Literatur

Buchbesprechung

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Schön REICH – Steuern zahlen die anderen

Wie eine ungerechte Politik den Vermögenden das Leben versüßt.

Von HELMUT LORSCHEID, 10. August 2009 –

Die Tatsache, dass Reiche in Deutschland nicht in Haft müssen, sondern mit eher läppischen
Geldstrafen belohnt werden, ist bekannt. Bekannt ist auch, dass in unserem Land Superreiche keine oder kaum Steuern zahlen. Das kennt man aus dem Fernsehen, zum Beispiel von Monitor. Zwei der dort als Autoren tätigen Journalisten, Sascha Adamek und Kim Otto, haben das Thema Steuerungerechtigkeit in ihrem neuen Buch zusammengefasst. Seite für Seite eine geballte Ladung Information über den real existierenden Kapitalismus in Deutschland und über den Staat als willfährigen Lakaien seiner reichen Steuerhinterzieher.

Eindrucksvoll ist die Gegenüberstellung eines Multimillionärs aus dem feinen Taunus und einer Krankenschwester. Während der Millionär es schafft, lediglich ein Einkommen von 26.000 Euro zu versteuern und am Ende gerade einmal 2.300 Euro Steuern im Jahr zahlt – und das völlig legal -, kann auf der anderen Seite die Kinderkrankenschwester, die zusammen mit ihrem Mann veranlagt wird, von 2.800 Euro brutto nur 1.200 Euro mit nach Hause nehmen. Zusammen mit ihrem Mann zahlt sie sieben Mal so viel Steuern wie der Millionär. Arbeitnehmer müssen, das ist bekannt, hierzulande immer größere finanzielle Belastungen schultern; Einkommensmillionäre, vermögende Unternehmer und Selbstständige hingegen profitierten weiterhin von einem Steuersystem, das den Gedanken an eine gerechte Besteuerung längst aufgegeben hat.

Ausführlich widmen sich die Autoren der Steuerverwaltung. Wer immer noch an so etwas wie eine, auch nur ansatzweise bestehende Steuergerechtigkeit in diesem Lande geglaubt hat, fällt nach der Lektüre des Buches von diesem Glauben ab. Er – oder sie – verliert vielleicht zugleich den Glauben an den Rechtsstaat, an die Gerechtigkeit der Justiz und weitere Festen dieses Staates.

Ganz sicher verliert ein Politiker jegliche Glaubwürdigkeit – Peer Steinbrück, jener Politiker, der in seiner Zeit als NRW Landesfinanzminister parteiintern Sturm lief, als seine für den Fremdenverkehr zuständigen Genossinnen im Bundestag sich anschickten, die für die Staatsfinanzen so existenziell wichtige und bedeutsame Trinkgeldbesteuerung abzuschaffen.

Peer Steinbrück der wackere Finanzpolitiker, begründete damals bei einem Hintergrundgespräch mit der Presse im Hinterzimmer einer Gaststätte in dem idyllischen Bonner Stadtteil Muffendorf voller Engagement, warum auf diese so unendlich bedeutsame Steuer unter gar keinen Umständen verzichtet werden kann. Selbst als NRW-Ministerpräsident, der er kurz nach diesem historischen Hintergrundgespräch wurde, setzte er sich weiterhin, wenn auch vergeblich, für die Beibehaltung der Trinkgeldbesteuerung ein.

Als Bundesfinanzminister beschimpfte er im Frühjahr dieses Jahres Steuerparadiese wie Österreich, die Schweiz und Liechtenstein. In dem Buch „Schön REICH“ wird detailliert beschrieben, wie es den Zollbeamten etwa an der deutsch-schweizer Grenze per Erlass untersagt ist, effektiv gegen Steuerhinterzieher und Geldverstecker vorzugehen. Die Autoren zitieren einen Erlass der Oberfinanzdirektion Karlsruhe vom 17. Mai 2004, der es den Zöllnern untersagt, nach Unterlagen zu suchen, die auf Steuerhinterziehung schließen lassen. Diesem Erlass zufolge sei die Bekämpfung der Geldwäsche das ausschließliche Ziel der Bargeldkontrollen an den Grenzen. Zitat aus dem Erlass: „Daher haben Maßnahmen, die (…) allein darauf gerichtet sind, solche Unterlagen als Kontrollmaterial (…) zur Weiterleitung an die Landesfinanzbehörden zu finden, zu unterbleiben.“ Steinbrücks Ministerium hat – entgegen dem lauthals propagierten „Trockenlegen“ der Steueroasen – nichts an diesem Erlass geändert, die Dienstanweisung gilt nach wie vor.

Zu einem solchen Erlass komme es, so die Autoren, wenn sich jemand beschwert. In diesem Fall wird sich jemand beschwert haben, der sehr viel Geld in der Schweiz hat und möglicherweise bei einer Bargeldkontrolle ertappt worden war oder Sorge hatte, bei künftigen Geldtransfers erwischt zu werden.

Neben Zöllnern schildern auch Steuerfahnder und Sachbearbeiter aus verschiedenen Bundesländern ihre Enttäuschung im Alltag. Die deutsche Steuerverwaltung – vom einfachen Finanzamt über die Betriebsprüfer bis zu den Steuerfahndern – wurde personell so ausgedünnt, dass sie es längst nicht mehr mit gewitzten Unternehmern und Selbstständigen, mit cleveren Wirtschaftsanwälten und Steuerberatern aufnehmen kann.

Die Autoren zitieren eine Finanzbeamtin, die von „Durchwinkwochen“ berichtet, in denen die Einkommensteuererklärungen von Selbstständigen und Unternehmern eins zu eins übernommen würden, um die quantitativen Zielvorgaben zu erfüllen. Finanzämter sind untereinander nicht vernetzt, viele Computerprogramme vollkommen veraltet und viele Beamte haben nicht einmal einen Internetzugang. Da werden besonders fähige Beamte und hoch spezialisierte Steuerfahnder von Prüfungen bestimmter Unternehmen plötzlich abgezogen oder gar in den Vorruhestand versetzt. Prüfer, die jährlich im Schnitt für Steuernachzahlungen von 1,5 Millionen Euro sorgen, werden nicht nur nicht zusätzlich eingestellt, sondern viele vorhandene Planstellen bleiben sogar unbesetzt.

Besonders drastisch scheint die Situation auch bei Steuerbehörden im Freistaat Bayern zu sein. So bleiben in einer Münchener Steuerfahndungsstelle 90 Prozent der Anzeigen gegen Steuersünder unbearbeitet. Diese Behörde ist zufälligerweise für den Starnberger See zuständig, wo besonders viele Millionäre wohnen. Offenbar ist eine zu genaue Prüfung der vermögenden Bevölkerungsschichten politisch gar nicht gewollt, vermuten die Autoren, etwa um einen Umzug in ein anderes Bundesland zu verhindern.

Aber auch in den „neuen“ Bundesländern brauchen sich Reiche keine Sorgen über allzu emsige Steuereintreiber zu machen. Sascha Adamek und Kim Otto zitieren aus einer internen Dienstanweisung aus Mecklenburg-Vorpommern, in der steht, dass „Steuerpflichtige (…) möglichst wenig behelligt werden sollen (unbürokratisches Verhalten, das heißt weitgehender Verzicht auf Belege und unnötige Kontrollen).“ Als Grund wird angegeben, den Unternehmen im Land gehe es nicht gut, die Konkurrenz sei groß.

Das Buch sollte zur Pflichtlektüre für alle Politiker werden. Es bietet ausreichend Gründe für eine grundsätzliche Überarbeitung unserer Steuervorschriften und enthält auch Vorschläge für eine Vereinfachung der deutschen Steuergesetzgebung.

Sascha Adamek, Kim Otto
Schön REICH Steuern zahlen die anderen
272 Seiten,gebunden Heyne Verlag, 17,95 Euro
ISBN 978-3-453-16287-7


"Tote Winkel" der NS-Forschung

von MARKUS HAWEL, 6. August 2009 –

Wer sich heute der Meistererzählung einer in der Bundesrepublik seit ihrem Anbeginn "erfolgreich praktizierten Demokratie" widersetzt, kann schnell zum Spielverderber abgestempelt werden. Immerhin schadet er dem "normalisierten" "Standort Deutschland", dessen symbolisches Kapital maßgeblich von seinem Ansehen in der Welt abhängt.

Aber etwas ist seltsam an dieser Meistererzählung. Sie passt nicht auf Anfang und Gegenwart der bundsrepublikanischen Geschichte. Sie verdeckt die alternativen Bestrebungen eines demokratischen, humanen Sozialismus, die es in der Adenauer-Ära gab, aber sich gegen den restaurativen und antikommunistischen Geist nicht durchzusetzen vermochten. Und sie ignoriert die gegenwärtige Krise der repräsentativen Demokratie, die – das könnte sich zeigen – viel mehr mit den restaurativen, fehlgeleiteten Anfängen zu tun hat, als bisher bewusst ist.

Schon deshalb wird die Meistererzählung vom "demokratischen Erfolgsmodell" von den herrschenden Eliten gegen Kritik verteidigt: Sie ist nützliches Vehikel für den neoliberalen Umbau der Gesellschaft, d.h. den Abbau sozial- und rechtsstaatlicher Strukturen, ohne dabei der Hypothek nationalsozialistischer Vergangenheit ins Auge sehen zu müssen.

Dagegen schreiben dreizehn überwiegend junge Autoren in dem von Stephan Alexander Glienke, Volker Paulmann und Joachim Perels herausgegebenen Sammelband "Erfolgsgeschichte Bundesrepublik?" an und beleuchten die langen Schatten des Nationalsozialismus, in denen sich die Nachkriegsgesellschaft befand. Es sei nur zum Teil gelungen, die katastrophische Vergangenheit erfolgreich aufzuarbeiten. Die Autoren zeigen, dass eine Hypothek auf der politischen Kultur der Nachkriegsgesellschaft, auf den Handlungsbereichen von Politik, Öffentlichkeit, Justiz, Wissenschaft und Kultur, lastet, deren Kontinuitätslinien bis in die Gegenwart aufzuspüren sind.

Zwar gebe es durchaus Formen einer angemessenen Aufarbeitung der NS-Herrschaft, die von den Autoren des Sammelbandes nicht angezweifelt werden. Aber ihnen geht es nunmehr um "weniger beachtete gesellschaftliche und politische Handlungsbereiche", die ins Blickfeld gerückt werden. Die jüngere Forschung über das postfaschistische Deutschland zeige, "dass die politische, ideologische und mentale Verwurzelung des nationalsozialistischen Regimes in der deutschen Gesellschaft sehr viel tief greifender war, als dies von der bisherigen Forschung erkannt wurde", schreiben die Herausgeber in der Einleitung.

Zunächst rückt Claudia Fröhlich in ihrem Aufsatz den von der Wissenschaft längst polemisch erst verkürzten und dann entsorgten Begriff der Restauration zurecht, indem sie an verschüttete Basistexte von Walter Dirks, Eugen Kogon, Hans-Werner Richter und Karl Jaspers erinnert und gegen die polemisierenden Kritiker des Restaurationsbegriffes, z.B. Werner Conze, in Stellung bringt. Daran wird deutlich, dass der Restaurationsbegriff zu Unrecht als widerlegt erscheint, weil seine analytische Relevanz nach wie vor von großer Tragweite ist. Jedenfalls ist der Restaurationsbegriff, wie ihn Walter Dirks bestimmt hat, kein politisch-agitatorischer Gegenbegriff zur Regierungspolitik von Konrad Adenauer gewesen, weil in ihm Modernisierung und Restauration überhaupt keinen Gegensatz darstellten. Dirks wies seinerzeit darauf hin, dass die Restauration niemals die alten Verhältnisse in Reinform wiederherstellen könne, sondern sich mit dem gewandelten Zeitgeist arrangieren müsse. Wiefern die Restauration ohne ihre Kritiker auf antidemokratische Verhältnisse hinausgelaufen wäre, ist allerdings eine offne Frage. Es gibt aber genügend Hinweise, dass jene, die Wert darauf legten, die normativen Ansprüche des Grundgesetzes zu realisieren und darum als Kritiker der Restauration in Erscheinung traten, maßgeblich dafür verantwortlich sind, dass sich die Bundesrepublik in keinen autoritären oder faschisierten Staat zurückverwandelte. Wenngleich eine humanitären und freiheitlichen Prinzipien verpflichtende Demokratie als unmittelbare Konsequenz aus dem Faschismus bisher ebenso nicht erstritten werden konnte.

Der gleichsam rehabilitierte Restaurationsbegriff ist für die nachstehenden Aufsätze das zentrale Paradigma. Die Randphänomene, die nunmehr ins Blickfeld der zwölf weiteren Autoren geraten, markieren ein neues Forschungsfeld für die Untermauerung der analytischen Relevanz der Restaurationsthese. Rainer Schuckart zeigt die personellen Kontinuitäten zwischen NS-Regime und Bundesrepublik in der konservativen Staatsrechtslehre auf und fokussiert auf einen einflussreichen Theoretiker der NS-Diktatur, Ernst Forsthoff, der dann in der Bundesrepublik zu einem der führenden Staatsrechtler wurde.

Hervorhebenswert sind auch zwei Aufsätze, die sich mit dem gesellschaftlichen Umgang des Nationalsozialismus beschäftigen. Shida Kiani zeichnet die antisemitische "Schmierwelle" des Winters 1959/60 nach und rekonstruiert die Umstände. Sie zeigt auf, wie der in der Bevölkerung nach wie vor virulente Antisemitismus mit einer in den Anfangsjahren wirkungsvoll verhinderten Aufarbeitung der NS-Vergangenheit einherging und sich im Rahmen antikommunistischer Ressentiments auf unpolitische "Rowdys" verschob. Stephan A. Glienke setzt sich mit der Darstellung von Auschwitz im öffentlichen Raum anhand der schwierigen Umsetzungsgeschichte des ersten deutschen Ausstellungsprojekts zum Völkermord Anfang der 1960er Jahre "Die Vergangenheit mahnt" auseinander.

Von besonderer Brisanz ist auch der Umgang der Justiz mit der NS-Vergangenheit. Axel von der Ohe beschäftigt sich mit dem Scheitern der strafrechtlichen Aufarbeitung von Justizverbrechen im "Dritten Reich", insbesondere der Rolle des Bundesgerichtshofes. Andreas Mix vergleicht dagegen die Gerichtspraxis der BRD und der DDR anhand zweier Strafprozesse gegen Exzesstäter aus dem Warschauer Ghetto und problematisiert diesbezüglich die personelle Kontinuität von Nazi-Richtern, die in der Bundesrepublik sehr häufig zu milden Urteilen und Freisprüchen geführt hat.

Der Sammelband schließt ab mit zwei Beiträgen, die den Blick konsequent ideologiekritisch auf neue Tendenzen in der Geschichtsschreibung richten. Joachim Perels analysiert "Hitlers Volksstaat" von Götz Aly und kritisiert, dass bei ihm die Herrschaftsstruktur des "Dritten Reiches" verwässert werde. Zudem gehe Aly von einem fragwürdigen Verständnis des Antisemitismus aus, der annähernd vollständig in ökonomischer Zweckrationalität aufgelöst werde. Eine ganze Reihe von bedeutsamen Begriffen (z.B. Volksstaat, Sozialstaat, Sozialismus) wird von Aly in ihrem historisch-sozialen Bedeutungsgehalt entstellt, indem sie unzulässigerweise auf die NS-Despotie angewandt wird. Darin zeige sich ein revisionistischer Versuch der Verunglimpfung von emanzipatorischen Ideen, die auch heute noch ihre Relevanz haben. Ralf Steckert setzt sich mit Jörg Friedrichs "Der Brand" und der neuerlichen Kontroverse um die Bewertung des Bombenkrieges gegen die deutsche Zivilbevölkerung auseinander. Anhand dieser kann man erkennen, wie der psychologische Mechanismus der Schuld-Abwehr sich in Form einer zweigeteilten Wahrnehmung durchsetzt, der den Blick auf den kausalen Gesamtzusammenhang verstellt, so dass dann der Diskurs einer "deutschen Opfergemeinschaft" entsteht, der den Täterdiskurs verdrängt und sich verselbständigt gegenüber den eigens zu verantwortenden Verbrechen des Nationalsozialismus.

Alle diese Themenfelder, die von den Autoren kenntnisreich und kritisch bearbeitet werden, ohne zu polemisieren, verweisen auf Hypotheken der NS-Vergangenheit, die nicht richtig aufgearbeitet, sondern verdrängt wurden. Insofern widersprechen die Autoren der Meistererzählung des demokratischen "Erfolgsmodells" der Bundesrepublik. Die Herausgeber machen aber auch deutlich, dass "die überwältigende Mehrheit der politisch Verantwortlichen der unwiderruflichen Lektionen der Geschichte bewusst" seien. Dies zeige sich etwa, wenn fremdenfeindliche oder antisemitisch motivierte Gewalttaten einhellig verurteilt werden. Es wäre aber kritisch zu hinterfragen, wie tief diese Überzeugung geht. Es könnten auch eine rein symbolische Vergangenheitspolitik und eine verdinglichte Erinnerungspraxis sein, die bloß auf "Normalisierung" zielt, gleichsam eine Rhetorik ist, die moralisch zwar geläutert, aber praktisch kaum zu weitreichenden Schlüssen bereit wäre, sondern sich hervorragend mit der Meistererzählung verträgt, weil schließlich alles dann so bleiben könnte, wie es ist.

Die Frage mag hier unerörtert bleiben, die Autoren des Sammelbandes haben jedenfalls zusätzlich "tote Winkel" ausgeleuchtet und damit einen wichtigen Beitrag zur Vertiefung der NS-Forschung geliefert.

Erfolgsgeschichte Bundesrepublik? Die Nachkriegsgesellschaft im langen Schatten des Nationalsozialismus, hrsg. v. Stephan Alexander Glienke, Volker Paulmann, Joachim Perels, Göttingen: Wallstein Verlag 2008 – 36 € – ISBN 978-3-8353-0249-5

Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Autors. Die Rezension erschien zuerst bei SOPOS (Sozialistische Positionen).


Mehr Liaison als Kontrolle

Von HELMUT LORSCHEID, 15. Juli 2009 –

Stefanie Waske recherchierte die Kontrolle des BND durch Parlament und Regierung in den Jahren von 1955 bis 1978

Manche Bücher haben es in sich. Stefanie Waskes Dissertation gehört zu diesen Büchern. Der Titel „Mehr Liaison als Kontrolle“ passt zum Inhalt. Die Autorin verdeutlicht, wie ausgezeichnet es Reinhard Gehlen verstand, sein Herrschaftswissen für den eigenen Machterhalt einzusetzen. Reinhard Gehlen, Generalmajor der Reichswehr, war von 1942 bis 1945 führend im militärischen Nachrichtendienst „Fremde Heere Ost“ für die Überwachung der Feindbewegungen an der Ostfront zuständig. Nach Kriegsende konnte Gehlen mit US-amerikanischer Unterstützung seine Karriere als Leiter der nach ihm benannten “Organisation Gehlen“ fortsetzen. Aus dieser „Org Gehlen“ wurde unter Bundeskanzler Konrad Adenauer 1955 der Bundesnachrichtendienstes (BND) gebildet, mit Gehlen als erstem Präsidenten.

Diejenigen, die Gehlen und seine Mitarbeiter eigentlich kontrollieren sollten, wurden nicht selten von Gehlen persönlich und von BND-Mitarbeitern instrumentalisiert. Gehlen und seinem BND gegenüber wohlgesonnene Minister, Regierungsbeamte und Abgeordnete, bekamen mehr und vor allem frühzeitig spannende Informationen aus Pullach. Andere wurden eher zögerlich, weniger gründlich und vor allem deutlich später informiert. Information als Waffe – auch im parteipolitischen Konkurrenzkampf.

Etliche Bundestagsabgeordnete bemühten sich mehr um gute Informationszugänge bei den Geheimen. Dabei gab es ein Geben und Nehmen. Waske schreibt dazu: „Der Kontakt zwischen dem BND und den Abgeordneten vertiefte sich über die Jahre. Auf der einen Seite bekamen die Parlamentarier Einblicke, auf der anderen entstanden Abhängigkeiten. Sehr treffend formulierte dies 1974 der ehemalige Mitarbeiter des Kanzleramtes (Reinhold, Anm. Red.) Mercker während des Guillaume-Untersuchungsausschusses, der BND habe ‘Vielleicht zu viel’ den Kontakt gesucht und gefunden. (1)

Zu denen, die gerne und oft in Pullach weilten, gehörte der SPD-Abgeordnete Fritz Erler. Erler, selbst zeitweise von den Nazis inhaftiert, betätigte sich als Zuträger und war sich nicht zu schade, dem von alten Nazis durchsetzten Geheimdienst die Namen und Adressen seiner ehemaligen kommunistischen Mitgefangenen zu verraten. Diese hatten sich an ihn gewandt, weil sie fürchteten, dass ihre Organisation, die Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes (VVN), als „KPD-nah“ von der Adenauer-Regierung verboten werden könnte.

Doch statt diesen Antifaschisten zu helfen, gab Erler ihre Namen und Adressen an Gehlen weiter und schrieb ihm dazu: „Ich wollte Ihnen nur die Daten geben, weil das zur Abrundung Ihres Bildes über derartige Aktionen vielleicht nicht ganz uninteressant ist.“ (2)

Dass der BND von Anfang an stets auch Inlandsaufklärung betrieben hat, ist nicht neu, wird aber in diesem Buch eindrucksvoll belegt. Diese Tatsache geht sogar aus den Haushaltsplänen hervor. So betrugen 1956 die Reisekosten des BND für das Inland stolze 800.000 D-Mark, während Auslandsreisen mit gerade einmal 53.000 D-Mark zu Buche schlugen. Erstaunlich für einen Auslandsgeheimdienst. (3)

Zu den stets überwachten Personen gehörten nicht nur linke Gruppierungen der außerparlamentarischen Opposition, sondern auch der damalige Außenminister Willy Brandt. Karl Theodor Freiherr von und zu Guttenberg (*1921-+1972), der erste Parlamentarische Staatssekretär im Bundeskanzleramt, ließ sich vom BND gerne über die SPD informieren. Er war für die Dienstaufsicht über den BND zuständig. An ihn gingen die BND-Berichte über die Amtsführung von Außenminister Brandt. Unter BND-Überwachung standen auch die linken Studenten an der Berliner Freien Universität.

Eindrucksvoll belegt wird darüber hinaus die enge Zusammenarbeit zwischen dem BND und den Redaktionen großer politischer Magazine, wie etwa dem „Spiegel“ und dem „Stern“.

Stefanie Waskes Arbeit bildet eine lohnende Lektüre für alle, die mehr wissen wollen über die jüngere deutsche Geschichte und über das bis heute andauernde unselige Zusammenspiel zwischen Geheimdiensten, Politikern und Medien.

(1) Protokoll der 23. Sitzung des 2. UA der 7. Wahlperiode des Deutschen Bundestages, Aussage des Sachverständigen Mercker, PA-DBT 7. November 1974, S. 113
(2) Brief Fritz Erler an Reinhard Gehlen, 11. April 1960, AdsD, SPD-BT-Fraktion, 3. WP, Mappe 274 (Waske S. 51)
(3) Waske Seite 57


Stefanie Waske
Mehr Liaison als Kontrolle
Die Kontrolle des BND durch Parlament und Regierung 1955 – 1978
2009, 320 Seiten, Maße:
VS Verlag ISBN-13: 9783531163475
34,90 Euro


Um Hoffnung kämpfen

Von HELGARD BARAKAT, 30. März 2009 –

Um Hoffnung kämpfen, so lautet der Titel von Felicia Langers jüngstem Buch. Es leuchtet in flammendem Rot, und genauso flammend ist ihr ungebrochenes Engagement für ihre selbst gewählte Lebensaufgabe: einen gerechten Frieden im Nahen Osten. Ungebrochen trotz zeitweilig widriger Umstände, weil es auf einem unerschütterlichen Fundament steht:
einem unbestechlichen Gerechtigkeitssinn, einer ausgeprägten Mitleidensfähigkeit, ihrer persönlichen Lehre aus den Erfahrungen des Holocaust: nicht wegschauen, nicht schweigen, wenn Unrecht geschieht, – und einer großen Portion Zivilcourage.

Deswegen stritt sie 23 Jahre als Rechtsanwältin vor israelischen Gerichten für die Rechte ihrer palästinensischen Mandanten und dokumentierte als erste die systematischen Menschenrechtsverletzungen, denen sie begegnete, und machte sie publik. Seit mehr als 18 Jahren setzt sie sich in Deutschland unermüdlich für die Rechte des palästinensischen Volkes auf einen gerechten Frieden ein, durch Reden, Vorträge, Interviews, Diskussionsbeiträge und durch Bücher. Im vorliegenden Buch gibt sie Einblicke in Stationen und Facetten ihres Lebens als Friedensaktivistin, seit 1999. Wir erleben mit ihr freudige Ereignisse wie Geburtstage, goldene Hochzeit, die Geburt des jüngsten Enkelkindes, Preisverleihungen und Ehrungen. Denn diese emotionale Geborgenheit im Familien- und Freundeskreis sind für Felicia Langer unerlässliche Quelle von Kraft und Energie. Aber immer wieder dringt das Schicksal der Palästinenser in den Vordergrund. Tagtäglich erreichen sie Nachrichten über Tötungen, Verhaftungen, Bombardierungen, Enteignungen, Häuserzerstörungen, Verweigerung von Grundrechten.

Dabei sind die Grundlagen für einen Frieden unbestritten, die Bereitschaft der palästinensischen Seite, Israel in den Grenzen von 1949, d.h. in 78% des historischen Palästina anzuerkennen, und die relevanten UN-Resolutionen, wie es auch der arabische Friedensplan von 2002 vorsieht. Aber die israelischen Regierungen weigerten sich bisher, ihre fatale zionistische Ideologie, maximale Landnahme bei Minimierung der palästinensischen Bevölkerung durch verschiedene Formen ethnischer Säuberung, aufzugeben. Stattdessen übten sich die Regierenden in Friedensrhetorik und Schaffung vollendeter Tatsachen in den palästinensischen Gebieten, wobei es paradoxerweise immer wieder gelang, der palästinensischen Seite die Schuld für das Nichtzustandekommen von Friedensvereinbarungen zuzuschieben. Und westliche Politiker und Medien haben das heuchlerische Spiel bisher brav mitgespielt.

Felicia Langer scheut sich nicht, Ross und Reiter beim Namen zu nennen, und freut sich, dass im Laufe der letzten Jahre immer mehr prominente Stimmen dazugekommen sind, Politiker, Publizisten, Kirchenleute, Friedensgruppen, sowohl in Deutschland wie weltweit.
Trotzdem muss sie noch immer gegen verschleiernde oder entstellende Berichterstattung oder Einflussnahme von pro-zionistischen Gruppen kämpfen. Man wirft ihr Einseitigkeit und Parteilichkeit vor, aber sie verurteilt auch Rechtsbrüche auf palästinensischer Seite. Und Parteinahme für den Schwachen und Benachteiligten hält sie für berechtigt. Denn Israels Zukunft ist auf Dauer nur gesichert, wenn es mit seinen Nachbarn und innerstaatlich Frieden schaffen kann.

Die jüngste Militäraktion im Gazastreifen, der Bau der Apartheidsgrenzanlage überwiegend auf palästinensischem Boden und die aggressive Ausweitung der kolonialistischen Siedlungen in der Westbank lassen die Hoffnung auf eine friedliche Lösung, zwei Staaten für zwei Völker, eher unrealistisch erscheinen, aber Felicia Langer ist nicht bereit, diese Hoffnung aufzugeben. Sie wird weiter kämpfen und der Welt ins Gewissen reden. Denn kolonialistische Unternehmungen und Apartheidspolitik haben auf Dauer keine Überlebenschance. Das lehrt die Geschichte.


Die Gerechtigkeitslücke – Wie die Politik die Gesellschaft spaltet

Ottmar Schreiner schreibt Klartext.

Von HELMUT LORSCHEID, 17. September 2008:

Wenn ein Politiker im Vorwahlkampf ein Buch verfasst, möchte er meist nicht nur mitteilen, was er alles weiß und was der denkt. Er hofft auch auf LeserInnen, die sich nach Lektüre dieses Buches noch mehr geneigt zeigen, der von ihm vertretenen Partei ihre Stimme zu geben. Das mag auch die Absicht des Autors Ottmar Schreiner gewesen sein. Aber wer sein neues Buch liest, wird anschließend alles mögliche wählen, nur garantiert nicht (mehr) die SPD. Schreiner gehört der SPD seit 1969 an, also im Wahljahr 2009 genau 40 Jahre.

Bereits auf Seite 21 nimmt er den neuen Kanzlerkandidaten seiner Partei auseinander, indem er fragt: „Soll die Politik der Agenda 2010 weiter vorangetrieben werden, wie es Frank-Walter Steinmeier, einer ihrer Hauptarchitekten, stellvertretend für einen Teil der SPD fordert oder führt ihre Forderung zu einer immer größer werdenden Gerechtigkeitslücke in unserer Gesellschaft, die den sozialdemokratischen Markenkern ‚soziale Gerechtigkeit’ in Trümmer legt. Kurzum: Ist die Agenda 2010 eine ‚Modernisierung mit sozialem Augenmaß’ oder führt sie zur Entsozialdemokratisierung der SPD und damit zur politischen Selbstentsorgung einer außer sich geratenen Partei?“

Diese Frage beantwortet Schreiner, der ewige Mahner und glaubwürdige Linke in der SPD, in seinem Buch mit einem klaren „Ja“. Schreiner schreibt es nicht direkt, aber das Buch ist in seiner Gesamtheit eine Abrechnung mit den Schröders, Steinmeiers, Steinbrücks und Münteferings. Mit schlüssigen Argumenten, statistischen Zahlen und Fakten belegt der Buchautor, dass die Hartz-IV-Reformen keineswegs zu mehr (sozialverträglichen) Arbeitsplätzen geführt haben, sondern lediglich zu mehr sozialer Kälte und zu Tausenden Niedriglohnjobs. Immer mehr Menschen leben in Angst, in nackter Existenzangst, immer mehr Menschen können von ihrem Minilohn für Vollzeitarbeit den Lebensunterhalt nicht mehr bestreiten. „Das Hartz-IV-Instrumentarium führt immer mehr Menschen in einen Teufelskreis, in dem sich wachsende Lohnarmut und sinkendes Existenzminimum wechselseitig verschränken: Ein sinkendes Einkommensniveau im Niedriglohnbereich drückt nämlich seinerseits wegen des sogenannten Lohnabstandsgebots und der Methode der Regelsatzberechnung beim Arbeitslosengeld II auf das soziokulturelle Existenzminimum, das sich am Verbraucherverhalten des unteren Einkommensfünftels der Bevölkerung bemisst.“

Klingt plausibel – so hat es noch keiner erklärt.

Schreiner verlangt nicht einfach nur mehr Geld für die Bildung, für vernünftig bezahlte Jobs und Investitionen in soziale Verantwortung. Nein, er sagt auch, wo das Geld dafür zu holen wäre, mit dem all das – und noch viel mehr – bezahlt werden könnte, wenn man denn wollte.

Schreiner will das fehlende Geld dort holen, wo es liegt, zum Beispiel in Liechtenstein. „Die Oberschicht verfügt nicht nur über Privilegien in Form von teilweise extrem hohen Vermögen und Vermögenserträgen, Gehältern und Abfindungen, die auch noch durch niedrige Steuern und etliche Steuerminderungsmöglichkeiten begünstigt werden. Viele versuchen darüber hinaus auch noch, sich durch Steuerhinterziehungen auf kriminelle Weise zu bereichern. Legitimes Gewinnstreben schlägt um in Gier, die zu enormen Steuerausfällen führt, das gesellschaftliche Klima vergiftet und die politische Stabilität gefährdet, die ja auch auf dem Grundsatz beruht, dass vor dem Gesetz alle gleich sind.“

Schreiner erinnert daran, dass die Rechnungshöfe der Länder und des Bundes seit längerem die fehlende Kontrolldichte und mangelhafte Steuerfahndungen anprangern. Der Politiker schlägt eine Lockerung des Bankgeheimnisses vor. Dieses Mal aber nicht für Bezieher von Hartz-4-Leistungen,

die vor den Behörden hinsichtlich ihrer Ersparnisse einen Komplettstriptease hinlegen müssen, sondern ausnahmsweise einmal für potentielle Steuerhinterzieher. Sein Vorschlag: Für grenzüberschreitende Überweisungen könnte der Gesetzgeber eine automatische Meldepflicht der hiesigen Banken an das Finanzamt des Kunden einfordern. Das würde seiner Auffassung nach „die Steuermoral nachhaltiger stärken, als Steueramnestien, die eher das Gegenteil bewirken“. Ein netter Gedanke, aber wohl außerhalb des politischen Wollens von Merkel, Steinmeier und Westerwelle.

Ottmar Schreiner hat ein faktenreiches und wichtiges Buch geschrieben, geeignet für die politische Auseinandersetzung im Alltag ebenso wie für die Aufarbeitung der jüngeren Arbeitsmarkt-, Sozial- und Gesellschaftspolitik.

Ottmar Schreiner: Die Gerechtigkeitslücke – Wie die Politik die Gesellschaft spaltet.
270 Seiten, Propyläen-Verlag der Ullstein Buchverlage, Berlin 2008
19,90 Euro ISBN: 978-3-549-07349-0


Unter Taliban, Warlords und Drogenbaronen

Reinhard Erös, 1948 geboren, war Oberstarzt der Bundeswehr und lehrte an nationalen und internationalen Militärakademien Interkulturelle Kompetenz. Vor zwanzig Jahren ließ er sich von der Bundeswehr unbezahlt beurlauben und behandelte während des sowjetisch-afghanischen Krieges am Hindukusch Tausende von Menschen. Seine Frau baute derweil im benachbarten pakistischen Peschawar eine Schule für Flüchtlingskinder auf. Seit 2002 unterrichtet er NATO-Offiziere und deutsche Polizeibeamte und bereitet sie auf ihren Einsatz in Afghanistan vor. Erös plädiert jedoch keineswegs für den „Krieg gegen den Terror, sondern für zukunftsorientierte Hilfe, orientiert an den tatsächlichen Bedürfnissen in diesem von zwanzig Jahren Krieg gezeichneten Land.

Reinhard Erös hat ein spannendes, persönliches aber auch sehr informatives Buch geschrieben. Persönlich, in dem er einzelne seiner afghanischen Freunde und langjährigen Weggefährten ihre eigene Lebensgeschichte erzählen lässt. Diese individuelle Lebenserfahrung fesselt, schafft Nähe,

Verständnis und auch Sympathie für die Menschen in diesem geschundenen Land.

Oft sehr persönlich auch die Schilderung der eigenen praktischen Arbeit im Rahmen der von Erös und seiner Familie gegründeten „Kinderhilfe Afghanistan“. Spannend im Erzählstil und informativ in der Beschreibung der Situation in Afghanistan, seiner jüngsten Geschichte und Gegenwart.

Eindrucksvoll etwa die Lebensgeschichte Khazan Gul, dem nach einem erfolgreichen Studium der Mathematik und Physik in Frankfurt am Main, der Aufbau von Schulen und die Unterrichtung der Kinder seiner Heimat wichtiger war, als eine ihm offen stehende Karriere in Deutschland. Gul von drei afghanischen Regimes dreimal inhaftiert, wurde 2001 zum Erziehungsminister seiner Provinz gewählt. Er schildert die Enttäuschung darüber, wie nach all den Versprechungen über internationale Hilfe bei der Petersberg-Konferenz, statt der erhofften deutschen Hilfe etwa für die Lehrerausbildung, amerikanische Kampftruppen kamen, die lediglich ein großes Militärcamp für Tausende Soldaten aufbauten und seit Jahren in den Dörfern eine rücksichtslose Jagd auf vermeintliche Taliban-Kämpfer veranstalten. Willkürlich würden Personen verhaftet und in die US-Folterlager verschleppt. Der Hass der Bevölkerung gegen die amerikanischen Besatzer nehme täglich zu.

Wenn von den Amerikanern etwas anderes kommt, als Krieg und Terror, dient dies ebenfalls nicht wirklich der Entwicklung des Landes. Zum Beispiel die von US-Präsident Bush international als „50 Millionen-Dollar-Lebensmittelhilfe“ der US-Regierung propagierte Lieferung von zehntausenden Tonnen Weizen. Eher eine „Hilfe zur Selbsthilfe“ für die US-Farmer. Der Weizen stammte aus deren, auf dem Weltmarkt praktisch unverkäuflichen Überproduktion und wurde deshalb von der US-Regierung als Stütze für die eigenen Farmer aufgekauft.

Bush ließ sich für diesen „humanitären Akt“ feiern. Tatsächlich ruinierte er damit den gerade erst im Aufbau befindlichen afghanischen Weizenmarkt – gedacht auch als Alternative zur Schlafmohnproduktion. Die Bauern blieben wegen des US-Weizengeschenks auf ihrem Getreide sitzen, ihre monatelange Arbeit war umsonst. Außerdem hatten sie sich für den Kauf des Saatgut verschuldet. Im Jahr darauf bauten sie statt Weizen wieder Schlafmohn an.

Überhaupt gedeiht der Mohnanbau und Umsatz unter der US-amerikanischen Schirmherrschaft vorzüglich. Wurden 2002 noch etwa 800 Tonnen Rohopium gewonnen, sind es 2007 rund 8.200 Tonnen. Rund 3,5 Millionen Einwohner Afghanistans (15 Prozent der Bevölkerung) leben Erös zufolge ausschließlich vom Schlafmohnanbau. In 21 der 34 Provinzen werde Schlafmohn angebaut. Die Zahlen zeigten: Seit die Bundeswehr im Rahmen von ISAF und OEF in Afghanistan eingesetzt ist, habe sich die Finanzierung des islamischen Terrorismus durch den Drogenanbau in Afghanistan verzehnfacht. Auch die Taliban-Schulen, wie die von Erös besuchte und im Buch beschriebene Kaderschmiede Haqqania im pakistanischen Ort Akora Khattak, brauchen sich über Nachwuchs keine Sorgen zu machen. Der tägliche Terror der US-Militärs in ihrem vermeintlichen „Krieg gegen den Terror“ sorgt für stetig wachsenden Zulauf.

(Helmut Lorscheid)

Reinhard Erös „Unter Taliban, Warlords und Drogenbaronen Eine deutsche Familie kämpft für Afghanistan“ 365 Seiten, März 2008, Verlag Hoffmann und Campe, 19,90 Euro,
ISBN 978-3-455-50074-5


Bücher zum G8-Gipfel

Eine Buchsprechung
von Helmut Lorscheid, 17. Januar 2008

Die Ergebnisse des G8-Treffens waren, soweit sie veröffentlicht wurden, eher mager. Bitter und hart sind die Folgen für zahlreiche Demonstranten, die – mehr oder weniger – zufällig und willkürlich in die Fänge von Polizei und Justiz gerieten. Hunderte wurden grundlos stunden- oder auch tagelang inhaftiert und in Gitterkäfigen „gehalten“.

Über den Verlauf der Polizeieinsätze bei der Großdemonstration in Rostock und die den Gipfel begleitenden Aktivitäten berichten zwei neue Bücher: „Feindbild Demonstrant“ und „Gewaltbereite Politik und der G8-Gipfel"

Feindbild Demonstrant – Polizeigewalt, Militäreinsatz, Medienmanipulation – Der G8-Gipfel aus Sicht des Anwaltlichen Notdienstes“ –

Der Titel dieses Buches gibt unmittelbar wieder, worüber Mitglieder des Legal Teams berichten, das anläßlich des G8-Gipfels vom Republikanischen Anwältinnen- und Anwälte-Verein e.V. gemeinsam mit einigen ausländischen Anwälten und Anwältinnen eingerichtet wurde.

Nach den Erfahrungen mit dem Verhalten der Polizei bei vorherigen Gipfeln, wie dem in Neapel 2001 (1), war für die Anwälte klar, daß auch in Rostock ein solches Legal Team notwendig sein werde.

Detailliert berichten 23 Autoren (Anwälte, Soziologen und Journalisten) über ihre praktischen Erfahrungen mit Polizei und Justiz in einem Umfeld, welches mehr einem Polizeistaat, als einem demokratisch verfaßten Rechtsstaates entsprach. Einige Anwälte wurden bei Festnahmen durch Beamte mit Prügel an ihrer Arbeit gehindert. Staatsanwaltschaft und sogar Gerichte richteten sich in Polizeistützpunkten ein. Polizisten entschieden darüber, ob Rechtsanwälte Zugang zu Staatsanwälten und Richtern erhielten. Die Verweigerung des Rechtsschutzes für protestierende Bürgerinnen und Bürger bezeichnet die Hamburger Anwältin Ulricke Donat in ihrem Kapitel als „einen Angriff auf Freiheit, Rechtsstaat und Gewaltenteilung.“ Sie berichtet über ihre Arbeit in der „Gefangenensammelstelle (GESA) wo Anwälten mehrfach „Hausverbot“ erhielten.

Deutlich wird in diesem wichtigen Buch auch, wie die von Politikern wie Bundesinnenminister Schäuble verbreitete Terrorhysterie maßgeblich das mediale Umfeld und dessen G8-Berichterstattung bestimmt hat. Diese gezielt verbreitete Angst vor terroristischen Anschlägen beeinflußte offenbar auch die höchsten Gerichte, so daß deren Entscheidungen zu weitgehenden Einschränkungen des Demonstrationsrechts führten.

Das Buch Feindbild Demonstrant ist ein Lehrstück darüber, wie fragil dieser Rechtsstaat ist und wie leicht einige wenige Politiker diese Gesellschaft und sämtliche Verfassungsorgane für ihre Zwecke beeinflussen und mißbrauchen können – diese manipulative politische Einflußnahme geschieht um so wirksamer, je willfähriger und unseriöser sich die Massenmedien an diesem unsauberen Spiel beteiligen.

Das Buch schildert, durchaus spannend geschrieben, die praktische Arbeit des Legal Team. Die darin engagierten Anwälte und Anwältinnen erhielten für dieses Engagement von der Internationalen Liga für Menschenrechte die Carl-von-Ossietzky-Medaille und den Preis „pro reo“ von der Arbeitsgemeinschaft Strafrecht des Deutschen Anwaltsvereins.

(1) http://de.wikipedia.org/wiki/G8-Gipfel_in_Genua_2001

Feindbild Demonstrant, Polizeigewalt, Militäreinsatz, Medienmanipulation. Der G8-Gipfel aus Sicht des Anwaltlichen Notdienstes, Verlag Assoziation A, Berlin, 2007, 175 Seiten, Paperback,

19 Euro, ISBN 978-3-935936-68-2; http://www.assoziation-a.de/neu/Feindbild_Demonstrant.htm

Nun zum Buch Gewaltbereite Politik und der G8-Gipfel.

Außer dem Legal Team unter dem Dach des Republikanischen Anwältinnen- und Anwälte-Vereins nahmen auch Mitglieder des Komitee für Grundrechte und Demokratie als Demonstrationsbeobachter an den Anti-G8-Demonstrationen um Heiligendamm teil.
Das Komitee für Grundrechte und Demokratie – eine aus dem Russell-Tribunal über die Situation der Menschenrechte in der Bundesrepublik Deutschland 1978/79 hervorgegangene Bürgerrechtsorganisation – schildert, seine Erfahrungen aus den Demonstrationsbeobachtungen auf der Grundlage der Vorgeschichte dieses G8-Gipfels.. Sicherheit galt ausschließlich dem Gipfel und seinen Teilnehmern, angebliche „terroristische“ Gefahren wurden systematisch konstruiert. Die Bürger und Bürgerinnen wurden generell zu verdächtigen Personen. Sie wurden nur noch als Sicherheitsrisiko wahrgenommen. Das Grundrecht auf Versammlungsfreiheit, wurde bis zur Unkenntlichkeit eingeschränkt.

In einer Chronologie des demonstrativen Geschehens wird die Geschichte der Protesttage erzählt: Von den Auseinandersetzungen am Rande der Großdemonstration am Samstag in Rostock bis zu den Blockaden am Zaun rund um Heiligendamm während des G8-Gipfels. Die in den Medien vom Bundesinnenministerium, dem mecklenburgischen Innenminister, und hohen Polizeisprechern verbreite Legende von der vermeintlichen „Deeskalationsstrategie“ der Polizei wird als „arglistige Täuschung“ durch staatliche Institutionen bezeichnet und diese Charakterisierung wird im Buch ausführlich begründet.

Problematisiert wird ferner der während der Proteste gegen den G8-Gipfel anschaulich praktizierte Einsatz der Bundeswehr im Innern. Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts darüber, inwieweit der Einsatz von Tornados und Panzerspähwagen auch nach Ansicht des obersten Gerichts verfassungswidrig war, steht noch aus. Das Komitee für Grundrechte und Demokratie beschreibt die um Heiligendamm erlebte Praxis des von vielen Demonstranten als sehr bedrohlich empfunden Militäreinsatzes gegen die eigene Bevölkerung und nimmt dagegen deutlich Stellung. Ein wichtiges Sachbuch – auch für den staatsbürgerlichen Unterricht an unseren Schulen.

Gewaltbereite Politik und der G8-Gipfel, Demonstrationsbeobachtungen vom 2.- 8. Juni 2007 rund um Heiligendamm, Köln 2007, Paperback, ISBN 978-3-88906-125-6; 192 Seiten, 10 Euro

Das Buch kann auch unter folgendem link bestellt werden:
http://www.grundrechtekomitee.de/ub_showarticle.php?articleID=259
Elke Steven
Komitee für Grundrechte und Demokratie
Aquinostr. 7 – 11, 50670 Köln
Tel.: 0221 – 97269 -30, Fax: – 31


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