Wir schaffen das

Abschottung und Abschiebung

Hinweis: Die Bilder sind aus den archivierten Hintergrund-Texten vor 2022 automatisch entfernt worden.

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Die flüchtlingsfeindlichen Maßnahmen der Bundesregierung. Eine Zusammenschau

„Wir schaffen das!“ Bundeskanzlerin Angela Merkel und mit ihr das Zentralorgan des deutschen Stammtisches, Springers Bild, setzten in der sogenannten „Flüchtlingskrise“ früh auf eine Rhetorik der Willkommenskultur, für die beide viel Lob von einstigen politischen Gegnern ernteten. Die sich irgendwo im grün-alternativen Spektrum verortende taz attestierte Merkel „auf einmal flüchtlingspolitisch links außen“ zu stehen, der linke Starphilosoph Slavoj Zizek sprach von einer „positiven Überraschung“.

Jenseits der humanistischen Sprachregelungen – die sicher auch dazu dienten, eine Armee freiwilliger Helfer bei der Stange zu halten, die gerade unter großen individuellen Belastungen all die Aufgaben bewältigen, die der Staat vernachlässigt – beschlossen Parlament und Bundesrat Regelungen, die den Geflüchteten zum Nachteil gereichen. Zwei Verschärfungen des Asyl- und Bleiberechts wurden innerhalb weniger Monate verabschiedet, Gesetzesentwürfe, die von Menschenrechtsorganisationen wie Pro Asyl scharf kritisiert werden: Die neuen Regelungen führen zu „Abschottung, Abschreckung und Obdachlosigkeit“, heißt es.

Gleichzeitig laufen Verhandlungen zur Situation auf dem Balkan und mit dem Erdogan-Regime in Ankara, um die Außengrenzen der Europäischen Union undurchlässiger zu machen. Über Fluchtgründe made in germany wird dagegen geschwiegen: Deutsche Waffenexporte erreichen erneut ein Rekordhoch. Wir haben die wichtigsten Maßnahmen der Bundesregierung zusammengefasst.

Der Merkel-Erdogan-Deal  

Einer der zentralen Deals zur Stabilisierung der Festung Europa ist derjenige, den die Bundesregierung mit dem türkischen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdogan und dessen zutiefst korrupter Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung (AKP) abzuschließen gedenkt.

Der Merkel-Erdogan-Deal, zu dessen Finalisierung die Bundeskanzlerin mitten im türkischen Wahlkampf nach Ankara reiste und so scharfe Kritik der dortigen demokratischen Opposition auf sich zog, schließt umfangreiche Finanzhilfen für ein Regime ein, dessen Unterschlagungen und Veruntreuungen zweifelsfrei dokumentiert sind. Im Austausch für die Gelder soll Erdogan neue Massenlager errichten und Flüchtlinge an der Ausreise nach Europa hindern. Dass Refugees in der Türkei keinerlei Rechte haben und als „Gäste“ betrachtet werden, denen kaum etwas zusteht, spielt für die Bundesregierung offenbar eine untergeordnete Rolle.

In den Massenlagern soll sich Deutschland dann aussuchen können, welche Flüchtlinge es aufzunehmen gedenkt und welche nicht. Eine Selektion, die sogar von Erdogan als „inhuman“ kritisiert wurde. Die größte Oppositionspartei der Türkei, die Republikanische Volkspartei (CHP), spricht sogar davon, die Türkei würde durch diese Vereinbarung zum „Konzentrationslager der Europäischen Union“.

Zusätzlich zu den Finanzhilfen werden der Türkei Visa-Erleichterungen in Aussicht gestellt und das Land soll den Titel eines „sicheren Herkunftsstaates“ erhalten. Diese Einstufung würde Abschiebungen in die Türkei ermöglichen – obwohl der Bürgerkrieg zwischen der türkischen Regierung und der kurdischen Befreiungsbewegung ein Niveau erreicht hat, wie seit vielen Jahren nicht mehr. Folter, Polizeigewalt, Verfolgung kritischer Journalisten und oppositioneller Aktivisten, die Niederschlagung von Streiks ignoriert die Bundesregierung, um einen verbündeten Autokraten dazu zu bringen, Flüchtlinge in seinem Land festzuhalten.

Zusätzlich dürfte jenseits der offiziellen Verlautbarungen zugesichert worden sein, dass Deutschland sich an Erdogans „Kampf gegen den Terror“ beteiligt. Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International und Human Rights Watch kritisieren seit Langem, dass die Anti-Terror-Gesetzgebung der Türkei dazu genutzt wird, unterschiedslos die gesamte Opposition zu verfolgen. Der Deal, den Merkel mit Erdogan eingegangen ist, dürfte beinhalten, dass sich Deutschland wieder stärker an der Verfolgung des Hauptgegners der türkischen Regierung, der kurdischen Befreiungsbewegung, beteiligt. Wenige Tage nach dem Ankara-Besuch der Kanzlerin stürmte das sächsische Landeskriminalamt mehrere Wohnungen und Vereinsräumlichkeiten kurdischer Aktivisten in Dresden.

Die Schließung der Balkan-Route

Zehntausende Flüchtlinge versuchen derzeit, über den Balkan nach Europa zu gelangen. Die Schließung der ungarischen Grenze durch die rechtsnationalistische Orban-Regierung erschwerte dieses Vorhaben, nun soll ein 17-Punkte-Plan der Europäischen Union dafür sorgen, dass wieder „geordnete Verhältnisse“ eintreten.

Das erklärte Ziel der am vergangenen Wochenende in Brüssel tagenden EU-Regierungschefs ist die „Entmutigung“ der Flüchtlinge: „Wir werden Flüchtlinge oder Migranten entmutigen, zur Grenze eines anderen Landes der Region zu ziehen“, heißt es in einer gemeinsamen Erklärung. Die „Politik des Durchwinkens“ solle beendet werden. Zuvor hatten viele Staaten der Region Flüchtlinge in Nachbarländer weiterziehen lassen, weil sie sich mit deren Versorgung überfordert fühlten.

Das soll nun ein Ende haben, geht es nach den deutschen Wünschen. Verstärkte Grenzsicherung steht auf der Tagesordnung und zu diesem Zweck sollen deutsche Polizisten etwa an slowenischen Grenzen Dienst tun. Die griechische Regierung wurde verpflichtet, ihre Grenzen besser zu sichern, zudem sollen 100 000 Aufnahmeplätze in Griechenland und den Staaten Ex-Jugoslawiens eingerichtet werden. Europol und Interpol sollen ihren Kampf gegen Schlepper intensivieren, die Einsätze der Grenzschutzagentur Frontex werden ausgebaut.

Alle Maßnahmen zielen auf die Erschwerung des Weges nach Europa. Da sich an den Fluchtgründen auf absehbare Zeit nichts ändern wird, stellt das Maßnahmenpaket nichts anderes dar, als den Versuch, die auf der Suche nach Schutz aus ihren Heimatländern Fliehenden davon abzuhalten, die Länder zu erreichen, die sich ihre Aufnahme auch tatsächlich leisten könnten. Der 17-Punkte-Plan trägt damit dazu bei, dass mehr Menschen in prekären, lebensgefährlichen Situationen gehalten werden.

Abschieben nach Afghanistan

Ebenfalls in den Verhandlungen der EU-Regierungschefs beschlossen wurde die engere Zusammenarbeit mit Ländern wie Pakistan oder Afghanistan, um eine schnellere „Rückführung“ von Flüchtlingen zu gewährleisten. Die Sicherheitslage in Afghanistan wie in Pakistan ist extrem angespannt. In beiden Ländern trug und trägt der Westen nicht unmaßgeblich dazu bei, dass Menschen um ihr Leben fürchten und das Land verlassen. Gleichwohl soll nun dafür gesorgt werden, dass sie in Europa keine Bleibeperspektive haben.

Auch innenpolitisch wurden dafür in Deutschland mit der jüngsten Verschärfung des Asylrechts die Grundlagen geschaffen. Es soll nun schneller abgeschoben werden, auch ohne vorherige Ankündigung.

Zudem soll das Mitte Oktober verabschiedete Gesetzespaket dafür sorgen, dass die Anreize verringert werden, „die dazu führen können, dass Menschen nach Deutschland kommen, die kein Recht auf Asyl haben“. Das bedeutet, das Geldleistungen in Erstaufnahmestellen reduziert und durch Sachleistungen ersetzt werden sollen. Wer die Situation in deutschen Erstaufnahmestellen kennt, weiß, dass dort heute schon massiver Mangel an allem herrscht, der nur durch die freiwillige Arbeit tausender Unterstützer so abgemildert wird, dass eine humanitäre Katastrophe ausbleibt. Die Streichung von Geldleistungen könnte diese Situation erneut verschlechtern – was allerdings durchaus politisch gewollt sein dürfte, es geht ja schließlich um die „Verringerung von Anreizen“, nach Deutschland zu kommen.

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Pro Asyl kritisierte das vom Bundestag verabschiedete „Asylbeschleunigungsgesetz“ als „Integrationsverweigerungsgesetz“: „Zum Schaden unserer Gesellschaft werden die Weichen auf Abwehr und Ausgrenzung gestellt. Die Kasernierung von Flüchtlingen in Erstaufnahmeeinrichtungen bis zu sechs Monaten, die Ausdehnung des Arbeitsverbotes und die Ausweitung der Residenzpflicht werden die Unterbringungsproblematik verschärfen und Integration verhindern.“

Man schließe sich der Auffassung des Deutschen Anwaltsvereins (DAV) an, „der von einem offenen Verfassungsbruch ausgeht“. Ob das allerdings eine Regierung, die davon ausgeht, man könne in der Türkei und Afghanistan „sicher“ leben, noch irgendwie zu interessieren vermag, bleibt offen.

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