Weltpolitik

Rechtsfreier Raum

Hinweis: Die Bilder sind aus den archivierten Hintergrund-Texten vor 2022 automatisch entfernt worden.

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Der Osten der Ukraine steuert in Richtung Bürgerkrieg –

Von SUSANN WITT-STAHL, Donezk, 26. April 2014 –

Junge Familien und viele Rentner genießen die Frühlingssonne in den Parkanlagen. Die Kaffees und Restaurants sind gut frequentiert. „Es kommen zwar weniger Besucher, seit die Eskalation begonnen hat. Aber der Rückgang der Buchungen ist nicht dramatisch“, sagt ein Hotel-Manager und demonstriert Gelassenheit. Es scheint, als hätten die Bewohner der Stadt kollektiv beschlossen, soviel Normalität wie möglich herzustellen. Dass das unmöglich ist, wird spätestens zur Gewissheit, sobald man sich dem Koloss von Regierungsgebäude des Bezirks Donezk nähert, in dem jetzt die Regierung der Donetsk People’s Republic residiert.

Barrikaden in Donezk vor dem Regierungsgebäude, in dem jetzt Mitglieder der Donetsk People’s Republic residieren. Foto: Susann Witt-Stahl

Ein Ring von meterhohen, mit Stacheldraht gesicherten Barrikaden umgibt den Komplex, der von – größtenteils nur mit Knüppeln bewaffneten – Milizen in Kombattantenkleidung bewacht wird. Obwohl die meisten mit Motorradmasken vermummt sind, reagieren sie gereizt auf Fotografen. „Die Aktivisten haben fast alle Frauen und Kinder. Wir dürfen ihre Sicherheit nicht gefährden“, erklärt uns Vladimir Ivanovich Markovich, Mitglied und Sprecher der Regierung und Vertrauter von Denis Pushilin, Oberhaupt der am 7. April ausgerufenen Volksrepublik Donezk, das strenge Bilderverbot der Separatisten. Einige von ihnen erlauben uns schließlich ein Foto – bevorzugt in Siegerpose –, obwohl das Misstrauen gegenüber westlichen Journalisten sehr groß ist.

Dass die Medien-Berichterstattung in den EU-Ländern und den USA durch Desinformation, Propaganda, oftmals durch Dämonisierung der prorussischen Kräfte bestimmt ist, das hat sich längst überall herumgesprochen. Für Wut und Ablehnung sorgen aber hauptsächlich die Regierungen im Westen: „Deutschland finanziert den Vormarsch der Faschisten mit“, nennt Markovich einen Grund. So dominieren auch neben den russischen Nationalfarben antifaschistische Symbole und Parolen das Erscheinungsbild der Volksrepublik: Plakate mit durchgestrichenen Hakenkreuzen und Nazi-Karikaturen (oftmals mit weltbekannten Gesichtern westlicher Politiker) oder Aufschriften wie „Donbass gegen Faschismus in der Ukraine“ sind überall in dem elfstöckigen Verwaltungsgebäude und draußen an den Barrikaden angebracht.

Vladimir Ivanovich Markovich, Regierungsmitglied und Sprecher der am 7. April ausgerufenen Volksrepublik Donezk. Foto: Susann Witt-Stahl

Dass von Normalität nicht die Rede sein kann, davon zeugt auch die gedrückte Stimmung im streng bewachten obersten Stockwerk, wo es zugeht wie in einem Taubenschlag und die Dauerkrisensitzung der Regierung stattfindet. Sechs prorussische Kämpfer sind am Donnerstag in der rund 100 Kilometer entfernten Stadt Slawjanks bei einem von der Jazenjuk-Regierung als „Antiterror-Einsatz“ deklarierten Angriff des ukrainischen Militärs umgekommen. Markovich hält uns mit versteinerter Miene ein Blatt Papier mit dem Namen, Geburts- und Todesdatum des vorläufig letzten Opfers vor die Kamera. Der junge Mann ist erst vor wenigen Stunden gestorben – fünf Tage vor seinem 22. Geburtstag.

Die Einschläge kommen näher. Am Freitag gibt es einen Zwischenfall in dem etwas abgelegenen Donezker Stadtteil Tekstilshchik. Am helllichten Vormittag werden die russischen Journalisten Julia Shustraya und Mikhail Pudovkinvon von mit Kalaschnikows bewaffneten Männern in Zivilkleidung überwältigt, als sie sich mit dem bekannten separatistischen Aktivisten Ignat „Topaz“ Kromskoy in einer Ferienhütte für ein Interview treffen wollen. Die beiden LiveNews-Reporter werden verschleppt, zur Staatsgrenze verbracht und nach Russland abgeschoben. Als wir am Tatort ankommen und einige der Augenzeugen der Aktion befragen, will man „nitschewo“ gesehen haben. Niemand kann sich mehr erinnern, was sich vor etwa zwei Stunden hier abgespielt hat. Kein Wunder: Wenige Meter entfernt parkt ein Polizeiwagen, und vier Beamte hören sehr interessiert mit an, was die Leute reden. „Nachdem die Journalisten zu Boden gebracht und festgenommen worden waren, hat einer der bewaffneten Kidnapper den anderen entgegen gerufen ,Ruft die Polizei!‘“, berichtet Sasha*, der nach eigener Aussage den gesamten Vorfall beobachtet hat und uns später in sicherer Entfernung alles erzählt. Das klingt, als seien hier Spezialisten am Werk gewesen. Kritische Journalisten sind beliebte Jagdobjekte in diesen Tagen.

Die Zahl der Toten und Entführten nimmt zu. Es herrscht großes Misstrauen unter den Menschen. Vielen merkt man die Angst an. Sie wollen sich keine Meinung mehr leisten und reden nicht mehr offen im sich permanent ausdehnenden rechtsfreien Raum. Andere reden unentwegt – von einem „unvermeidbaren Bürgerkrieg“. Nichts ist mehr normal im Osten der Ukraine.

*Name von der Redaktion geändert


 

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