Islam und Homosexualität: Die Geschichte einer verlorenen Liebe

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Ein muslimischer Attentäter hat im amerikanischen Orlando 49 Besucher eines Schwulenclubs regelrecht hingerichtet. Das hat etwas mit dem heutigen Islam zu tun. Vergessen wird dabei, dass der Islam eine Jahrhunderte andauernde Tradition sexueller Freiheiten besaß. Sie wurde nicht zuletzt durch den Einfluss des christlich-westlichen Abendlandes zunichte gemacht.

Abu Nawas (* 757 bis † 815) ist ein Vertreter der klassischen arabischen Literatur. Foto: Wikipedia
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Hätte Abu Nuwas seine Liebesgedichte ein paar tausend Kilometer weiter westlich und ein paar Jahrhunderte später geschrieben, hätte er möglicherweise mit dem Leben dafür bezahlt. Seine Verse über knackige Männerpos und schwule Liebesnächte richtete er jedoch nicht an ein christlich-verklemmtes Publikum des Westens, sondern an die islamisch-liberale Öffentlichkeit Bagdads. Die reagierte nicht pikiert auf die homoerotischen Verse, vielmehr machten gerade sie Abu Nuwas zum bedeutendsten Dichter seiner Zeit.

Im Bade wird das sonst durch die Hosen Verborgene sichtbar.
Auf zum Betrachten! Gucke nicht mit abgelenkten Augen!
Du siehst einen Hintern, der einen Rücken von äußerster Schlankheit (durch) seine Fülle in den Schatten stellt.
Sie flüstern sich gegenseitig „Gott ist groß“ und „es gibt keinen Gott außer Allah“ zu.
Auf, wie trefflich ist das Bad unter den Orten, die alles deutlich zeigen,
auch wenn die Leute mit den Handtüchern einen Teil der Annehmlichkeiten vergällen. (1)

Dass ein Poet mit homoerotischen Vorlieben zum wichtigsten Lyriker der islamischen Welt avancieren kann, ist Vergangenheit. Der persisch-arabische Dichter starb im Jahr 815.

Rund 1 200 Jahre später stürmt im amerikanischen Orlando ein Mann mit einem Sturmgewehr in einen Schwulenclub und exekutiert 49 Menschen. Es gibt viele Möglichkeiten, die Motive des Täters Omar Mateen zu erklären: War er ein konservativer Waffennarr? War er ein Psychopath, der mit seiner eigenen sexuellen Identität nicht zurechtkam? Oder tötete Omar Mateen am 12. Juni die Besucher des Nachtclubs, nur weil er Muslim war und Muslime eben keine Schwulen mögen?

Vor allem letztere Erklärung haben die meisten Medien aufgegriffen. Und tatsächlich deutet vieles darauf hin, dass das Bild vom homophoben Muslim mehr ist, als ein islamfeindliches Klischee, dass Islam und Homosexualität absolut unvereinbar sind: Im Iran hängen die Körper von Homosexuellen an Baukränen, in Saudi-Arabien schlagen Religionswächter Schwulen die Köpfe ab und in Syrien stürzt der selbsternannte Islamische Staat Homosexuelle aus Hochhäusern.

Das war nicht immer so. Wer erfahren möchte, wie offen Muslime einst mit der Liebe zum gleichen Geschlecht umgingen, kann das in zeitgenössischen Gedichten nachlesen.

Das Feuer des Bechers stieg ihm zu Kopfe und der Wein kroch in seine Wange,
Bis er mir, als den Schleier der Scham fortgeworfen hatte
und sich die Schlafestrunkenheit in seinen Augen drehte,
Die Möglichkeit gab, seine Hosen zu lösen,
da ihn der Becher von seinem Hosenband abhielt.
(Abu Nuwas, Übersetzung nach Ewald Wagner)

Die Welt zur Zeit der islamischen Hochkultur

Der Diwan ist Hafis bekanntestes Werk, in Deutschland wurde es vor allem durch Johann Wolfgang von Goethe bekannt, der sich bei seinem West-Östlichen Divan von Hafis inspirieren ließ. Miniaturmalerei, Persien, 1585. Foto: Wikipedia
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Die Lyrik Abu Nawas’ zeichnet eher ein Bild sexuell freizügiger Nächte in den Gayclubs heutiger westlicher Großstädte als das einer vermeintlich prüden islamischen Frömmigkeit. Jahrhundertelang brachten muslimische Lyriker in arabischer, persischer und osmanischer Sprache ihre homoerotischen Fantasien in Versform. Wahrscheinlich dürfte keine andere Kultur eine solche Vielfalt an homoerotischer Literatur hervorgebracht haben, wie die islamische.

Ob im persischen Shiraz der Dichter Hafis (*1315 – †1390), in Bagdad der bereits erwähnte Abu Nuwas (*757 – †815), auf Sizilien, das damals unter arabisch-muslimischer Herrschaft stand, der Poet Ibn Hamdis (*1056 – †1133), in Tunis der Schriftsteller Scheikh Nefzawi, dessen berühmtes Buch Der parfümierte Garten im frühen 15. Jahrhundert entstand, oder der Dichter Ibn Quzman (*1078 – †1160) im andalusischen Cordoba, das zu jener Zeit zu Al-Andalus, dem maurischen Spanien gehörte: Liebe und Sex zwischen Männern war in der islamischen Welt des 8. bis 18. Jahrhunderts eher die gesellschaftliche akzeptierte Regel als die sozial geächtete Ausnahme.

Rund eintausend Jahre lang überlieferten Dichter aus allen Gegenden der islamischen Welt Einblicke in eine homosexuelle und homoerotische Vielfalt, die der Westen bis heute nicht erreicht hat. Vergeblich sucht man hingegen in der Literatur jener Zeit nach Berichten staatlicher Verfolgung von Homosexuellen oder nach einer weit verbreiteten gesellschaftlichen Homophobie. Das gilt für die historische Periode sämtlicher islamischer Dynastien – von den Abbasiden zur Zeit Abu Nuwas’ bis zum Osmanischen Reich.

Der Koran verbiete Homosexualität, sind sich heute die meisten islamischen Rechtsgelehrten und wohl auch ein Großteil der westlichen Öffentlichkeit einig. In Wahrheit geriet die Suche nach Koranstellen, mit denen sich gleichgeschlechtliche Liebe und Sex verbieten ließe, erst in den letzten beiden Jahrhunderten in Mode.

Heutige Homophobe stützen sich vor allem auf eine Geschichte, die auch Bibelleser kennen: Sie handelt vom Propheten Lot, der im sündigen Sodom für Ordnung sorgen soll. Die Bewohner Sodoms – im Koran heißen sie „das Volk Lots“ – werden, wie in der Bibel auch im Koran, für ihr Verhalten von Gott vernichtet. Wogegen sich der Groll Gottes genau richtete, haben islamische Gelehrte allerdings zu unterschiedlichen Zeiten und an unterschiedlichen Orten verschieden bewertet: Während die Islamisten des 19. und 20. Jahrhunderts hierin den Beweis für Gottes Verachtung gegenüber Schwulen zu entdecken glaubten, verstanden frühere Koranexegeten die Passagen als Verurteilung sexueller Gewalt – wenn sie sich überhaupt für die Passagen interessierten. Denn ein explizites Verbot von Homosexualität findet sich nirgendwo im Koran.

Die islamische Literatur war über tausend Jahre lang gekenzeichnet von homoerotischer Vielfalt. Foto: Wikipedia
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Eine der Ursachen ist darin zu finden, dass das Konzept, Liebe, Sex und Zuneigung in zwei getrennte Sphären – eine homo- und eine heterosexuelle einzuteilen –, der islamischen Welt lange Zeit fremd war. Wie im christlichen Europa entschied sich in der islamischen Welt des 8. bis 18. Jahrhunderts die Sexualmoral eher an einzelnen Sexpraktiken als an der sexuellen Identität der Menschen. Allerdings mit völlig unterschiedlichen Ergebnis: Während das christliche Europa ab dem 13. Jahrhundert begann, Männer, die miteinander schliefen als „Sodomisten“ zu verfolgen, erklärten islamische Gelehrte die Begierde des eigenen Geschlechts zur Normalität.

Ähnlich wie heute war auch im europäischen Mittelalter das Bild des Muslim geprägt von sexuellen Klischees, doch völlig konträr zum heutigen Stereotyp: Europäische Orientreisende brachten zahlreiche Geschichten über die sexuelle Lasterhaftigkeit mit zurück ins christlich-verklemmte Abendland. In der katholischen Kreuzzugspropaganda vergewaltigten Muslime Bischöfe und verschleppten Christen, um diese zu Sexsklaven zu machen. Die späteren Reformatoren um Martin Luther knüpften daran an und setzten ihrer prüden evangelischen Sexualmoral das Feindbild einer sexuell-pervertierten muslimischen Lasterhaftigkeit entgegen. Der Sodomie-Vorwurf wurde zum Standardrepertoire christlicher Anti-Islam-Propaganda. Ein Klischee, das bis heute nachwirkt: Auch Jan Böhmermanns Stereotyp vom türkischen Ziegenficker stammt aus dieser Zeit.

Der Muslim jener Tage galt im christlichen Europa als zu freizügig, sexuell enthemmt und – ohne, dass es den Begriff damals schon gegeben hätte – schwul. Positiver bewerteten hingegen europäische Homosexuelle die Sexualmoral der islamischen Welt: Noch bis ins 20. Jahrhundert gab es zum Beispiel einen regen Strom französischer Sextouristen nach Nordafrika.

Die Geschichte islamischer Homophobie begann in Europa

Das alles ist in vielerlei Hinsicht Vergangenheit. Die sexuelle Tradition der islamischen Welt, wie sie Abu Nuwas in seinen Gedichten festgehalten hat, ist heute auch vielen Muslimen unangenehm. Von der sexuellen Vielfalt früherer Tage sind die meisten Muslime heute gänzlich entfremdet, dagegen ist Homophobie – von der alltäglichen Anfeindung bis hin zum staatlich legitimierten Mord – in der heutigen islamischen Welt so selbstverständlich wie es homoerotische Beziehungen einst waren.

Es stellt sich die Frage, wie aus der liberalen Welt des Abu Nuwas der heutige Abgrund aus Schwulenfeindlichkeit und sexueller Verklemmtheit werden konnte? Die Ursache dafür liegt auch im europäischen Kolonialismus. Wie in andere Teile der Welt exportierte das christliche Europa neben Soldaten und Bürokraten auch seine Sexualmoral in die islamische Welt. Die Idee von der natürlichen sexuellen Vielfalt, in der ein Mann auch mal mit einem Mann schlafen konnte, wurde ersetzt durch das europäische Feindbild des widernatürlichen „Sodomisten“.

Viele Muslime sehen Homosexualität heute als Produkt westlichen Einflusses. Und in gewisser Weise haben sie damit recht: Das Konzept einer sexuellen Identität gab es vor dem 19. Jahrhundert in der islamischen Welt nicht, gleichgeschlechtlichen Sex, Zuneigung und Liebe hingegen umso mehr. Doch mit der Zweiteilung der Menschen in Hetero- und Homosexuelle brachte der Westen auch die Kriminalisierung Letzterer in die islamische Welt. Viele der Gesetze, die heute noch Homosexualität in islamischen Ländern verbieten, gehen nicht auf islamische Tradition zurück, sondern auf britisches Kolonialrecht. Ein Beispiel von vielen: Während in der osmanischen Provinz Palästina Homosexualität im Jahr 1858 für straffrei erklärt wurde, stellte die britische Mandatsverwaltung gleichgeschlechtlichen Sex 1936 in Palästina wieder unter Strafe.

Das Ende islamischer Liberalität

Ist der Westen mal wieder an allem schuld? Nicht nur. Denn mit dem Niedergang der islamischen Welt entstanden im 19. Jahrhundert auch islamische Bewegungen, die das sexuelle Selbstverständnis der meisten Muslime bis heute verändern sollten. Islamisten machten die Liberalität der islamischen Welt für die eigene politische und militärische Schwäche verantwortlich. Strömungen wie der Wahhabismus – die Staatsreligion des heutigen Saudi-Arabiens – setzten der einstigen sexuellen Freizügigkeit eine politische Agenda entgegen, die auf der Ausgrenzung von allem basierte, was nicht in seine Vorstellung eines homogenen sunnitischen Einheitsislam passte: Schiiten, Sufis, Schwule… Heute lehnen alle islamischen Rechtsschulen Homosexualität ab, werden Schwule in fast allen islamischen Ländern kriminalisiert. Auch Abu Nuwas Gedichte wurden Opfer der neuen islamischen Homophobie. Im Jahr 2001 ließ das ägyptische Kulturministerium 6 000 seiner Gedichtbände öffentlich verbrennen. (2)

Führt der Weg des Islam zwangsläufig nach Orlando? Auch das nicht. Noch sind Überbleibsel aus den freiheitlichen Tagen von Abu Nuwas spürbar: Männer laufen noch heute händehaltend durch arabische Straßen und überschütten sich zur Begrüßung und zum Abschied mit Küssen. Männerfreundschaften sind unter Muslimen oft auch so körperlich, so innig, wie es nur die wenigsten heterosexuellen Europäer ertragen würden. Mehr noch: Der Anteil an Jugendlichen, die in der vermeintlich verklemmten islamischen Welt gleichgeschlechtliche Erfahrungen machen, ist heute höher als im angeblich toleranten Europa. Für die meisten pubertierenden „Westler“ ist es vermutlich unvorstellbar, die ersten sexuellen Erfahrung beim Oralsex mit den Freunden zu machen. Für viele muslimische Heranwachsende ist das Normalität. „Islamisch“ – das wird zurecht heute mit einem Abgrund an Homophobie assoziiert. Es ist aber auch das Attribut einer Welt, in der eine Vielfalt von Liebe und Sex zelebriert wurde und wird, die man in Europa vergeblich sucht.

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Anmerkungen und Quellen:
(1)    Übersetzung nach Ewald Wagner, Abu Nuwas. Eine Studie zur arabischen Literatur der frühen Abbasidenzeit
(2)    http://www.cbc.ca/news/world/the-books-have-been-burning-1.887172

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