Sozialabbau

Die Politik muss umdenken

Angesichts steigender Lebenshaltungskosten, wachsender Wohnungsnot und anhaltender sozialer Ungleichheit stellt sich die Frage: Wie kann Armut wirksam bekämpft werden? Thomas de Vachroi, der erste Armutsbeauftragte der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz (EKBO), sieht seine Aufgabe nicht nur darin, auf diese Probleme aufmerksam zu machen, sondern auch, konkrete Lösungen zu erarbeiten und den politischen Diskurs aktiv mitzugestalten. Mit ihm sprach ÉVA PÉLI.

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Foto: useche360; Quelle: pixabay; Lizenz
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HINTERGRUND Herr de Vachroi, als erster Armutsbeauftragter Deutschlands: Was sind Ihre Kernaufgaben?

THOMAS DE VACHROI Als Armutsbeauftragter der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz (EKBO) sehe ich es als meine politische Aufgabe, auf die wachsende Armut in unserer Gesellschaft aufmerksam zu machen. Ich arbeite eng mit Politik, Wirtschaft und Unternehmen zusammen, um einen breiten Dialog zu initiieren. Dabei geht es mir nicht nur um materielle, sondern auch um andere Formen von Armut, die oft unsichtbar bleiben.

Da die staatlichen Mittel begrenzt sind und bestehende Einrichtungen der steigenden Nachfrage nicht mehr gerecht werden können, liegt ein wesentlicher Teil meiner Arbeit in der Öffentlichkeitsarbeit. Durch Spendenaktionen und die Organisation von Veranstaltungen in Kooperation mit Einrichtungen wie der Tee- und Wärmestube in Neukölln sorge ich dafür, dass die Medien auf unser Anliegen aufmerksam werden und das Thema Armut in den Fokus rückt. Mein Ziel ist es, konkrete Lösungen zu erarbeiten und aktiv Gesetze und soziale Projekte mitzugestalten.

HINTERGRUND Die Position des Armutsbeauftragten ist ja relativ neu. Warum gibt es noch keine zentrale Stelle auf Bundes- oder Landesebene?

DE VACHROI Das ist ein wichtiger Punkt. Meine Position als Armutsbeauftragter ist tatsächlich die erste dieser Art und wurde erst nach 2017 geschaffen. Das macht die Aufgabe besonders anspruchsvoll, denn Bund und Länder haben aus verschiedenen Gründen noch nicht entsprechend reagiert.

In Gesprächen mit Politikern, einschließlich Bundestagspräsidenten, merke ich oft, dass die Fraktionen uneinig sind. Die zentrale Frage lautet: Welche Verpflichtungen und Kosten würde eine solche Position mit sich bringen? Da mein Amt bei der Landeskirche ehrenamtlich ausgeübt wird, ist es offensichtlich, dass die Politik die Kosten und den Aufwand einer hauptamtlichen Position scheut.

HINTERGRUND Können Sie einen konkreten Kostenrahmen nennen, und welche Einsparungen würde eine solche Stelle langfristig durch eine effektivere Armutsbekämpfung ermöglichen?

DE VACHROI Die Einführung eines Armutsbeauftragten auf staatlicher Ebene bedeutet zunächst eine finanzielle Belastung für den Staatshaushalt. Die genauen Kosten hängen von der Ausgestaltung der Position ab, einschließlich Personal, Budget und Infrastruktur. Langfristig stellt diese Position jedoch eine sinnvolle Investition dar. Ein Armutsbeauftragter fungiert als wichtige Interessenvertretung, die den Dialog zwischen Politik, Wirtschaft und sozialen Einrichtungen fördert, um die Armutssituation zu verbessern. Durch gezielte Akquise, Spendenaufrufe und professionelle Öffentlichkeitsarbeit kann die Stelle bestehende Einrichtungen effektiv unterstützen und somit eine langfristige Entlastung für die öffentlichen Haushalte bewirken. Die strukturellen und finanziellen Entlastungen, die sich aus einer effektiveren Armutsbekämpfung ergeben, machen die anfänglichen Kosten zu einer lohnenden Investition für die Gesellschaft.

HINTERGRUND Die Diskussion um das Bürgergeld spitzt sich wieder zu. Welche konkreten Maßnahmen, die über die finanzielle Unterstützung hinausgehen, wären hier aus Ihrer Sicht notwendig?

DE VACHROI Um die Wirksamkeit des Bürgergelds zu erhöhen, wäre ein ganzheitlicher Ansatz erforderlich, der über finanzielle Leistungen hinausgeht. Ein zentraler Punkt ist der Ausbau von Weiterbildungsprogrammen und beruflicher Qualifizierung. Dazu gehört die Förderung von digitalen Kompetenzen und zukunftsfähigen Fähigkeiten. Die Betroffenen müssten durch eine individuelle Beratung gezielt in passende Jobs vermittelt werden. Gleichzeitig wären Anreize für Unternehmen notwendig, um Langzeitarbeitslose einzustellen.

Um strukturelle Hürden abzubauen, müsste der Ausbau der Kinderbetreuung vorangetrieben werden, um Eltern die Arbeitsaufnahme zu erleichtern. Auch der Zugang zu bezahlbarem Wohnraum und Mobilitätsangeboten ist entscheidend.

Wichtig ist zudem die soziale und gesundheitliche Unterstützung. Dazu gehören die Bereitstellung von psychologischer Betreuung und Gesundheitsprogrammen sowie Hilfe bei Suchtproblemen oder an- deren gesundheitlichen Barrieren. Auch müssten Projekte gefördert werden, die Betroffene aktiv einbinden und stärken. Ein Beispiel hierfür ist die Schaffung von Plattformen für Austausch und Vernetzung, wie etwa die Stelle eines Armutsbeauftragten auf Länder- und Bundesebene.

Präventive Maßnahmen, wie die Investition in frühkindliche Bildung und Familienunterstützung, sind ebenso unerlässlich wie Programme zur Vermeidung von Schulabbruch und Jugendarbeitslosigkeit. Schließlich müssten die Antragsverfahren und bürokratischen Hürden vereinfacht werden. All diese Maßnahmen müssten regelmäßig evaluiert und an die aktuellen Bedürfnisse angepasst werden.

Die Diskussion um das Bürgergeld und der Vorwurf, Empfänger seien arbeitsunwillig, empfinde ich als unfair und pauschal. Eine solche Äußerung lenkt von den eigentlichen Problemen ab. Die große Mehrheit der Bürgergeld-Empfänger ist gar nicht in der Lage zu arbeiten, dazu zählen Kinder, ältere Menschen und Geflüchtete, die erst noch Deutsch lernen müssen. Es gibt zwar eine kleinere Gruppe von rund 1,8 Millionen Menschen, die arbeitsfähig wären, aber hier liegt die Aufgabe beim Staat, sie in Arbeit zu bringen. Die Lösung kann nicht sein, „nach unten zu treten“ und die Existenzgrundlage der Menschen zu gefährden.

HINTERGRUND Welche konkreten Lösungsansätze schlagen Sie vor, um die Zusammenarbeit der Hilfseinrichtungen zu verbessern?

DE VACHROI Mein Vorschlag zur Armutsbekämpfung ist inspiriert von den Erfahrungen während der Flüchtlingskrise 2015. Damals haben wir das große Rathaus Wilmersdorf als Deutschlands erste zentrale Sammelstelle eingerichtet, mit einem zentralen Koordinator. Unternehmen und Spender lieferten ihre Güter dort ab, und die Flüchtlingsheime konnten sich nach Bedarf bedienen.

Ein solches System sollte nun für die Armutsbekämpfung etabliert werden: Jedes Bundesland braucht einen zentralen Armutsbeauftragten und eine zentrale Lagerfläche. Stellen Sie sich vor, die über einhundert Obdachlosen- und Wohnungsloseneinrichtungen allein in Berlin könnten auf eine solche Stelle zugreifen. Sie müssten ihre wertvolle Zeit nicht mehr für die aufwendige Spendenakquise aufwenden, sondern könnten sich vollständig auf ihre eigentliche Arbeit konzentrieren. Zugleich würden Unternehmen genau wissen, wohin ihre Spenden gehen. Im Gegenzug für ihre Unterstützung erhielten sie nicht nur eine Spendenbescheinigung, sondern auch die verdiente mediale Aufmerksamkeit.

Das vollständige Interview mit Thomas de Vachroi lesen Sie in der aktuellen Ausgabe 11/12 2025 unseres Magazins, das im Bahnhofsbuchhandel, im gut sortierten Zeitungschriftenhandel und in ausgewählten Lebensmittelgeschäften erhältlich ist. Sie können das Heft auch auf dieser Website (Abo oder Einzelheft) bestellen.

THOMAS DE VACHROI ist seit 2024 Armutsbeauftragter der Evangelischen Landeskirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz und Initiator der bundesweiten Kampagne „Armut eine Stimme geben“. Seine langjährige Erfahrung als Heimleiter der Diakonie und als Armutsbeauftragter des Diakoniewerks Simeon und des Kirchenkreises Neukölln prägt sein Engagement für soziale Gerechtigkeit. Seine Biografie ist von einem bewegenden Schicksal geprägt: Nach seiner Inhaftierung in der DDR von 1980 bis 1986 aufgrund staatskritischer Gedichte übersiedelte er 1987 in die Bundesrepublik. Von 1999 bis 2005 war er als Entwicklungshelfer im Kosovo und in Albanien tätig.

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