähige europäische Sicherheitsarchitektur aussehen, die nicht nur die Sicherheitsinteressen Russlands anerkennt, sondern diese auch strukturell verankert?

Trenin Mich interessieren mehr die Bedingungen, unter denen man eine solche Architektur gemeinsam schaffen kann.

Die Bedingungen sind die Anerkennung durch Europa, dass Russland Sicherheitsinteressen hat und dass Europa diese Interessen respektieren muss. Diese Interessen hat Russland seit Langem formuliert. Sie hängen mit der NATO-Erweiterung und der Verlagerung militärischer Infrastruktur näher an die Grenzen Russlands zusammen.

Europa hat damals nicht zugehört, und ich denke, es hört auch jetzt nicht zu. Solange die aktuellen Eliten in Europa an der Macht sind, werden diese Bedingungen meiner Meinung nach nicht geschaffen.

Aus diesem Grund glaube ich nicht, dass ich in der verbleibenden Zeit meines Lebens noch eine stabile europäische Sicherheitsarchitektur erleben werde. Das Beste, was wir uns erhoffen können, ist die Entstehung einer Art „Kalten Gegensatzes“. Zwischen Russland und Europa wird sich eine mehr oder weniger stabile Frontlinie herausbilden, an der keine Kampfhandlungen stattfinden. Dies wird im Grunde ein „Kalter Krieg“ im Stil der frühen 1950er Jahre sein, allerdings ohne einen heißen Krieg. Der Krieg in der Ukraine wird eines Tages enden. Ich hege weiterhin die Hoffnung, dass es keinen Krieg zwischen der NATO und Russland geben wird, wenngleich diese Wahrscheinlichkeit existiert.

Wenn es uns gelingt, uns über dem Abgrund zu halten und nicht abzustürzen, dann wird genau diese Variante wohl die Architektur sein. Das heißt, die Architektur wird die Form annehmen, die unsere westlichen Nachbarn bereits heute errichten – in Form von Mauern, Zäunen, Gräben und Stacheldraht. Dies ist die Architektur der europäischen Sicherheit, die wir – und das ist die gute, die beste Option – nach dem Ende der militärischen Handlungen in der Ukraine wohl vor uns sehen werden.

Hintergrund Zum Thema Raketen, die 2026 in Deutschland stationiert werden sollen. Wie reagiert Russland darauf?

Trenin Russland reagiert empfindlich auf die Stationierung von Raketen in Deutschland. Wenn die US-Amerikaner tatsächlich den Weg der Kuba-Krise Nr. 2 gehen wollen, ist dies durchaus möglich. Russland entwickelt die militärischen Beziehungen zu Kuba. Die Kubaner haben allen Grund, eine Invasion und einen Regimewechsel zu befürchten, insbesondere wenn Trump die Monroe-Doktrin vorantreibt. Für sie ist dies eine Frage des Überlebens. Daher schließe ich rein theoretisch nicht aus, dass Russland und Kuba als Reaktion eine Vereinbarung treffen könnten, russisches Material auf kubanisches Territorium zu bringen, falls die USA Raketen in Deutschland stationieren.

Éva Péli und Dmitri Trenin; Foto: Tilo Gräser
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Das Interview ist der erste Teil eines längeren Gespräches mit dem russischen Politikwissenschaftler Dmitri Trenin. Der anschließende Part ist in der Ausgabe 1/2-26 des Magazins Hintergrund zu lesen, das am 20. Dezember 2025 erscheint. Darin geht es unter anderem um die Atomkriegsgefahr und Russlands Position zu den USA.

Dmitri Trenin (geb. 1955) ist ein renommierter russischer Politikwissenschaftler und Geopolitik-Experte mit einer ungewöhnlichen Karriere, die er als Oberstleutnant der sowjetischen/russischen Streitkräfte begann. Nach seinem Ausscheiden aus dem Militär im Jahr 1993 wechselte er in die Forschung und leitete von 2008 bis 2022 das Carnegie Moscow Center, wodurch er lange Zeit als wichtigste Stimme Russlands für den Dialog mit dem Westen galt. Heute ist er unter anderem Direktor des Instituts für Globale Militärökonomie und Strategie an der Nationalen Forschungsuniversität „Hochschule für Wirtschaft“ (HSE) sowie Leitender wissenschaftlicher Mitarbeiter des Primakow-Instituts (IMEMO) in Moskau. Er hat zahlreiche Publikationen zur russischen Außenpolitik und Geopolitik verfasst.

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