Literatur

Die Gerechtigkeitslücke – Wie die Politik die Gesellschaft spaltet

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Die Gerechtigkeitslücke – Wie die Politik die Gesellschaft spaltet –

Ottmar Schreiner schreibt Klartext. –

Von HELMUT LORSCHEID –

Wenn ein Politiker im Vorwahlkampf ein Buch verfasst, möchte er meist nicht nur mitteilen, was er alles weiß und was der denkt. Er hofft auch auf LeserInnen, die sich nach Lektüre dieses Buches noch mehr geneigt zeigen, der von ihm vertretenen Partei ihre Stimme zu geben. Das mag auch die Absicht des Autors Ottmar Schreiner gewesen sein. Aber wer sein neues Buch liest, wird anschließend alles mögliche wählen, nur garantiert nicht (mehr) die SPD. Schreiner gehört der SPD seit 1969 an, also im Wahljahr 2009 genau 40 Jahre.

Bereits auf Seite 21 nimmt er den neuen Kanzlerkandidaten seiner Partei auseinander, indem er fragt: „Soll die Politik der Agenda 2010 weiter vorangetrieben werden, wie es Frank-Walter Steinmeier, einer ihrer Hauptarchitekten, stellvertretend für einen Teil der SPD fordert oder führt ihre Forderung zu einer immer größer werdenden Gerechtigkeitslücke in unserer Gesellschaft, die den sozialdemokratischen Markenkern ‚soziale Gerechtigkeit’ in Trümmer legt. Kurzum: Ist die Agenda 2010 eine ‚Modernisierung mit sozialem Augenmaß’ oder führt sie zur Entsozialdemokratisierung der SPD und damit zur politischen Selbstentsorgung einer außer sich geratenen Partei?“

Diese Frage beantwortet Schreiner, der ewige Mahner und glaubwürdige Linke in der SPD, in seinem Buch mit einem klaren „Ja“. Schreiner schreibt es nicht direkt, aber das Buch ist in seiner Gesamtheit eine Abrechnung mit den Schröders, Steinmeiers, Steinbrücks und Münteferings. Mit schlüssigen Argumenten, statistischen Zahlen und Fakten belegt der Buchautor, dass die Hartz-IV-Reformen keineswegs zu mehr (sozialverträglichen) Arbeitsplätzen geführt haben, sondern lediglich zu mehr sozialer Kälte und zu Tausenden Niedriglohnjobs. Immer mehr Menschen leben in Angst, in nackter Existenzangst, immer mehr Menschen können von ihrem Minilohn für Vollzeitarbeit den Lebensunterhalt nicht mehr bestreiten. „Das Hartz-IV-Instrumentarium führt immer mehr Menschen in einen Teufelskreis, in dem sich wachsende Lohnarmut und sinkendes Existenzminimum wechselseitig verschränken: Ein sinkendes Einkommensniveau im Niedriglohnbereich drückt nämlich seinerseits wegen des sogenannten Lohnabstandsgebots und der Methode der Regelsatzberechnung beim Arbeitslosengeld II auf das soziokulturelle Existenzminimum, das sich am Verbraucherverhalten des unteren Einkommensfünftels der Bevölkerung bemisst.“

Klingt plausibel – so hat es noch keiner erklärt.

Schreiner verlangt nicht einfach nur mehr Geld für die Bildung, für vernünftig bezahlte Jobs und Investitionen in soziale Verantwortung. Nein, er sagt auch, wo das Geld dafür zu holen wäre, mit dem all das – und noch viel mehr – bezahlt werden könnte, wenn man denn wollte.

Schreiner will das fehlende Geld dort holen, wo es liegt, zum Beispiel in Liechtenstein. „Die Oberschicht verfügt nicht nur über Privilegien in Form von teilweise extrem hohen Vermögen und Vermögenserträgen, Gehältern und Abfindungen, die auch noch durch niedrige Steuern und etliche Steuerminderungsmöglichkeiten begünstigt werden. Viele versuchen darüber hinaus auch noch, sich durch Steuerhinterziehungen auf kriminelle Weise zu bereichern. Legitimes Gewinnstreben schlägt um in Gier, die zu enormen Steuerausfällen führt, das gesellschaftliche Klima vergiftet und die politische Stabilität gefährdet, die ja auch auf dem Grundsatz beruht, dass vor dem Gesetz alle gleich sind.“

Schreiner erinnert daran, dass die Rechnungshöfe der Länder und des Bundes seit längerem die fehlende Kontrolldichte und mangelhafte Steuerfahndungen anprangern. Der Politiker schlägt eine Lockerung des Bankgeheimnisses vor. Dieses Mal aber nicht für Bezieher von Hartz-4-Leistungen,

die vor den Behörden hinsichtlich ihrer Ersparnisse einen Komplettstriptease hinlegen müssen, sondern ausnahmsweise einmal für potentielle Steuerhinterzieher. Sein Vorschlag: Für grenzüberschreitende Überweisungen könnte der Gesetzgeber eine automatische Meldepflicht der hiesigen Banken an das Finanzamt des Kunden einfordern. Das würde seiner Auffassung nach „die Steuermoral nachhaltiger stärken, als Steueramnestien, die eher das Gegenteil bewirken“. Ein netter Gedanke, aber wohl außerhalb des politischen Wollens von Merkel, Steinmeier und Westerwelle.

Ottmar Schreiner hat ein faktenreiches und wichtiges Buch geschrieben, geeignet für die politische Auseinandersetzung im Alltag ebenso wie für die Aufarbeitung der jüngeren Arbeitsmarkt-, Sozial- und Gesellschaftspolitik.

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Ottmar Schreiner: Die Gerechtigkeitslücke – Wie die Politik die Gesellschaft spaltet.
270 Seiten, Propyläen-Verlag der Ullstein Buchverlage, Berlin 2008
19,90 Euro ISBN: 978-3-549-07349-0

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