Feuilleton

Ein Déjà-vu-Erlebnis

Die Pest von Albert Camus als Allegorie für Corona

Hinweis: Die Bilder sind aus den archivierten Hintergrund-Texten vor 2022 automatisch entfernt worden.

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Symbolbild: Pest-Erreger unter dem Mikroskop
Quelle: Margaret Parsons, Dr. Karl F. Meyer, USCDCP Lizenz: Public Domain (CC0), Mehr Infos

Mitte März, als in Italien trotz sich zuspitzender Coronaepidemie noch keine Ausgangssperre herrschte und die Buchläden weiterhin geöffnet hatten, war Albert Camus’ Roman Die Pest überall ausverkauft. 1 Und auch für die BRD meldete die Deutsche Presseagentur mit Blick auf die letzten Tage vor dem Shutdown: „Die Pest ist ausverkauft. Weder im Laden noch online und nicht mal antiquarisch ist das Buch erhältlich, weder gebunden noch als Taschenbuch.“ 2

Wie ein Omen der nahenden Pandemie waren in China noch Mitte November 2019 drei Menschen, zwei davon in Peking, mit der Beulenpest Yersinia pestis infiziert worden, höchstwahrscheinlich durch Nagetiere. 3

Mit derart düsteren Vorzeichen beginnt auch der Roman von Albert Camus: Dort kommen Ratten aus den Abwasserkanälen plötzlich an die Oberfläche, wo sie massenweise sterben – und die Menschen mit der Pest anstecken. Dieses Szenario erinnert insofern an die gegenwärtige Epidemie, als auch das Coronavirus durch Säugetiere, namentlich Fledermäuse, auf den Menschen übertragen wurde. Es ist die Konfrontation mit der drückenden Atmosphäre des Unbekannten und Angstmachenden einer Jahrhundertseuche, die Camus’ Roman heute so dringlich zu den Menschen sprechen lässt.

Von der Epidemie zur politischen Allegorie – und zurück

Bei dem literarischen Stilmittel der Allegorie handelt es sich um einen Ähnlichkeitsvergleich, der sofort ins Auge sticht. Camus spricht zwar von der „Pest“ als tödlicher Krankheit, meint aber die Nazibesatzung Frankreichs von Juni 1940 bis August 1944. Der Roman erschien 1947, also einige Zeit nach der Befreiung Frankreichs, doch der Autor hatte bereits ab 1941 an dem Buch geschrieben und bis zu dessen Veröffentlichung regelmäßig daran gearbeitet. Camus galt als Sprachtüftler: Er schrieb immer zunächst eine Rohfassung, die er dann mehrfach überarbeitete. So ließ er all seine Erlebnisse und Stimmungslagen von Anfang bis Ende der Nazibesatzung in den Roman einfließen.

Im Jahr 1941 befand sich Camus im algerischen Oran. Er war im kolonialen Algerien geboren und aufgewachsen, aber bereits Anfang 1940 nach Paris gezogen, von wo er nur ein paar Monate später wieder vor den Nazis fliehen musste. Er war Teil des berüchtigten „Exodus“ der vier von acht Millionen Pariser Anfang Juni 1940, die panisch und Hals über Kopf in den vorläufig unbesetzten Süden, der bald dem Vichyregime unterstehen sollte, flohen. Doch Camus blieb nicht lange in Südfrankreich und kehrte im Jahr 1941 nach Oran zurück, wo die Familie seiner Ehefrau Francine lebte.

Zwei Ereignisse fielen nun zufällig zusammen: Zum einen berichtete ihm sein literarischer Freund Jules Roy vom Ausbruch der Pest in Dörfern einige Hundert Kilometer südwestlich von Oran. Zum anderen meldete sich Camus’ eigene, seit seinem 17. Lebensjahr diagnostizierte Lungenkrankheit – Tuberkulose – heftiger denn je zurück. Diese beiden Anlässe führten dazu, dass in Camus während seines Aufenthaltes in Oran die Idee reifte, eine Allegorie über Die Pest zu schreiben. Camus situiert die Geschehnisse im Roman in eine Hafenstadt, die nach Ausbruch der Epidemie unter Quarantäne gestellt wird – Oran war eine Hafenstadt.

Doch aufgrund der bedrohlichen Entwicklung seiner Tuberkulose entschied Francines Familie, Camus auf eine Erholungskur zu schicken: Damals galt weithin die Vorstellung, dass solche Krankheiten durch Aufenthalte in Höhenlagen mit frischer Luft auszukurieren seien. Und zufällig besaß Francines Tante, Madame Oettly, einen Bauernhof im kleinen Dorf Le Panelier, nicht weit entfernt von der 5 000-Einwohner- Kleinstadt Le Chambon-sur-Lignon, mitten im südfranzösischen Massif Central. Nachdem klar war, dass die Nazis Südfrankreich zunächst dem französischen Vichyregime überlassen würden, begab sich Camus also dorthin auf Kur. Das war im März 1942.

In Le Panelier verbrachte Camus die nächsten eineinhalb Jahre. Im Laufe dieser Zeit wurde er Mitglied der Résistance-Strömung Combat („Kampf “), ein Gegenstatement zu Hitlers Mein Kampf. Im November 1943 ging Camus abermals nach Paris, wo er die Résistance-Untergrundzeitung Combat herausbrachte. 4 Dort blieb er bis zur Befreiung der Stadt im August 1944 und besetzte mit seiner Untergrund-Crew ein bis dato von den Nazis genutztes Pressehaus. In den eineinhalb Jahren seines Aufenthaltes in Le Panelier hatte Camus bereits die Rohfassung von Die Pest geschrieben. 5

Diese auf biografischen Abläufen basierende Anlage des Romans führte in der mannigfaltigen politischen Rezeption zu einigen Verwirrungen und Fehlinterpretationen. So meinten zahlreiche algerische Rezipienten, die Camus dessen Kritik an der bewaffneten antikolonialen Kriegsführung des FLN (Front de Libération national) im Algerienkrieg übelnahmen und nach zurückliegenden Vorwürfen seines angeblichen Prokolonialismus suchten, der Roman spiele in Oran – und bemängelten, dass im gesamten Plot kein einziger Algerier vorkomme. 6

Tatsächlich spielt der Roman aber nicht in Oran, sondern in Frankreich, genauer in Chambon-sur-Lignon. Und es geht nicht um die koloniale Situation der Algerier, sondern um die Judenverfolgung unter dem Besatzungsregime der Nazis in Frankreich. In Chambon-sur-Lignon vollzog sich unter Federführung des protestantischen Pastorenehepaares Magda und André Trocmé sowie des geflüchteten Juden André Chouraqui und dessen Organisation OSE (OEuvre de secours aux enfants) die größte Judenrettung zur Zeit der Résistance – eine der größten Aktionen des zivilen Widerstandes überhaupt während des Zweiten Weltkrieges. Auf dem abgelegenen, bergigen Gebiet in etwa 1 000 Metern Höhe wurden während der Vichyzeit und dann vor allem ab dem Einmarsch der Nazi- Truppen in das südfranzösische Vichygebiet Anfang November 1942 – Camus war bereits ein halbes Jahr dort – rund 4 000 Juden von den Bauern des Bergplateaus sowie von den Bewohnern der Stadt Chambon-sur-Lignon auf Bauernhöfen versteckt oder notfalls über Bergwege in die Schweiz gebracht. Selbst die klassischen französischen Camus-Biografen wie etwa Olivier Todd 7 haben diese Episode in Camus’ Leben nicht genau untersucht, und sie wussten auch nicht, ob Camus über diese Judenrettung informiert war. Dabei war er nicht nur informiert, sondern sogar involviert: Auf dem Hof Madame Oettlys war eine jüdische Familie klandestin untergebracht – und Camus war persönlich mit André Chouraqui befreundet, der wiederum sehr eng mit den Trocmés zusammenarbeitete. Als Camus später in Paris war, schickte er immer wieder jüdische Verfolgte aus der Stadt zum Hof Madame Oettlys. 8 Aufgrund dieser lange währenden Ignoranz und der dadurch bedingten Unkenntnis hat auch die deutsche Camus-Biografin Iris Radisch den gravierenden Interpretationsfehler in ihr Buch einfließen lassen, Camus hätte sich um verfolgte Juden nie gekümmert, weder in seiner Résistance-Zeit noch in seinen Romanen. 9 Doch in Die Pest geht es gerade darum: um die Judenrettung in Chambon-sur-Lignon als Widerstand gegen die Nazi-Besatzung.

An Camus’ Roman wurde später oft die Allegorie einer epidemischen Krankheit als Symbol für die Nazibesatzung kritisiert. Denn damals wurden Epidemien wie eine Pest noch als quasinatürliche Schicksalsschläge gesehen, während das Naziregime eine eindeutig menschengemachte politische Unterdrückungsform sei. Doch wenn wir heute den umgekehrten Weg gehen und bei der Lektüre weniger an die NS-Zeit als an die gegenwärtige Coronapandemie denken, dann greift dieser Vorwurf kaum noch: In linken Diskussionsportalen über Corona – und nicht nur dort – gilt vor allem die schnelle weltweite Ausbreitung des Virus als Folge der kapitalistischen und neoliberalen Globalisierung, also wie schon der Klimawandel als menschengemacht und nicht als Naturkatastrophe. 10

Ein Déjà-vu-Erlebnis: Stimmungslagen im Roman, die uns heute einholen

Camus schildert in seinem Roman die Stimmungslagen infizierter oder von staatlichen Quarantänemaßnahmen betroffener Menschen, die uns heute einholen, weil wir selbst – in unterschiedlicher Weise zwar, aber doch alle – davon betroffen sind. Am Anfang des Romans steht ein Gefühl der Ungewissheit: Werde ich auch krank? Wie lange werden die freiheitsbeschränkenden Quarantänemaßnahmen dauern?

Es ist die Angst vor dem Unvorhersehbaren, die Camus in Die Pest beschreibt. Damit meint er die Atmosphäre unter den Franzosen und den von den Nazis als unwert stigmatisierten Juden zu Beginn der Nazibesatzung. Man muss sich vorstellen, dass die Nazis mit ihrer unmittelbar übermannenden Art bei ihrem militärischen Siegeszug von 1940 die Ideologie des „Tausendjährigen Reiches“ verbreiteten, mit absoluter Selbstsicherheit fast schon wie ein Virus. Das war äußerst beunruhigend. Niemand wusste, wie lange die Besatzung dauern würde – so wie wir heute nicht wissen, wie lange Corona unser Leben beeinflussen wird.

Trotz aller sozialen und globalen Unterschiede betrifft Corona uns mittlerweile alle. Viele – nicht nur US-Präsident Donald Trump und der britische Premier Boris Johnson – mochten anfangs nicht daran glauben, ignorierten das potenziell drohende Ausmaß, dachten, es handle sich um eine etwas schwerere Form der Grippe. Doch dann die Erkenntnis, ein psychologischer Schock: Es gibt keine Nichtbetroffenheit, kein Draußenstehen, keine Ausflucht, selbst für – vorläufig – Nichtinfizierte. Große kapitalistische Firmen verzeichnen existenzbedrohende Einbußen wie sonst kaum zu Streikzeiten. So litten auch die Franzosen und alle vor den Nazis Geflüchteten unter der NS-Besatzung, wenngleich in vielfältig differenzierten Formen. Die Coronaepidemie ist deshalb – das ist das Positive – ein Gleichmacher, weil alle irgendwie betroffen sind. Und in Zeiten wie diesen kommen Solidarität, Empathie und gegenseitige Hilfe immerhin stärker zum Vorschein als sonst.

In der aktuellen Corona-Berichterstattung wird ein Satz aus Camus’ Die Pest besonders gerne zitiert: „Heimsuchungen gehen tatsächlich alle Menschen gleich an, aber es ist schwer, an sie zu glauben, wenn sie über einen hereinbrechen.“ 11

Von den Protagonisten in Albert Camus’ Roman sollen nun drei Typen herausgegriffen werden, die gleichfalls für bestimmte Stimmungslagen stehen. Die Hauptperson des Romans ist der Arzt Rieux. Er nimmt den Kampf gegen Die Pest quasi von Berufs wegen auf: Er tut, was er als Arzt „tun muss“. Ihm schließen sich im Verlauf der Epidemie Freiwilligengruppen an, die der junge Helfer Tarrou – als Vertreter des zweiten Typus – organisiert. Auf die heutige Situation übertragen sind hier die Ärzte sowie das gesamte Krankenhaus-, Pflege- und Assistenzpersonal sowie die Betreuer in Altenheimen gemeint, die die schwer an Corona Erkrankten behandeln. Sie riskieren dabei selbst ihr Leben, stehen im Kampf sozusagen an vorderster Front und werden – wie Rieux und Tarrou im Roman – qua ihrer Berufstätigkeit plötzlich zu Helden, denen die Bevölkerung durch allabendlichen Applaus Respekt zollt. Verbunden damit ist auch die soziale Forderung nach angemessener Bezahlung und besserer Ausstattung des gesamten Gesundheitswesens – kaputtgespart durch jahrzehntelangen Neoliberalismus.

Ein dritter Typus, dem wir in Camus’ Roman begegnen, ist der unscheinbare Angestellte der Statistikabteilung, Grand. Gebannt blicken Rieux und Tarrou tagtäglich auf Grands Statistiken, sie horchen auf und haben plötzlich Hoffnung, wenn dieser endlich einen Rückgang der Infiziertenzahlen meldet. Genauso gebannt starren auch die Menschen in Coronazeiten auf die von der Johns-Hopkins- Universität oder dem Robert-Koch- Institut veröffentlichten Statistiken über die Infizierten, die Toten und die Genesenen, die außerdem sogar als immun gelten. Rieux und Tarrou freunden sich mit Grand an, in einer Behandlungspause nimmt er sie mit zu sich nach Hause und erzählt ihnen von seinen unvollendeten literarischen Versuchen. Grand strebt nach literarisch-schöner Aussagekraft, indem er immerzu den ersten Satz seines künftigen Romans variiert: „An einem schönen Morgen im Mai ritt eine elegante Amazone auf einer herrlichen Fuchsstute durch die blühenden Alleen des Bois de Boulogne.“

Damit befinden sich alle Romanfiguren ebenso wie die Leser plötzlich im Bereich der Utopie, auf der Suche nach der Schönheit in der Literatur. Diese Suche und das Festhalten an einer Utopie, der Glaube an eine ganz andere als die reale Welt gibt Grand in der weiteren Folge des Romans unvorstellbare Kraft. Dank des starrsinnigen Festhaltens an jener Utopie übersteht er seine eigene Infektion mit der Pest: Er gewinnt den Todeskampf und überlebt die Epidemie, während viele andere Romanfiguren, die sich physisch weit besser gegen die Krankheit gerüstet sahen als der körperlich unterlegene Grand – was übersetzt „Groß“ bedeutet – sterben.

Zusammengefasst symbolisieren diese drei Figuren bei Camus also die Verhaltensweisen, die für den Kampf in aussichtsloser und unabsehbarer Lage elementar sind: Auch in solcher Zeit – angesichts der Propaganda einer tausendjährigen Besatzungszeit durch die Nazis – können zwei Verhaltensweisen und Stimmungslagen zu dauerhaftem und erfolgreichem Widerstand gegen die Epidemie führen: entweder in stoischer Ruhe weiter und entschlossen das tun, was man von Berufs wegen tun muss, oder der bedrohlichen und angstmachenden Realität eine Utopie und den Willen zur Verfolgung eines Ideals entgegensetzen.

Dieses unerschütterliche Durchhaltevermögen und das Festhalten an einer Utopie gibt den Menschen am Ende des Romans auch die Kraft zur Revolte – ein weiteres zentrales Thema in Camus’ Werk – gegen die autoritären Maßnahmen und diktatorischen Allüren, zu denen die Regierung im Rahmen der Quarantäne greift. Auch heute vermag nur die Revolte einer zu langen Ausgangssperre oder diktatorischen Putschtenden zen wie der Abschaffung der Demokratie, etwa in Ungarn durch Viktor Orbán, entgegenzuwirken. Das ist eine weitere Lehre am Ende von Camus’ Roman. Denn in der Unfreiheit entwickeln die Menschen umso mehr ihre Sehnsucht nach letztlich wiedererlangter Freiheit, die nach außen und nach Umsetzung strebt.

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Zu denken gibt im Roman jedoch ebenso die Figur des Cottard, des klassischen Krisengewinnlers, des Kriegsprofiteurs, des Profitmachers. Er erinnert an jene, die heute Atemmasken zu horrenden Preisen anbieten, oder an Menschen wie Donald Trump, der durch Bestechung einen Impfstoff nur für den nationalen Markt erkaufen will. Cottard ist der archetypische Skrupellose, der auch real kein Interesse daran hat, dass die Epidemie vorbeigeht. Er stirbt, als ihr Ende und die Aufhebung der Quarantäne nahen – und damit die Bedingungen, der Ausnahmezustand, wegfallen, um enorme Profite zu erzielen.

Wenn wir das wieder politisch übertragen auf Camus’ Motiv, einen Roman gegen die Nazibesatzung zu schreiben, dann warnt uns die Figur Cottard gleichzeitig davor, dass Die Pest auch nach Ende der unmittelbaren Epidemie „nie vollkommen stirbt oder verschwindet“ 12 – ein Hinweis auf den fortbestehenden Neofaschismus weltweit, auch nachdem das reale Naziregime historisch besiegt worden ist. Und rückübersetzt auf Corona heißt es: Auch wenn die unmittelbare Pandemie zu Ende und die Kontakt- und Ausgangssperren aufgehoben sein werden, werden wir alle weiter mit dieser Erfahrung eines Ausnahmezustandes leben müssen. Das Coronavirus wird weiterleben – und damit auch die Gefahr, dass die faktischen Freiheitsbeschränkungen zurückkehren, wenn wir nicht immer wieder gegen sie revoltieren.

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